Strafanzeige gegen Erdogan.

Strafanzeige gegen Erdogan

Strafanzeige gegen Erdogan

Rechtsanwältin Rechtsanwältin
Britta Eder Petra Dervishaj
Schulterblatt 36 Neue Große Bergstraße 6
20357 Hamburg 22767 Hamburg
Fax: 040 / 432 80 58 10 Fax: 040 / 41 111 46 70

An den
Generalbundesanwalt
bei dem Bundesgerichtshof
Brauerstraße 30

70182 Karlsruhe
Vorab per Fax (ohne Anlagen): 0721 / 81 91 590
Hamburg, den 26.06.2016

Strafanzeige gegen Recep Tayip Erdogan u.a. nach dem Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

In dieser Sache haben wir die Vertretung folgender Organisationen und Personen übernommen:
Geschädigte:
• Faysal Sariyildiz, Abgeordneter der HDP im türkischen Parlament und Geschädigter
• Serdar Erdin, Angehöriger des getöteten Eşref Erdin
• Hasan Demirkaya, Bruder der getöteten Berjin Demirkaya,
weitere Anzeigeerstatter_innen:
• MAF-DAD – Verein für Demokratie und internationales Recht e.V. in Köln, vertreten durch den Vorstand, namentlich Mahmut Şakar, Rechtsanwältin Heike Geisweid, Prof. Dr. Norman Paech, Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner und Dr. Jürgen Schneider.
• Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e. V., Dr.-Ruer-Platz 2
, 44787 Bochum
• Flüchtlingsrat NRW e.V., Wittener Straße 201, 44803 Bochum
• Konstantin Wecker, Liedermacher und Komponist aus München
• Esther Bejarano, Musikerin und aktive Antifaschistin aus Hamburg
• Rolf Becker, Schauspieler aus Hamburg
• Dr. med. Gisela Penteker, Mitglied von IPPNW
• Dr. med. Michael Brune, Psychiater aus Hamburg
• Dr. Dierk-Eckhard Becker, Journalist und Historiker, Aktivist in mehr Demokratie .eV.
• Susi Meret, Associate Professor Ph.D (Doctor of Philosophy), Universität Aalborg,
• Dr. Phil. Cordelia Heß, senior lecuturer, University of Gothenburg, department of historical studies
• Andreas Blechschmidt, Literaturwissenschaftlicher und freier Autor aus Hamburg
• Andrej Hunko, Mitglied des Bundestages und Mitglied in der parlamentarischen Versammlung des Europarates
• Harald Weinberg, Mitglied des Bundestages
• Ulla Jelpke, Mitglied des Bundestages
• Inge Höger, Mitglied des Bundestages
• Annette Groth, Mitglied des Bundestages
• Martin Dolzer, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
• Inge Hannemann, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
• Marion Padua, Stadträtin Nürnberg
• Tilman Zülch, Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker
• Rechtsanwältin Alexandra Wichman aus Hamburg
• Rechtsanwältin Anna Gilsbach LL.M. aus Berlin
• Rechtsanwältin Anette Schmidt aus Hamburg
• Rechtsanwältin Anya Lean aus Berlin
• Rechtsanwalt Björn Stehn aus Hamburg
• Rechtsanwalt Christian Woldmann aus Hamburg
• Rechtsanwältin Elisabeth Burczyk
• Rechtsanwalt Ernst Medecke aus Hamburg
• Rechtsanwältin Fenna Busmann aus Hamburg
• Rechtsanwalt Frank Jasenski aus Gelsenkirchen
• Rechtsanwalt Hendrik Schulze aus Hamburg
• Rechtsanwältin Henriette Scharnhorst aus Berlin
• Rechtsanwältin Ilka Quirling aus Hamburg
• Rechtsanwalt Jan Sürig aus Bremen
• Rechtsanwältin Katrin Niedenthal aus Bielefeld
• Rechtsanwältin Lisa Lührs aus Berlin
• Rechtsanwalt Lukas Theune aus Berlin
• Rechtsanwalt Martin Lemke aus Hamburg
• Rechtsanwalt Matthias Wisbar aus Hamburg
• Rechtsanwalt Nils Rotermund aus Berlin
• Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf aus Berlin
• Rechtsanwalt Ralph Monneck aus Berlin
• Rechtsanwältin Ronska Verena Grimm aus Berlin
• Rechtsanwältin Sigrid Töpfer aus Hamburg
• Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen
• Rechtsanwalt Thomas Jung aus Kiel
• Rechtsanwalt Thorsten Müller aus Bremen
• Rechtsanwalt Volker Gerloff aus Berlin
• Rechtsanwältin Zora Katharina Schalow aus Berlin
• Dejan Lazic, Jurist und Soziologe, Dozent für Migrationsrecht

Angezeigt werden die folgenden Personen:

der Präsident der Republik Türkei, Recep Tayyip Erdoğan,
der ehemalige Premierminister der Republik Türkei, Ahmet Davutoğlu,
der Innenminister der Republik Türkei, Efkan Ala,
der ehemalige Verteidigungsminister der Republik Türkei, İsmet Yılmaz,
der ehemalige Verteidigungsminister der Republik Türkei Mehmet Vecdi Gönül
der amtierende türkische Generalstabschef, Hulusi Akar,
der oberste Kommandeur der Landstreitkräfte, Salih Zeki Çolak,
der Kommandeur der Spezialeinheiten der Landstreitkräfte, Mehmet Okkan,
der Generalbefehlshaber der Jandarma, Galip Mendi,
der Kommandeur des 2. Heeres, Sitz in Malatya,
zuständig für die gesamten kurdischen Provinzen der Türkei, Adem Huduti
der Kommandeur des 7. Korps, Ibrahim Yolmaz
der Kommandeur der Jandarma, Gebiet Diyarbakir,
zu dem auch Şırnak und damit Cizre gehört, Musa Çitil,
der Kommandeur der 23. Grenzdivision
der Jandarma in Şırnak, Abdullah Baysar,
der Kommandeur der Jandarma Brigaden von Şırnak, Ali Osman Gürcan
der Kommandeur der Allgemeinen Jandarma von Şırnak, Mustafa Sakaoğlu
der Polizeipräsident von Şırnak, Celal Sel
der Polizeipräsident von Cizre, Ömer Faruk Karakaş
der Gouverneur von Şırnak, Ali Ihsan Su
der Gouverneur (Kaymakan) von Cizre, Ahmet Adanur
der Generalstaatsanwalt von Cizre, Cuma Çoban
der Präsident der Generaldirektion für Sicherheit, M. Celalettin Lekesiz
der Präsident des Dezernats für Sondereinsätze
der türkischen Polizei, Turan Aksoy
sowie weitere noch namentlich unbekannte Personen.
wegen
Kriegsverbrechen (§ 8 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) sowie Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung (§ 8 VStGB).

Inhaltsverzeichnis
Teil A: Geschichte des Konfliktes von 1999 bis heute und allgemeine politische und menschenrechtliche Situation 10
1. Teil: Kurze Geschichte des Konfliktes bis 2009 10
2. Teil: Konflikt sowie politische und menschenrechtliche Situation 2009 bis heute 11
A. Situation in der Türkei 2009 bis Mitte 2015 11
B. Situation 2013 bis heute in der KRG (Nordirak) und Rojava (Nordsyrien) 16
I. Allgemeine Worte: 16
II. Situation und Bewertung der Lage im Nordirak 17
1. Einmarsch des IS in Mossul 17
2. Angriff des IS auf Şengal 18
3. Offensive auf Al Hawl 19
4. Verlegung türkischer Soldaten nach Bashiqa 20
III. Situation und Bewertung der Lage in Nordsyrien 20
1. Allgemeines zu Rojava und dem Gesellschaftsmodell 20
(1) Newrozcamp (Flüchtlingscamp): 21
(2) Medizinische Versorgung 22
(3) Die Landwirtschaft 22
(4) YPG/YPJ 22
2. Tal Abyad (kurdisch: Girê Spî) 23
3. Kobanê: 24
4. Die Sichtweise der türkischen Regierung auf Rojava 24
5. Waffenlieferungen und andere Unterstützung der türkischen Regierung an Islamisten 25
C. Situation in der Türkei Mitte 2015 bis heute 35
Teil B: Angezeigte Straftaten 44
1. Teil: Straftaten während der Ausgangssperre in der Stadt Cizre vom 04. bis 11. September 2015 44
A. Allgemeine Situation während der Ausgangssperre und ihre Folgen 45
I. Detaillierte Fälle von Verletzten 52
II. weitere Vorfälle von Verletzten 53
III. Weitere Namen von Verwundeten 54
B. Zeugenaussagen zu der Gesamtsituation bzw. zu einzelnen Aspekten, wie Gesundheitsversorgung, Lebensmittelversorgung, Zugang zur Stadt, Sicherheitslage und psychologische Auswirkungen auf die Bewohner_innen 54
I. Zeugenaussagen hinsichtlich der Allgemeinsituation 55
1. Beobachtungen Anwaltskammer Diyarbakir 55
2. Ramazan Nayci 57
3. Mehmet Ağar, 57
4. Bahaeddin Yağarcik (38) 57
II. Zeugenaussagen hinsichtlich Gesundheitsversorgung 58
1. Ferhat Encü, HDP-Abgeordneter von Şırnak 58
2. Narin Zeren, Repräsentant der Pharmazeutenkammer von Mardin Pharmazeut: 59
3. Wahrnehmungen der Anwaltsdelegation 60
4. Bericht des türkischen Ärztebundes 61
III. Zeugenaussagen hinsichtlich Lebensmittelversorgung 66
1. Ramazan Tavlar, Bäckereibesitzer: 67
2. Nimet Simsek: 67
3. Ramazan Batar, Bäckereibesitzer 67
4. Salih Askin: 68
5. Celal Islek, Ladenbesitzer: 68
IV. Angaben hinsichtlich Stromversorgung 68
C. Zeugenaussagen zu einzelnen Fälle von Toten und Verletzten 69
I. Fälle von Toten 69
1. Todesfälle durch Schüsse 70
(1) Mehmet Emin Levent 70
(a) Hanife Levent, Schwester von Mehmet Emin Levent gegenüber der Anwaltsdelegation: 70
(2) Cemile Çağırga (10) 71
(a) Ramazan Çağırga, Vater von Cemile Çağırga, gegenüber der Anwaltsdelegation: : 71
(b) Emine Çağırga, eine Hausfrau, gegenüber HRW 72
(c) Ramazan Çağırga (44), Vater von Cemile Çağırga, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 73
(d) Familie Çağırga gegenüber den Schweizer Jurist_innen 74
(3) Said Çağdavul (19) 74
(a) Abdullah Çağdavul, Vater von Said Çağdavul, gegenüber der Anwaltsdelegation: 74
(b) Gurbet Çağdavul, gegenüber HRW 75
(c) Abdullah Çağdavul (45), Sait Çağdavul `s Vater, gegenüber der Anwaltskammer 76
(4) Bahattin Sevinik (50) 77
(a) Abdullah Anakin gegenüber HRW 77
(b) Sirin Sarak (48) gegenüber HRW, 77
(5) Suphi Sarak (52) 78
(a) Halil Sarak, Suphi Sarak`s Bruder, gegenüber der Anwaltsdelegation: 78
(b) Sirin Sarak, 48, gegenüber HRW: 79
(6) Osman Çağlı (18) 79
(a) Nuri Çağlı, Vater von Osman Çağlı, gegenüber der Anwaltsdelegation: 80
(b) Nuri Çağli (62), Osman Çağlı`s Vater gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 80
(c) Mehmet Sait Çağli (23),Osman Çağli´s Bruder, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 81
(7) Bünyamin Irci (14) 82
(a) Tarik Irci, Vater von Bünyamin Irci, gegenüber der Anwaltsdelegation: 82
(b) Tarik Irci (41), Vater von Bünyamin Irci (14) gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir: 83
(c) Abdurrahman Ukşul, (49), Augenzeuge, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir. 84
(8) Eşref Erdin (60) 85
(a) Rahmed Erdin Ağar, Tochter von Eşref Erdin, gegenüber der Anwaltsdelegation: 85
(b) Rahmet Erdin Ağar, (34) gegenüber HRW: 86
(9) Zeynep Taşkın (18) 87
(a) Hassan Taşkın, Vater von Zeynep Taşkın gegenüber der Anwaltsdelegation: 87
(b) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 87
(10) Maşallah Edin (35) 88
(a) Ahmet Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber der Anwaltsdelegation: 88
(b) Ahmed Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber HRW: 89
(c) Ferhan Dayan, Ahmet Edin`s Cousin, gegenüber HRW: 89
(d) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 90
(11) Özgür Taşkın (18) 90
(a) Sadun Taşkın, Vater von Özgür Taşkın, gegenüber der Anwaltsdelegation: 91
(b) Sadun Taşkın (41), Özgür Taşkın`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 91
(12) Meryem Süne (45) 92
(a) Fevzi Süne (59), gegenüber HRW 93
(b) Salid Süne, Sohn von Meryem Süne, gegenüber HRW: 93
(13) Mehmet Sait Nayci (16) 94
(a) Ramazan Nayci (41), Mehmet Sait Nayci`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 94
(b) Ramazan Nayci, Vater von Sait Nayci, gegenüber den Schweizer Jurist_innen 95
(14) Selman Ağar (10) 95
(a) Rahime Ağar, Mutter von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation: 95
(b) Mehmet Ağar, Vater von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation: 96
(15) Mehmet Erdoğan (75) 96
(a) Selman Erdoğan, Bruder von Mehmet Erdoğan, gegenüber der Anwaltsdelegation 96
2. Todesfälle durch fehlende medizinische Versorgung 97
(1) Şahin Açik (74) 97
(a) Mehmet Emin Açik, Sohn von Şahin Açik, gegenüber der Anwaltsdelegation 97
(b) Mehmet Emin Açik (41), Sohn von Şahin Açik, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 98
(2) Muhammed Tahir Yaramuş (35 Tage) 98
(a) Abdullah Yaramuş, Vater von Muhammed Tahir Yaramuş, gegenüber der Anwaltsdelegation: 98
(b) Sosin Yaramuş, Mutter von Muhammed Tahir Yaramuş, gegenüber der Anwaltsdelegation: 100
(3) Mehmet Dökmen (70) 100
(a) Selim Dökmen, Bruder von Mehmet Dökmen, gegenüber der Anwaltsdelegation: 100
(4) Ibrahim Çiçek (80) 101
(5) unbekannte schwangere Frau 101
(a) Kader Gargan, Augenzeuge, gegenüber der Anwaltsdelegation: 101
3. Tote durch Herzinfarkt aufgrund von Stress 101
(1) Xetban Bülbül (65) 101
(2) Haci Ata Borçin (70) 101
II. detaillierte Fälle von Verletzten 102
1. Abdullah Özcan 102
(1) Abdullah Özcan`s Vater gegenüber der Anwaltsdelegation 102
(2) Abdullah Özcan, Verletzter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarkbakir 102
2. Salih Çağlı 103
(1) Metin Çağlı, Sohn von Salih Çağlı, gegenüber HRW: 104
(2) Veli Çağlı,Sohn von Salih Çağlı gegenüber der Anwaltsdelegation: 104
3. Abdullah Anakin 105
(1) Abdulhakim Anakin (28) gegenüber HRW: 105
4. Berxwedana Taşkın 105
(1) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir 106
(2) Ferhan Dayan, Ahmet Edin`s Cousin, gegenüber HRW 106
5. Ein anonymer Imam 107
2. Teil: Ekin Van 107
3. Teil Lokman Birlik 108
4. Teil: Keller Cizre 109
A. Allgemeines 109
B. Konkrete Erkenntnisse 113
I.Vorgeschichte: 116
II. Erster Keller 118
III. Zweiter Keller 123
IV. Dritter Keller 125
1. Aussage von Serhildan 126
2. Aussage von Taybet 132
3. Aussage einer weiteren Überlebenden 133
V. Ermittlungen und Erkenntnisse der Zeit nach den Angriffen 135
5. Teil: Refik Tekin u. a. 147
Teil C Rechtliche Bewertung 150
1. Teil: Verstoß der Ausgangssperre gegen türkisches Recht 150
2. Teil Strafbarkeit nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) 157
A. Ereignisse während der Ausgangssperre vom 04. bis zum 11. September 2015 in Cizre. 157
I. Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 VStGB 158
1. Ausgedehnter und systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung 158
2. Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände des § 7 VStGB 160
(1) § 7 Abs. 1 Nr. 1: Tötung eines Menschen 160
(2) § 7 Abs. 1 Nr. 2: in der Absicht, eine Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören, diese oder Teile hiervon unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen 162
(3) § 7 Abs. 1 Nr. 8: einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt. 162
(4) § 7 Abs. 1 Nr. 8: einen Menschen unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts in schwerwiegender Weise der körperlichen Freiheit beraubt 163
(5) § 7 Abs. 1 Nr. 9 eine identifizierbare Gruppe oder Gemeinschaft verfolgt, indem er ihr aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, aus Gründen des Geschlechts oder aus anderen nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts als unzulässig anerkannten Gründen grundlegende Menschenrechte entzieht oder diese wesentlich einschränkt 163
II. Kriegsverbrechen nach § 8 VStGB 164
(1) internationaler bzw. nicht-internationaler bewaffneter Konflikt 165
(2) Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände 165
III. § 11 Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung 165
1. Allgemeines 166
2. Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände 166
(1) § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB 166
(2) § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB 167
(3) § 11 Abs. 1 Nr. 5 VStGB 167
B. Ekin Van 168
C. Lokman Birlik 168
D. Ereignisse in den Kellern von Cizre 168
E. Refik Tekin 169
3. Teil Verantwortlichkeit der Beschuldigten 169
4. Teil Individuelle Verantwortlichkeit 170
5. Teil Kenntnis und Vorsatz 172
6. Teil Allgemeine Zuständigkeit/Ermittlungsansätze in der Bundesrepublik Deutschland und Fehlen einer primären Gerichtsbarkeit 173
A. Allgemeine Ausführungen zu § 153f StPO 174
B. Konkrete Ausführungen zu dem hiesigen Fall 178
I. Inlandsbezug 178
II. keine anderweitige Gerichtsbarkeit 179
III. Ermittlungsansätze in der Bundesrepublik 188
7. Teil Keine Immunität der Beschuldigten 189
Teil D: Geschichte des Konfliktes bis 1999 190
A. Allgemeines zum kurdischen Volk 190
B. Entwicklung bis Ende der 30iger Jahre 191
C. Assimilationspolitik der 40er-bis 80er Jahre 194
D. Situation in den 80er und 90er Jahren 195

Teil A: Geschichte des Konfliktes von 1999 bis heute und allgemeine politische und menschenrechtliche Situation
1. Teil: Kurze Geschichte des Konfliktes bis 2009
Es soll zunächst eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung in der Zeit von 1999 bis 2009 gegeben werden. Verglichen mit der Situation vor 1999 gab es in diesem Zeitraum weniger militärische Auseinandersetzungen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Situation in den kurdischen Provinzen der Türkei dennoch von einem bewaffneten Konflikt und einem ausgedehnten Angriff gegen die Zivilbevölkerung geprägt war. In diesem Rahmen kam es immer wieder zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seitens des türkischen Staates und auch seitens einiger hier angeklagter Personen. (Siehe zu alledem die Strafanzeige gegen Erdoğan u.a. aus dem Jahr 2011) .
Die Zeit 1999 bis 2005 kann als eine Zeit relativer Beruhigung der bewaffneten Auseinandersetzungen bezeichnet werden. Die kurdische Seite orientierte mit dem 2002 gegründeten KADEK (Kongreya Azadî û Demokrasiya Kurdistanê – Kongress für Freiheit und Demokratie Kurdistan) sowie nach dessen Weiterentwicklung dem Kongra-Gel (Kongra Gelê Kurdistan – Volkskongress Kurdistans) auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, die Demokratisierung des Mittleren Ostens und die Schaffung einer geschlechtergleichberechtigten demokratisch-ökologischen Gesellschaft. Der von der kurdischen Guerilla der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê – Arbeiterpartei Kurdistans), der HPG (Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte), aufrechterhaltene einseitige Waffenstillstand von 1999 bis Juni 2004 wurde jedoch seitens des türkischen Staates und der Armee nicht erwidert.
Seit 2004 kam es zu einer Intensivierung von Militäroperationen und seitens der Regierung zu einer strikten Verweigerung des Dialogs über einen Friedens- und Demokratisierungsprozess. Im Frühjahr 2005 führte das türkische Militär gegen die Guerillas der HPG und auch gegen die Zivilbevölkerung die intensivsten Militäreinsätze seit 1999 durch. 2004 ging die HPG auf Grund der anhaltenden Militäroperationen zur „legitimen Selbstverteidigung“ über.
Im März 2005 erfolgte nach der Gründung der KKK (Koma Komalên Kurdistan – Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans), der später in KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) umbenannt wurde, die Deklaration des Konzepts des „Demokratischen Konföderalismus“ durch Abdullah Öcalan zu Newroz, das zum neuen Paradigma der kurdischen Bewegung wurde. Abdullah Öcalan erklärte in diesem Rahmen erneut seine Gegnerschaft zum kurdischen Nationalismus und zur Forderung nach einem eigenem kurdischen Staat. Im Konzept des Demokratischen Konföderalismus ist eine Teil-Autonomie für Kurd_innen innerhalb der vorhandenen Nationalstaaten (Türkei/Syrien/Iran/Irak) angedacht – ähnlich dem Status Schottlands in Großbritannien. Die weitgehendste Umsetzung dieses Modells des „Demokratischen Konföderalismus bzw. der Demokratischen Autonomie findet sich derzeit in Rojava (Nordsyrien), wo sich die Kurd_innen seit 2011 gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in Selbstverwaltungsstrukturen basisdemokratisch organisiert haben. (Siehe unten Teil A, 2. Teil B III 1,)
Militärisch ist es zwischen 2005 und 2009 immer wieder zu kleineren, aber auch zu größeren Gefechten zwischen der Türkischen Armee und der HPG gekommen, die ihren Grund meist in massiven Militäroperationen der türkischen Seite oder Angriffen auf die Zivilbevölkerung trotz bestehenden einseitigen Waffenstillstandes hatten. Immer wieder marschierte die türkische Armee zudem völkerrechtswidrig in die KRG (Kurdistan Regional Government- Kurdische Autonomieregion im Nordirak) oder bombardierte ebenfalls völkerrechtswidrig die Region im Kandilgebirge im Nordirak, in der die Guerilla der HPG ihren Rückzugsraum hat.
2. Teil: Konflikt sowie politische und menschenrechtliche Situation 2009 bis heute
A. Situation in der Türkei 2009 bis Mitte 2015
Die Anzahl der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegen Guerillas und die Zivilbevölkerung nahm seit 2009 erneut zu. (Siehe auch hierzu die Strafanzeige aus dem Jahr 2011). Im Jahr 2009 registrierte der IHD (İnsan Hakları Derneği – Menschenrechtsverein) Diyarbakir (kurdisch: Amed) für das Jahr 2009 im Südosten der Türkei mehr als 1.000 Fälle von Folter . Im ersten Halbjahr 2010 kam es zu 19 dokumentierten extralegalen Hinrichtungen durch staatliche und paramilitärische Kräfte und über 650 dokumentierten Fällen von Folter . Zudem häuften sich im vergangenen Jahr Berichte über den Einsatz chemischer Waffen und postmortale Verstümmelungen durch das türkische Militär . (Siehe auch hierzu die oben bereits erwähnte Strafanzeige aus dem Jahre 2011) .
Parallel wurde die Bedeutung der kurdischen Bewegung in allen zivilgesellschaftlichen Bereichen in den kurdischen Provinzen der Türkei immer größer. Der türkische Staat reagierte darauf mit zunehmender Repression gegenüber diesen Strukturen und versuchte, jedes zivilgesellschaftliche Engagement, sei es auf kommunalpolitischer Ebene, sei es in der Frauenarbeit, dem Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt, wie dem Hasankeyef-Staudamm, der Menschenrechtsarbeit im IHD oder dem anwaltlichen Beistand vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, als Terrorismus zu definieren und zu verfolgen.
Zugleich hat jede seitdem stattfindende Wahl bzw. Volksabstimmung gezeigt, dass die Äußerung des demokratischen Willens der kurdischen Bevölkerung, wenn er nicht mit dem Willen der Regierung Erdoğan übereinstimmt, in keinster Weise akzeptiert, sondern mit Repression, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beantwortet wird.
So stellte nach den Kommunalwahlen im April 2009 die prokurdische DTP (Demokratik Toplum Partisi – Partei für eine Demokratische Gesellschaft) bzw. nach deren Verbot im Dezember 2009 die BDP (Barış ve Demokrasi Partisi – Partei für Frieden und Demokratie) in den kurdischen Provinzen der Türkei in 99 Kommunen (zuvor lediglich in 58) die Bürgermeister_innen bzw. Stadtverwaltungen. Die DTP erreichte bei den Wahlen zwischen über 65 Prozent der Stimmen z. B. in der Millionenstadt Diyarbakir bis hin zu über 90 Prozent in Hakkari (kurdisch Colemêrg). Unmittelbar danach begann eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen kurdische Politiker_innen, Menschenrechtsaktivist_innen und Journalist_innen, die sogenannten „KCK-Operationen“. Nach Ansicht zahlreicher Vertreter_innen von Staatsanwaltschaft, Justiz und Sicherheitsbehörden soll die KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, den städtischen Arm der PKK darstellen.
Nach Angaben des IHD aus dem Jahre 2012 befanden sich wegen dieser Verfahren im Rahmen der KCK-Verfahren rund 8.000 Personen in Haft, einige mehr als drei Jahre . Die Zahl der Angeklagten ist noch weit höher. Die Verfahren richteten sich zum größten Teil gegen gewählte Politiker_innen und Mitglieder der DTP bzw. BDP, Vertreter_innnen zivilgesellschaftlicher Organisationen, Frauenrechtlerinnen, Gewerkschafter_innen, Journalist_innen und Rechtsanwält_innen.
Den Beschuldigten wird „die Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder deren Unterstützung“ sowie die „Gefährdung der nationalen Einheit“ vorgeworfen.
Keinem/r der Angeklagten wurde oder wird eine konkrete Straftat und schon gar keine Beteiligung an irgendeiner Gewalttätigkeit vorgeworfen. Angeklagt sind vielmehr eine ganze Reihe von legalen politischen Tätigkeiten. Nahezu sämtliche politischen Aktivitäten von DTP bzw. BDP (sowie derzeit der HDP) werden als solche der KCK kriminalisiert und sind sozusagen zum Ziel der Strafermittlungen geworden. Kriminalisiert wird z. B., das Wort PKK auf Kurdisch auszusprechen. Als kriminell hingestellt wird aber auch, Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht oder im Ausland auf politischen oder juristischen Informationsveranstaltungen geredet zu haben, Kandidat_innen für Bürgermeisterwahlen ausgewählt, Familien von gefallenen Guerillas besucht oder zu Newroz, dem Weltfrauentag am 8. März oder gegen den Ilisu-Staudamm aktiv geworden zu sein bzw. an Aktionen der sogenannten lebenden Schutzschilde (canli kalkan) teilgenommen zu haben. All diese Aktivitäten werden der KCK zugerechnet, da sie mit deren Zielen übereinstimmen.
Menschenrechtler_innen sind sich einig, dass durch die KCK-Prozesse die kurdische Opposition ausgeschaltet und der Friedensprozess torpediert werden sollte. Auch der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, Markus Löning (FDP), äußerte in einer Anhörung vor dem EU-Ausschuss des Bundestages im November 2010 die Auffassung, dass der Prozess den positiven Entwicklungen im türkisch-kurdischen Konflikt entgegenwirke und maßgeblich von interessierten Kräften in der Türkei betrieben werde
Dass die Äußerung des demokratischen Willens der Bevölkerung, wenn er nicht mit dem Willen der Regierung Erdoğan übereinstimmt, in keinster Weise akzeptiert wird, zeigte auch ein Verfassungsreferendum 2010, das von einem großen Teil der kurdischen Bevölkerung boykottiert wurde: In der Folge kam es beispielsweise in der Region Hakkari, wo der Boykottanteil besonders hoch war, nach einer entsprechenden Ankündigung durch R.T. Erdoğan zu einer Vielzahl von Tötungen von Zivilisten durch staatliche Kräfte. Recep Tayyip Erdoğan hatte nach nach dem Referendum angekündigt: „Wir haben Spezialpläne für Hakkari und Şırnak (wo bis zu 90 Prozent dem von der BDP angestrebten Boykott des Verfassungsreferendums folgten, Anm. der Autorinnen).“ Direkt danach kam es zu einem aller Wahrscheinlichkeit nach von Militärs verübten Anschlag auf einen Minibus in Hakkari/Gecitli, bei dem 11 Menschen starben. Ein 16-Jähriger wurde von einem Offizier der türkischen Armee am 08.09.2010 auf offener Straße hingerichtet. In Ortaklar nahe Hakkari/Şemdinli kam es zum Beschuss eines ganzen Dorfes, der 16-jährige Izzet Demir wurde schwer am Kopf verletzt. Am 21.10.2010 verübten „unbekannte Täter“ einen Anschlag auf das Büro der BDP in Yüksekova. Am 22.10.2010 folgten Verhaftungen von mehreren Politiker_innen und Gewerkschafter_innen .
Parallel zu dieser Strategie der staatlichen Eskalation kam es seit 2009 immer wieder zu, ab 2011 auch von Regierungsseite bestätigten, Gesprächen – dem sog.“Oslo Prozess“ – zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung über die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung des Konfliktes, die von kurdischer Seite die gesamten Jahre angestrebt wurde. Begleitet wurde dieser Dialog von immer lauter werdenden Forderungen nach einer dialogischen Lösung des Konfliktes unter Einbeziehung sämtlicher Konfliktparteien inkl. der PKK und Abdullah Öcalan in der türkischen Öffentlichkeit.
Auf kurdischer Seite wurde u.a. deshalb eine große Hoffnung auf eine friedliche und demokratische Entwicklung mit der Parlamentswahl im Mai 2011 verknüpft. Aber auch bei dieser Wahl wurde der demokratische Wille seitens der türkischen Regierung nicht respektiert. So spitzte die Regierung Erdoğan seit dieser Wahl, bei der die unabhängigen Kandidat_innen des Wahlblocks 36 Parlamentssitze erringen konnten, die Situation durch Repression zu (wie unten weiter ausgeführt).
Dem Wahlblock, der 36 Parlamentssitze errang, gehörten neben Kandidat_innen der BDP auch solche verschiedener linker Parteien und Gruppen an. Sechs gewählten Parlamentarier_innen wurde der Einzug ins Parlament von der hohen Wahlkommission verweigert. Zudem wurde begonnen, in den Medien eine tamilische Lösung der kurdischen Frage zu propagieren – und der Versuch der Umsetzung einer derartigen „Lösung“ (der Verhinderung demokratischer Organisierung und Menschenrechtsarbeit und der Vernichtung der Existenzgrundlage für die Bevölkerung) wurde anschließend erkennbar.
Bereits vor den Parlamentswahlen 2011 hatte der Nationale Sicherheitsrat unter Vorsitz von Abdullah Gül folgende Erklärung abgegeben:

„Es muss betont werden, dass der Kampf gegen den Terrorismus, wie schon bis heute, nicht nur auf der Sicherheitsebene zu führen ist, es müssen weiterhin vielfältige Methoden eingesetzt werden, die auch die Vernichtung der Umgebung, welche den Terrorismus nährt einschließen. (…) Diesbezüglich wird betont, dass wir die Versuche der Terrororganisation und ihrer Komplizen, unter dem Deckmantel der Menschenrechte zu agieren, und jede Aktivität, die auf die Einheit unseres Volkes, seine Vollständigkeit, seine Sicherheit, Frieden und Wohlfahrt abzielt, im Ansatz bekämpfen werden und dieses entschiedene Vorgehen, bis zur Eliminierung der Terrorbedrohung [fortsetzen] (…).“
Neben einer neuen Repressionswelle gegen Politiker_innen und Aktivist_innen im Rahmen der KCK-Verfahren kam es gleichzeitig nahezu durchgehend zur Bombardierung mehrerer Gebiete im Nordirak durch Kampfflugzeuge der türkischen Armee, wobei es immer wieder zu zivilen Opfern, Zerstörungen von Dörfern und Dorfvertreibungen kam. Gleichzeitig gab es wieder fast täglich Gefechte zwischen der Guerilla (HPG) und dem türkischen Militär auf türkischem Staatsgebiet. Die türkische Armee begann wie in den 1990er Jahren Angriffe der Guerilla auf Militär- und Polizeieinrichtungen mit Racheaktionen gegen die Zivilbevölkerung zu beantworten, bei denen Zivilist_innen erschossen und ihre Häuser mit Granaten und Raketen beschossen wurden. Zudem kam es vermehrt zu gezielten Tötungen von Zivilist_innen (z.B. das Massaker von Roboski, als 34 Zivilist_innen an der Grenze zum Irak durch ein Bombardement getötet wurden ).
Ende des Jahres 2012 sorgte Abdullah Öcalan mit einem Brief an Recep Tayip Erdoğan für den Beginn eines neuen Friedensprozesses. Damit begann die ernsthafteste und hoffnungsvollste Friedensinitiative der jüngeren Vergangenheit.
Abdullah Öcalan skizzierte den Prozess, der kurz vor der Newroz-Feier in Diyarbakir seinen Anfang nahm und offiziell durch eine Grußbotschaft des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Politikers begann, folgendermaßen:

„Ich sage, unter Bezeugung der meinem Ruf folgenden Millionen Menschen: es beginnt eine neue Zeit, nicht die Waffen, sondern die Politik bekommt den Vorrang. Es ist nun an der Zeit, dass unsere bewaffneten Einheiten sich hinter die Grenze zurückziehen.“
Kurz nach Beginn des Friedensprozesses wurden am 10. Januar 2013 (Datum) in Paris die drei kurdischen Frauen Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez ermordet. Sakine Cansiz war eine der Gründerinnen der PKK, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in der kurdischen Frauenbewegung in Europa tätig. Aufgrund danach veröffentlichter Dokumente und Gesprächsprotokolle geht auch die Pariser Oberstaatsanwaltschaft von der Verantwortlichkeit des türkischen Geheimdienstes MIT (Milli İstihbarat Teşkilatı) für dieses Attentat aus .
Die Beteiligung des MIT steht auch in der Türkei außer Zweifel. Streit besteht lediglich darüber, wer den Befehl zur Ermordung gab: Regierungskreise der AKP oder die Gemeinde des in den USA lebenden Predigers Fethulla Gülen, der die Regierungspartei AKP mittrug, bis es ab 2014 zu internen Streitigkeiten zwischen Gülen und Erdoğan kam. Erdoğan äußerte in seiner Rede am 9. März 2013 in Urfa unter Beschuldigung der Gemeinde Gülens: „Sie haben die Attentate von Paris ausgeübt. Sie wollten den Friedensprozess zerstören.“ Obwohl offenbar eines der Hauptziele dieser Morde war, den gerade begonnenen Friedensprozess zu torpedieren, und obwohl die Morde in der kurdischen Gesellschaft zu starker Wut führten, hielt Abdullah Öcalan an der Fortsetzung der Friedensgespräche fest. Trotz regelmäßiger Gespräche zwischen Regierung, Öcalan und der HDP erfolgten im Verlauf des Friedensprozesses jedoch keine konkreten Schritte.
Insbesondere wurden Schritte, die die Permanenz und Unumkehrbarkeit des Prozesses hätten sichern können, immer wieder seitens der Regierung Erdoğan verschoben oder negiert. Darüber hinaus wurden Einheiten der HPG, die sich im Rahmen des Friedensprozesses in den Nordirak zurückzogen hatten, mehrfach von Drohnen und der Armee bedroht. In einigen Regionen im kurdischen Südosten der Türkei, aus denen sich die HPG zurückgezogen hatte, ließ die Regierung massiv Polizeistationen und Militärbasen bauen. Die besorgte Bevölkerung wurde bei Protesten immer wieder angegriffen. Es kam zu mehreren Morden durch Sicherheitskräfte.
Öcalan brachte dies ein Jahr später in seiner Botschaft zur Newroz-Feier 2014 so zum Ausdruck:

„Das bis jetzt Erfolgte war ein Prozess des Dialogs. In diesem Prozess haben beide Seiten gegenseitig Ihre Gutmütigkeit, Realitätsnähe und Kompetenz getestet. Aus diesem Test sind beide Seiten, trotz der Verlangsamung, Einseitigkeit, Verwehrung von gesetzlichen Grundlagen und Hinhaltung seitens der Regierung, auf Ihrer Suche nach Frieden mit Entschlossenheit hervorgegangen. Doch trotz seiner Wichtigkeit erfolgten durch den Dialogprozess keine verbindlichen Folgen. Aus diesem Grunde können sie für einen dauerhaften Frieden auch nicht genügend Vertrauen schaffen. Das Stadium der Friedensverhandlungen erfordert deshalb nun einen gesetzlichen Rahmen.“
Die weitestgehende Konkretion fand der Friedensprozess zweifelsohne im 10-Punkte-Plan von Dolmabahce. Auch Abdullah Öcalan sah diesen Plan als einen historischen Schritt und gab diesem einen bedeutenden Teil in seiner Botschaft kurze Zeit später zu Newroz 2015. Er sagte:

„Ich erachte es für notwendig und historisch, dass die seit über vierzig Jahren gegen die Republik Türkei kämpfende PKK ihren bewaffneten Kampf im Rahmen der Eckpfeiler der getroffenen Vereinbarungen der Deklaration aufgibt und einen Kongress durchführt, um gemäß den Erfordernissen der neuen Zeit neue politische und gesellschaftliche Strategien und Taktiken zu entwickeln. Ich hoffe, dass die Einigung über die Eckpfeiler in kürzester Zeit erfolgen wird und wir eine aus den Mitgliedern des Parlaments und des Beobachtungskomitees bestehende Wahrheitskommission erhalten und es erleben werden, wie dieser Kongress realisiert wird.“
Recep Tayip Erdoğans erklärte allerdings auf einer Pressekonferenz drei Tage nach Dolmabahce:

„Ich erkenne die Vereinbarung von Dolmabahce nicht an“.
Dadurch war der Startschuss für eine Abkehr von alledem gegeben, was bis dahin an positiven Schritten unternommen worden war. Im Gegensatz zu seinen Äußerungen während des Friedensprozesses verleugnete Erdoğan nunmehr erneut die Existenz der kurdischen Frage an sich und betonte, dass jede/r, der/die behaupte, es gäbe eine kurdische Frage, ein/e Separatist_in und Terrorist_in sei. Er kehrte damit zu den Feindbildzuschreibungen und der destruktiven Staatspolitik der vorherigen Regierungen seit der Staatsgründung der Türkei im Jahr 1923 zurück.
Als die AKP auch bei den Parlamentswahlen im Sommer 2015 in den kurdischen Provinzen der Türkei keine Mehrheit erlangte und die HDP die 10 % Hürde übersprang, begann die Regierung mit einem bis heute immer weiter eskalierenden Krieg. Dieser Krieg wurde seitens Regierung und Armee zunehmend mit Massakern an der kurdischen Bevölkerung geführt die sich auch im Rahmen die hier angezeigten Taten wiederfinden. (Siehe unten Teil B)

B. Situation 2013 bis heute in der KRG (Nordirak) und Rojava (Nordsyrien)
Die hier skizzierten Entwicklungen und auch die Ausführungen im Weiteren können allerdings nicht ohne eine Analyse der Entwicklungen im gesamten Mittleren Osten verstanden werden.
Insofern soll nach einigen allgemeinen Worten (I.) zunächst auf die Situation in der KRG/Nordirak (II.), schließlich in Rojava/Nordsyrien (III.) und dann in der Türkei seit Mitte 2015 (C.) eingegangen werden.

I. Allgemeine Worte:
Es wird immer offensichtlicher, dass R.T. Erdoğan ein zunehmend autokratisches, diktatorisches System anstrebt, in dem er selbst die zentrale Figur ist und sämtliche Macht auf sich und ihm direkt Untergebene konzentriert. Die Opposition, ebenso wie auch parteiinterne Gegner, werden dabei systematisch und rücksichtslos ausgeschaltet (u.a. Fetullah Gülen und Ahmet Davutoğlu). Außenpolitisch verfolgt Erdoğan eine neo-osmanische Vision, in der die Türkei diezentrale Macht im Mittleren Osten darstellt.
In diesem Rahmen wird auch die zunehmend aggressive Politik gegenüber den Nachbarstaaten Irak, Syrien und Iran sowie Russland verständlich. Diese destruktive Politik stößt auch bei den Regierungen der EU – wenn auch sehr langsam – auf zunehmenden Widerstand.
Ebenso ist zu erkennen, dass es dem türkischen Staat – aber insbesondere Präsident Erdoğan und der AKP – auch darum geht, die kurdischen Kräfte der Region, die versuchen, die von Abdullah Öcalan mitgeprägte Ideologie eines basisdemokratischen Modells der demokratischen Autonomie umzusetzen und zu leben, zu schwächen, zu stürzen und zu vernichten. Grund hierfür ist die Tatsache, dass diese kurdischen Kräfte ein ernstzunehmendes Hindernis für die Durchsetzung von Erdoğans Politik und Macht hin zu einer Diktatur sind.
Um die o.g. Ziele zu erreichen, haben Präsident Erdoğan, die türkische Regierung und die AKP auch immer wieder mit verschiedensten islamistischen Kräften wie dem IS (Islamischer Staat), Al Nusra, Al Qaida, FSA (Freie Syrische Armee), Fatih-Regimente oder turkmenischen Einheiten zusammengearbeitet bzw. diese gestützt und gestärkt. (Siehe hierzu näher unten.zur Zusammenarbeit der türkischen Regierung mit islamistischen Gruppen Teil A, 2. Teil B III 5)
Insofern darf nicht verkannt werden, dass die Ereignisse der letzten zwei bis drei Jahre in Syrien und im Irak in unmittelbarem Zusammenhang mit dem sich jenseits der Menschenrechte befindenden Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei stehen.
Zugespitzt kann gesagt werden: Während Erdoğan innerhalb der Türkei Verhandlungen im Rahmen der Friedensgespräche führte, hat er außerhalb der Grenzen einen Krieg geführt.
II. Situation und Bewertung der Lage im Nordirak
In Bezug auf die Entwicklungen im Nordirak, insbesondere soweit sie auch die Interessenlage der Türkei betreffen, sind mehrere entscheidende Ereignisse zu beleuchten: Der Einmarsch des IS in Mossul im Juni 2014 (1.), der Einmarsches des IS in Şengal (2.), die Offensive der SDF (Syrien Demokratic Forces) auf Al Hawl und die Befreiung Şengals (3.) sowie die Verlegung türkischer Soldaten nach Bashiqa (4.).
1. Einmarsch des IS in Mossul
Im Juni 2014 nahm der IS ohne große Kampfhandlungen Mossul ein. Die irakische Armee leistete praktisch keinen Widerstand. Die Offiziere und Soldaten flüchteten und ließen alles zurück: Fahrzeuge, Panzer, Waffen, Munition.
Als der IS die Stadt überfiel, besetzte er auch das türkische Konsulat und nahm 49 Geiseln. Im Gegensatz zu Angehörigen anderer Staaten, wie beispielsweise englischen oder jordanischen Journalisten, die in Käfigen verbrannt wurden, wurden die türkischen Geiseln allesamt freigelassen. Hier ergaben sich bereits Hinweise auf die Verbindungen zwischen der Türkei und dem islamischen Staat, die sich im Laufe der nächsten zwei Jahre bestätigen sollten, auch wenn die Türkei mit allen Mitteln versucht, der Öffentlichkeit die entsprechenden Beweise vorzuenthalten (siehe hierzu näheres unter Teil A, 2. Teil B III 5).
Nach dem Angriff auf das türkische Konsulat wurden hunderte Mitglieder des IS aus den türkischen Gefängnissen freigelassen. Tonnenweise Waffen und Munition wurden geliefert. Dem IS wurden in der Türkei Freiräume gelassen, um sich ohne Probleme zu organisieren, seine Kämpfer und Anhänger_innen konnten hin und her reisen und wurden in der Türkei medizinisch versorgt. (Siehe hier näher unten Teil A, 2. Teil B III 5)
Die Verbindungen zwischen der Türkei und dem Islamischen Staat waren auch in Deutschland bereits kurz nach der Freilassung der Geiseln Thema. So berichtete u.a. Spiegel-online am 20.09.2014:

„(…) Doch wie die nächtliche Befreiungsaktion vonstattenging, darüber schweigen die Mächtigen. Weder Davutoğlu noch Erdoğan nannten Details. Mehrere türkische Zeitungen verbreiten, es sei kein Lösegeld gezahlt worden. Auch habe es keinen Gefangenenaustausch gegeben. Die Geiseln, heißt es weiter in den Berichten, seien von IS-Kämpfern bis an die Grenze gebracht und dort an die Türkei übergeben worden. Waffengewalt soll demnach nicht angewandt worden sein. Darauf deutet auch Davutoğlus Aussage hin, der glückliche Ausgang sei Folge „tagelanger, wochenlanger harter Arbeit“. Dabei seien „Kontakte“ hilfreich gewesen. Zudem seien alle Geiseln unverletzt und wohlauf.
Außenminister Cavusoglu erklärte am Samstagvormittag, IS hätte als Zeitpunkt für die Freilassung den 20. September genannt, nachdem frühere Termine ohne Ergebnis verstrichen waren. Damit räumte er ein, dass es Verhandlungen zwischen Ankara und IS gegeben hat.
Die Geiselnahme hatte enorme Verrenkungen für die türkische Regierung zur Folge: Sie weigerte sich beharrlich, IS als Terrororganisation zu bezeichnen. Erdoğan, bis Ende August noch Premierminister, hatte erklärt, er lasse sich nicht zu einer Wortwahl drängen, die die türkischen Geiseln in Gefahr bringe. Als vor einer Woche US-Außenminister John Kerry nach Ankara reiste, um die Türkei zur Unterstützung im Kampf gegen IS zu bewegen, holte er sich eine Abfuhr ab. Der Nato-Partner gab sich zögerlich und erlaubte nicht einmal, dass der Luftwaffenstützpunkt Incirlik nahe der syrischen Grenze für Luftschläge gegen IS-Stellungen genutzt werden darf. Lediglich humanitäre Hilfe würde man leisten. Mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien leben derzeit in der Türkei. Eine Offensive in Syrien löste eine neue Massenflucht aus.
Ihre Zurückhaltung begründeten türkische Politiker immer wieder mit ihrer Sorge um die Geiseln. Das „Wall Street Journal“ nannte die Türkei daraufhin „unseren Nicht-Verbündeten in Ankara“. Die IS-nahe Nachrichtenseite „Takva Haber“ hingegen sieht in der Weigerung der Türkei, sich der Koalition gegen IS anzuschließen, einen Erfolg. Diese Haltung sei der Grund für die Freilassung der Geiseln gewesen. Die Türkei habe durch die Verhandlungen mit den Dschihadisten den „Islamischen Staat“ inoffiziell anerkannt. IS habe das belohnt.
Ob eine solche Lösung ausgehandelt wurde, ist ungewiss. Auch wie es überhaupt zu der Geiselnahme kommen und ein hochgesichertes Generalkonsulat eingenommen werden konnte – 30 Geiseln waren immerhin Spezialkräfte zum Schutz der Vertretung -, ist nicht beantwortet. Die Regierung hatte, angeblich nur zum Schutz der Gefangenen, eine Nachrichtensperre verhängt.
Aus westlichen Diplomatenkreisen hieß es am Samstag, die Türkei habe IS-Kämpfer bisher unterstützt und vergeblich dazu genutzt, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen. Einer, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte, er freue sich über den „guten Ausgang dieses Dramas“, aber es sei „bemerkenswert, dass amerikanische und britische Geiseln vor laufender Kamera geköpft werden, während türkische freikommen“. Jetzt, da die „Ausrede der Geiselnahme“ nicht mehr gelte, müsse die Türkei beweisen, auf wessen Seite sie stehe.“
2. Angriff des IS auf Şengal
Die Glaubensgemeinschaft der Ezid_innen gehört zu den ältesten noch bestehenden Religionsgemeinschaften der Welt. Die Mehrheit der Ezid_innen lebte im Şengal-Gebirge um die Stadt Şengal. Über Jahrhunderte hinweg erlebten die Ezid_innen Verfolgung, Unterdrückung, Zwangskonvertierung, Verleumdung und unzählige Massaker. Şengal gilt als heilige Stätte für die Glaubensgemeinschaft der Êzîd_innen. Sie war bereits im August 2007 Angriffsziel islamistischer Organisationen. Bei zeitgleichen Bombenanschlägen wurden über 700 Zivilist_innen ermordet .
Der IS griff die Region Şengal Anfang August 2014 an, nachdem sich die Peschmerga der KDP einen Tag zuvor aus der Region zurückgezogen hatte. Überlebende des Angriffs beschweren sich, dass die Peschmerga ihnen ihre Kleinwaffen abgenommen und sie so schutzlos dem IS ausgeliefert hätten .
Nach örtlichen Einschätzungen wurden im Rahmen des IS-Angriffs im August 2015 mehr als 5.000 Menschen hingerichtet – weitere 5.000 wurden entführt, gefoltert, vergewaltigt und/oder versklavt.
Mehr als 100.000 Ezid_innen und einige Assyrer_innen schafften es durch einen Korridor, der von Kämpfer_innen der HPG, der Frauenguerilla YJA STAR (Yekîtîya Jinên Azad – Einheit der freien Frau), der YPG (Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten von Rojava) und YPJ (Yekîneyên Parastina Jin – Frauenverteidigungseinheiten von Rojava) freigekämpft wurde, zu fliehen. Insgesamt flohen 300.000 Ezid_innen und befinden sich seitdem im Kanton Cizîrê in Rojava (Nord-Syrien) (25.000), in der KRG (ca. 170.000) oder in den kurdischen Provinzen der Türkei (6.000).
Die humanitäre Situation vor Ort ist noch immer katastrophal. Monatelang war das Şengal-Gebiet umkämpft. Mittlerweile wurde die Region Şengal von vereinten Kräften der Peschmerga der KDP (Partiya Demokrata Kurdistanê – Demokratische Partei Kurdistans) von Masud Barzani, der HPG/YJA STAR, der YPG/YPJ und den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şengale – Widerstandseinheiten von Şengal) zurückerobert. Einige Ezid_innen kehren dorthin zurück. Die Lage ist nach wie vor instabil.
Am 14. Januar 2015 hielten zweihundert ezidische Delegierte im Sindschar-Gebirge eine Versammlung ab, und gründeten einen „Rat zur Selbstverwaltung“. Kritisiert wird, dass die Regierung der KRG, die KDP von Masud Barzani, versucht, den Prozess der Selbstverwaltung mit allen Mitteln zu verhindern – z.B. durch Festnahmen. Die Selbstverwaltung begreift sich als eine repräsentative und zeitliche Körperschaft, die von den Delegierten geschaffen wurde. Ebenso wurden aus der Erfahrung, sich selbst nicht verteidigen zu können, eigenständige ezidische Selbstverteidigungseinheiten, die YBŞ geschaffen. Eine permanente Selbstverwaltung mit der Unterstützung (und Beobachtung) der EU und USA ist ein Ziel der Körperschaft. Die Kooperation mit dem Irak und der KRG wird ebenfalls angestrebt, jedoch unter der Prämisse der Gleichberechtigung.
3. Offensive auf Al Hawl
Die Befreiung der Region Şengal im November 2015 wurde ganz wesentlich dadurch ermöglicht bzw. erleichtert, dass durch die Offensive der SDF (Syrian Democratic Forces – Demokratische Syrische Kräfte), zu denen auch die YPG/YPJ gehören, auf Al Hawl im Südosten des Kantons Cizîrê wichtige Basen des IS eingenommen wurden . Denn da die Gebiete von Al Hawl an die KRG und vor allem auch an Şengal grenzen, konnte der IS weiter isoliert werden und gleichzeitig der Einfluss der kurdischen Kräfte gestärkt werden.
All dies, aber noch viel mehr der weitere Vormarsch der von den USA unterstützten SDF in Nordsyrien Richtung Dscharābulus (Siehe Teil A, 2. Teil B III 4,) sowie derzeit in Richtung Raqua standen und stehen den türkischen Interessen massiv entgegen.
4. Verlegung türkischer Soldaten nach Bashiqa
Als ein Versuch der türkischen Regierung, diesem stärkeren Einfluss der kurdischen Kräfte etwas entgegenzusetzen, muss die Verlegung von Soldaten nach Bashiqa, einer Stadt nahe Mossul, gewertet werden. Dabei kann ihr offiziell genannter Grund, den IS im Irak bekämpfen zu wollen, angesichts ihres vorherigen Verhaltens (Siehe dazu unten Teil A, 2. Teil B III 5 und Teil A, 2. Teil B II 1) gegenüber dem IS nur als vorgeschoben angesehen werden. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass es um die Schaffung eines Gegengewichtes zum Einfluss schiitischer Kräfte in der Region sowie um die Blockade der Verbindung zwischen Rojava und den von der PKK kontrollierten Gebieten ging .
Schließlich darf nicht verkannt werden, dass für die Türkei neben Mossul auch Kirkuk (kurdisch Kerkûk) historische Bedeutung hat, da im Rahmen des Lausanner Vertrages beide Regionen den Araber_innen zugesprochen worden waren, was seitens der türkischen Regierungen niemals akzeptiert wurde (Siehe hierzu auch Teil D, 2. Teil.). Im Rahmen des Misak-ı Millî (Nationaler Pakt) von 1920, dem politischen Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung, werden Mossul und Kerkûk immer noch als legitime Territorien der Türkei gesehen . Der Regierung Erdoğan geht es derzeit offenbar darum, diese Gebiete im Rahmen der neo-osmanischen Bestrebungen wieder unter türkisch-sunnitische Kontrolle zu bekommen. Zudem wurde dieses Gebiet sicher als strategisch wichtig angesehen, um zum einen von Mossul aus Angriffe gegen Rojava aufnehmen zu können, und um zum anderen durch die militärische Präsenz in der KRG auch die PKK/HPG angreifen zu können .
Während die KDP die türkischen Soldaten in Bashiqa zur vermeintlichen Bekämpfung des IS legitimiert haben, hat die Zentralregierung in Bagdad mit Unterstützung Russlands Ankara für die Verletzung der irakischen Souveränität vor den UN-Sicherheitsrat gebracht . Die PUK (Patriotische Union Kurdistans – Yekêtiy Nîştimaniy Kurdistan), eine von Dschalal Talabani mit Schwerpunkt im Sorani-sprachigen Bereich um Sulaimaniyya geführte schiitisch geprägte Oppositionspartei in der KRG und Gorran (Bzutinewey‌ Gorran – Bewegung für Wandel), eine 2009 als Opposition zur regierenden Zwei-Parteien-Koalition aus der Demokratischen Partei Kurdistan und der Patriotischen Union Kurdistans gegründete Oppositionspartei, haben Bagdad dabei unterstützt und den Abzug türkischer Truppen gefordert.
Nachdem auch die USA entsprechenden Druck auf die türkische Regierung ausgeübt hatte, kündigte diese schließlich Mitte Dezember 2015 den Rückzug der Truppen an .
III. Situation und Bewertung der Lage in Nordsyrien
1. Allgemeines zu Rojava und dem Gesellschaftsmodell
Im Norden Syriens haben sich die Kurd_innen seit 2011 gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in Selbstverwaltungsstrukturen basisdemokratisch organisiert. Die Region heißt Rojava (kurdisch Westen). In den drei Kantonen, Cizîre, Kobanî und Afrin leben zwischen drei und vier Millionen Menschen, darunter ca. 2,5 Millionen Kurd_innen, 700.000 Angehörige weiterer Bevölkerungsgruppen und zwischen 800.000 und einer Million Flüchtlinge aus den anderen Teilen Syriens sowie dem Irak.
Die Kantone Cizîre und Kobanî sind mittlerweile miteinander verbunden. Zuvor hatte der IS die Region zwischen Serekaniyê und Kobanî kontrolliert. Zwischen Kobanî und Afrin und im Süden der Region finden zur Zeit Gefechte zwischen den Selbstverteidigungskräften Rojavas, YPG/YPJ, und dem IS statt. Immer wieder kommt es zu Anschlägen und Massakern des IS.
Rojava könnte ein Modell für ein an friedlichen und humanistischen Maßstäben orientiertes Zusammenleben aller Menschen im Mittleren Osten sein. Insbesondere dass die Gleichberechtigung der Frau als zentrales und notwendiges Moment einer positiven Entwicklung der Gesellschaft gesehen wird und es darum geht, alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft und Religion mit Respekt zu behandeln, erfüllt die Menschen in diesen krisen- und kriegsgeschüttelten Zeiten nicht nur in Rojava selber mit Hoffnung.
Basisdemokratische Strukturen organisieren sich in Rojava in Kommunen, die in Stadtteilen und Dörfern gebildet werden. Ökonomie, Landwirtschaft, Medien und Verwaltung werden kollektiv aufgebaut oder reorganisiert. Die Menschen entwickeln einen gemeinsamen Umgang für die Belange des Alltags. Gesellschaftliche Aufgaben werden in an die Kommunen angeschlossenen Kommissionen für Bildung, Gleichberechtigung der Frau, Sicherheit, wirtschaftlichen Aufbau, Landwirtschaft, Infrastruktur, Religionsfragen und Konfliktlösung und je nach Bedarf weiteren Kommissionen soweit wie möglich gelöst. Ist eine Lösung auf kommunaler Ebene nicht möglich, beschäftigen sich die Viertelräte oder Stadträte bis hin zum Kantonsrat und dem Volksrat von Rojava mit der Thematik . Natürlich sind diese Entwicklungen nur schrittweise umsetzbar.
Leitungsfunktionen werden in Rojava jeweils gleichberechtigt von einem Mann und einer Frau besetzt, in sämtlichen Gremien gilt eine 40 %-Quotierung für Frauen, aber auch für Männer. „Sunnit_innen, Schiit_innen, assyrische und chaldäische Christ_innen sowie Ezid_innen versuchen hier, im Gegensatz zum Chaos in der Region, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aus der Vielfalt der Ethnien, Religionen und Kulturen, die hier verwurzelt sind, beziehen wir unsere Stärke und Stabilität“, sagt die Präsidentin des Kantons Cizîrê, Hediya Yusuf, dazu.
In vom IS befreiten Orten werden durch die Einbindung der Menschen in die Basisdemokratie, unter anderem durch den Aufbau von Friedens- und Konsenskomitees, Vorurteile abgebaut und dadurch ein schrittweiser gesellschaftlicher Heilungsprozess zur Überwindung erlittener Traumata eingeleitet.
Ein Problem Rojavas ist die Nichtanerkennung der Selbstverwaltung durch die internationale Staatengemeinschaft. Rojava strebt keine Loslösung von Syrien, sondern gemäß den Ideen zur Demokratischen Autonomie von Abdullah Öcalan eine Anerkennung in einem föderalen Syrien an.
(1) Newrozcamp (Flüchtlingscamp):
Das Newrozcamp wird von der Regionalregierung des Kantons Cizîrê betrieben. Dort leben je nach Zeit unterschiedlich zwischen 5.000 und 15.000 ezidische Flüchtlinge aus Şengal. Die Stimmung im Camp ist gut. Die Menschen werden selbst an der Verwaltung und dem Alltag beteiligt. Es mangelt allerdings an Medikamenten und Ärzt_innen.
Hilfslieferungen kommen oft nicht an, weil die Türkei und die KDP-Regierung der kurdischen Autonomiegebiete die Grenzen verschlossen haben und auch LKW mit Hilfslieferungen immer wieder aufhalten .
(2) Medizinische Versorgung
Bei der medizinischen Versorgung mangelt es an allem: Medikamenten, medizinischen Geräte, Verbandszeug, Prothesen und sämtlicher Infrastruktur. In wenigen Krankenhäusern und Arztpraxen wird von Ärzten und Mitgliedern von Hilfsorganisationen viel des Mangels durch persönliches Engagement ersetzt. Es werden mehrere Gesundheitszentren und Einrichtungen zur Traumatherapie aufgebaut. Den Mangel an materieller Grundversorgung kann das hohe Maß an Motivation und Engagement jedoch nicht kompensieren. Die Menschen sind von der EU und der Bundesrepublik enttäuscht, da keine Unterstützung von offizieller Seite kommt.
Humanitäre Hilfsgüter kommen sehr selten bis überhaupt nicht in Rojava an. Bundesregierung und EU-Kommission begründen das damit, dass es keinen sicheren Weg dorthin gibt. Dieser könnte jedoch sehr leicht über die kurdische Autonomieregion (KRG) ermöglicht werden, wenn das politisch gewollt wäre.
(3) Die Landwirtschaft
Nordsyrien war bis 2011 die Kornkammer Syriens. Unter dem Regime von Assad wurden fast ausschließlich Weizen und Zwiebeln angebaut. Durch das jetzige Embargo von allen Seiten ist die Region auf eine weitgehend autarke Selbstversorgung angewiesen. Um dies umsetzen zu können gibt es mehrere kooperative Projekte, in dem die Umnutzung des Bodens zur Diversifizierung der Landwirtschaft unter möglichst ökologischen Bedingungen erprobt und durchgeführt wird. Mittlerweile werden auch Gurken, Bohnen, Tomaten und viele weitere Produkte angebaut.
Eine Knappheit an Lebensmitteln herrscht jedoch gerade angesichts des Embargos weiterhin.
(4) YPG/YPJ
Die YPG/YPJ begreifen sich als überethnische und überreligiöse Selbstverteidigungskräfte zum Schutz der Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen und regionaler Mächte. Sie wurde aus der Notwendigkeit der Selbstverteidigung von derart umkämpften Regionen wie Kurdistan gegründet. Ohne diese Selbstverteidigung müssten weitere hunderttausende Menschen oder die gesamte Region unter den Gräueltaten und der Diktatur der selbsternannten Djihadisten des IS leben und leiden.
Die YPG legte internationalen Beobachter_innen Dokumente vor, die beweisen, dass Kämpfer des IS aus und über die Türkei nach Syrien reisen. Darunter waren Pässe, Ausweise, Militärmarken, und Listen über Kämpfer, Waffen und wirtschaftliche Beziehungen mit der Türkei, die Mitgliedern des IS und der Al Nusra Front aus Libyen, Tunesien, Bahrein, der Türkei und weiteren Ländern abgenommen wurden .
2. Tal Abyad (kurdisch: Girê Spî)
In Tal Abyad leben seit dem Sommer 2015 Araber_innen, Turkmen_innen, Armenier_innen, Kurd_innen sowie weitere Bevölkerungs- und Religionsgruppen respektvoll zusammen. Vor der Befreiung der Stadt durch die YPG (Volksverteidigungskräfte) hat der IS dort die Menschen terrorisiert und 80 Prozent der kurdischstämmigen und armenisch-stämmigen Bevölkerung vertrieben:
Eine armenische Kirche wurde angezündet und eine darin befindliche Bibliothek vernichtet. Auf dem Hof der Kirche hat der IS Gefängniszellen von einem Meter mal drei Meter gebaut, die ohne Licht sind und ohne Einrichtung aus nacktem Beton bestehen. Hier wurden Augenzeugenberichten zufolge Menschen inhaftiert, gefoltert und später exekutiert. In weiteren Räumen neben dem Kirchengebäude hatte die Terrororganisation ihre Kämpfer ausgebildet.
An Tafeln im Gebäude der Kirche sind auf Schultafeln Bauanleitungen für Bomben und Hetze gegen „Ungläubige“ sowie Europa zu sehen, die der IS zurückgelassen hat. Auf der Hauptstraße befindet sich ein Käfig, in dem der IS Menschen an den Pranger stellte und folterte. In der Kommunalverwaltung sind Menschen sämtlicher dort lebender Bevölkerungsgruppen vertreten. Die verschiedensten Gesprächspartner_innen der Tal Abyad im Oktober 2015 besuchenden Delegation berichteten vom Aufatmen nach der Befreiung vom IS und einer sich dadurch entwickelnden menschenwürdigen Lebensperspektive.
Im Juni 2015 wurde die Stadt Tal Abyad durch Einheiten der YPG/YPJ und ihre Verbündeten Burkan al Firat vom Islamischen Staat befreit .
Vor der Befreiung hatte die Region für die Beziehungen zwischen dem IS und der Türkei eine wichtige Rolle gespielt. Der Grenzübergang zwischen Tal Abyad und Akçakale war ein zentraler logistischer Knotenpunkt im Netzwerk des IS und diente bis zum 16. Juni sowohl der Versorgung mit Waffen und Munition, dem Schmuggel und dem Handel auf die Schwarzmärkte der Türkei und der Welt, u.a. für Erdöl. Dies belegen eine Vielzahl dokumentierter Transporte und Grenzübertritte von Dschihadisten bei Akçakale nach Girê Sipî und Raqqa: Während einerseits Waffen unter Medikamentenladungen in der Region Hatay entdeckt worden waren, welche vom MIT an dschihadistische Kräfte transportiert wurden (Siehe unten Teil A, 2. Teil B III 5), fanden vor der Befreiung von Girê Sipî ähnliche Transporte, häufig unter humanitärem Deckmantel, auch über die Grenze bei Akçakale statt. Die dokumentierten Fälle stellten dabei allerdings höchstens die Spitze des Eisbergs dar. Wie die New York Times am 4. Mai 2015 feststellte, wurde eine große Menge Ammoniumnitrat über die Grenze bei Akçakale gebracht . Deklariert wurde die Lieferung als „Dünger“. Ammoniumnitrat ist allerdings auch in einen starken Sprengstoff umzuwandeln, der immer wieder vom IS und anderen Gruppen weltweit zu Anschlägen mit Autobomben benutzt wird, da der Dünger leicht erhältlich und in großen Mengen einsetzbar ist. Weiterhin wurde dokumentiert, dass der IS Waffen und Ausrüstung an Kobanê vorbei durch die Türkei transportiert. Durch die Befreiung wurde daher eine wichtige Versorgungslinie nicht Rakka gekappt. Gleichzeitig wurden die beiden Kantone verbunden.
3. Kobanê:
Im Jahr 2015 gab es intensive Angriffe des IS auf Kobanê. Sie hatten einen Großteil der Stadt bereits erobert, bevor sie von YPG/YPJ zurückgedrängt wurden. 75 Prozent der Gebäude in der Stadt sind zerstört, viele Menschen traumatisiert. Auch nach der Befreiung vom IS durch die YPG und YPJ haben die Djihadisten mehrere Selbstmordattentate und ein Massaker an der Zivilbevölkerung begangen. Am 25.06.15 drangen Kämpfer des IS ungehindert über die türkische Grenze in Kleidung der YPG in einen Stadtteil von Kobanê ein und ermordeten 265 Zivilist_innen in ihren Wohnungen, darunter etliche Kinder und Alte .
Mittlerweile ist der IS etwa 100 km weit aus der Stadt Kobanê vertrieben und die Situation in der Stadt stabil, obwohl es immer wieder zu Grenzverletzungen und Verletzungen und Erschießungen von ZivilistInnen durch türkisches Militär kommt. Schrittweise beginnt ein Wiederaufbau.
In Teilen der Stadt wurden Hausruinen und Schutt entfernt. 1.500 Wohnungen werden gebaut, immer mehr Flüchtlinge kehren in die Stadt zurück. Die Bevölkerung organisiert sich demokratisch in Kommunen und Stadtteilräten. Für die Wiederaufnahme der Landwirtschaft in der Provinz sind die vom IS hinterlassenen Minen ein Problem. Gleichzeitig wird dringend medizinische Hilfe benötigt. Ein in Kobanê von ehrenamtlichen Helfern aufgebautes Krankenhaus kann nicht weiter mit Geräten und Medizin ausgerüstet werden, weil selbst derartiges weder von türkischer Seite noch von der KRG nach Rojava gelassen wird .
4. Die Sichtweise der türkischen Regierung auf Rojava
Die Regierung Erdoğan sieht die Entwicklung des friedlichen Zusammenlebens und der Selbstverwaltung in Rojava offenbar als Gefahr für die Situation im eigenen Land. Im Rahmen einer Kooperation mit Saudi-Arabien und Katar wird der IS systematisch unterstützt und es wird versucht, die Stabilität in Rojava zu zerstören.
Immer wieder griff die türkische Armee, zum Teil auch gemeinsam mit dem IS, Städte in Rojava an. So wurden und werden die Städte Tal Abyad, die YPG nahe Dscharābulus, sowie der Kanton Afrin mehrfach von der türkischen Armee angegriffen .
Die YPG war auf dem Weg zwischen Kobanê und Afrin bis an den Euphrat kurz vor der Stadt Dscharābulus vorgedrungen, dem letzten offenen größeren Grenzübergang zur Türkei, der vom Islamischen Staat (IS) kontrolliert wird. So hatte der damalige Ministerpräsident Davutoğlu angekündigt, dass die Türkei einem weiteren Vordringen der YPG mit Angriffen auf syrischem Territorium begegnen werde und Tal Abyad nicht „unter der Herrschaft der PYD “ bleiben dürfe. Dies wurde dann auch mehrere Tage lang umgesetzt.
Auch im März 2016 kam es zu einem Angriff des IS auf Tal Abyad und die kleinen Dörfer ringsum. Die IS-Kämpfer kamen aus Rakka, Aleppo, Deir Essor und über die türkische Grenze. Ziel des IS war offenbar, Tal Abyad erneut unter Kontrolle zu bringen, um die Verbindung zwischen den selbstverwalteten Kantonen Cizîrê und Kobanê zu unterbrechen und Zugriff auf den strategisch wichtigen Grenzübergang zu haben. Die Volksverteidigungseinheiten der YPG und die Fraueneinheiten der YPJ verteidigten die Stadt gegen diesen Angriff.
Vor dem Angriff beschossen türkische Soldaten vier Tage lang mit schweren Waffen in hoher Intensität Stützpunkte der YPG/YPJ in Tal Abyad. Am Tag des Angriffs unterstützte die Armee den IS und Soldaten töteten Mitglieder von YPG und YPJ sowie der Polizeieinheiten Asayîş. Unzählige Augenzeugen sagten aus, dass die türkische Armee an den Kämpfen teilnahmen, IS-Kämpfer ungehindert über die Grenze ließen und ihnen Rückendeckung gab.
5. Waffenlieferungen und andere Unterstützung der türkischen Regierung an Islamisten
Dass die Türkei den IS und andere islamistische Gruppierungen in Syrien unterstützt, ist mittlerweile international bekannt und oft thematisiert. (Siehe hierzu auch bereits oben Teil A, 2. Teil, B III 2)
Für alle erkennbar wurde die Unterstützung am 01. Januar 2014. An diesem Tag war der Staatsanwalt der Republik Türkei, Aziz Takci, Dienstnummer 39852, gem. § 10 des Terrorbekämpfungsgesetzes als stellvertretender Oberstaatsanwalt der Republik Türkei der diensthabende Staatsanwalt. Aus einer Mitteilung der Gendarmeriekommandantur in Kirikhan ging hervor, dass in einer Zugmaschine nebst einem Sattelaufleger, dessen Kennzeichen mitgeteilt wurde, Waffen für die Militanten einer islamistischen Terrororganisation transportiert werden sollten. Daraufhin wurde durch den benannten Staatsanwalt ein Durchsuchungsbeschluss erlassen. Staatsanwalt Takci wurde sodann durch die örtlichen Sicherheitskräfte mitgeteilt, dass die Personen, die sich in den Fahrzeugen befanden, sich darauf beriefen, dass sie MIT-Angehörige seien, und die Sicherheitskräfte an der Durchsuchung hinderten. Staatsanwalt Takci informierte daraufhin den Staatsanwalt der Republik Türkei, Staatsanwalt Özcan Sisman, der für Hatay zuständig war, sich zum Ort des Geschehens zu begeben. Durch Staatsanwalt Sisman wurde Staatsanwalt Takci mitgeteilt, dass die verdächtigen Personen sich der Durchsuchung widersetzten mit dem Hinweis, sie seien MIT-Angehörige. Staatsanwalt Sisman sagte dem Staatsanwalt Takci weiterhin, dass er sich vor Ort befände und ihm mitgeteilt worden sei, dass das Innenministerium, der Generalstab, der Gouverneur von Hatay, Celalettin Lekesiz, und der Provinzkommandant der Gendarmerie in Hatay die Order gäben, den Durchsuchungsbeschluss zu verhindern und dass daraufhin die tätigen Gendarmerie- bzw. Polizeikräfte den Durchsuchungsort verließen.
Am 19.01.2014 war Staatsanwalt Takci erneut diensthabender Staatsanwalt. Durch die Provinzgendarmarie, Kommandantur in Adana, erfuhr er, dass erneut Lkws beladen mit Waffen für eine islamistische Terrororganisation nach Syrien unterwegs seien. Er erwirkte daraufhin erneut einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss. Aufgrund dieser Anordnung wurden die Lkws sodann durchsucht, wobei durch die eingesetzten Gendarmeriekräfte große Mengen an Kriegswaffen gefunden wurden. Die Durchsuchung wurde in ihrem Fortgang verhindert, indem durch die Insassen von Begleitfahrzeugen, die sich als Mitarbeiter des MIT ausgaben, eingegriffen wurde. Der Kommandant der Provinzgendarmerie teilte daraufhin Staatsanwalt Takci mit, durch den Gouverneur und andere offizielle staatliche Stellen werde Druck auf ihn ausgeübt, er werde deshalb die Durchsuchung nicht weiterführen können. Staatsanwalt Takci begab sich daraufhin persönlich zu dem Tatort und konnte aufgrund eigener Anschauung auf den Lkws Metallkisten mit großen Mengen an Artillerie- und Flugabwehrmunition feststellen. Während seiner Anwesenheit erschienen über 300 Spezialeinsatzkräfte der Polizei zusammen mit Hüseyin Avni Cos, dem Gouverneur von Adana, sowie der Provinzpolizeidirektor Cengiz Zeybekci. Der Gouverneur von Adana erklärte Staatsanwalt Takci gegenüber, diese Fahrzeuge würden dem MIT gehören, der Transport würde durch den MIT erfolgen, darüber wüssten der Innenminister und der Ministerpräsident Bescheid. Der Ministerpräsident habe ihm gesagt, die Fahrzeuge würden dem MIT gehören, sie hätten diese damit beauftragt und in Kürze würde man diesbezüglich ein Gesetz erlassen, man solle die Fahrzeuge sofort und ohne weitere Maßnahmen freigeben. In der Folge kam es nicht zu einer Untersuchung dieser Lieferung von Kriegswaffen an terroristische Kräfte, sondern zu Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die beteiligten Staatsanwälte sowie die beteiligten Gendarmerieoffiziere.
Staatsanwalt Takci gab bei einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung sinngemäß u.a.Folgendes an:

Er habe, als er die beiden LKWs besichtigste, in 4 separaten Metallkisten eine große Anzahl an Artillerie- und Flugabwehrmunition fest gestellt. Daraufin habe er die Gendarmerieeinheiten angewiesen, entsprechendes Probematerial zu entnehmen. Kurze Zeit später jedoch seien ca. 300-400 Spezialeinsatzkräfte der Polizei gemeinsam mit dem Gouverneur von Adana, Hüseyin Avni Cos und dem Provinzpolizeidirektor Cengiz Zeybekci am Tatort erschienen. Im Rahmen des Gesprächs habe der Gouverneur gesagt, diese Fahrzeuge würden dem MIT gehören, die Transporte für eben diesen, nämlich den MIT erfolgen. Der Innenminister und der Ministerpräsident wüssten darüber Bescheid. Der Ministerpräsident habe ihm gesagt, dass die Fahrzeuge würden dem MIT gehören, sie hätten diese damit beauftragt. Zudem solle auch alsbald diesbezüglich ein Gesetz erlassen werden, deshalb solle man die Fahrzeuge sofort ohne weitere Maßnahmen freigeben.
-Beweis: Vernehmungsprotokoll Staatsanwalt Takci vom 23.05.2014 – Anlage 1-
In einem am 28.03.2015 in Spiegel Online veröffentlichten Interview erklärte Staatsanwalt Takci, die Durchsuchungen der Lkws seien Anfang 2014 letztendlich dadurch verhindert worden, dass ihm erklärt wurde, der Premierminister persönlich – damals Recep Tayyip Erdogan – habe den Transport angeordnet, weshalb die Lastwagen ungehindert weiterfahren dürften. Gegen Staatsanwalt Takci erging am 05.05.2015 ein Haftbefehl mit dem Vorwurf „Versuch, die Regierung der Türkei mit Gewalt zu beseitigen bzw. sie teilweise oder vollständig an der Ausübung ihrer Aufgaben zu hindern“. Gegenüber der Zeitung „Radikal“ erklärte der Zeuge Takci am 06.05.2015:

„Das ist wie das Vorgehen von Banditen. Ebenso wie es keinen Zweck hat, einen Banditen zu fragen, warum er gesetzwidrig handelt und sich so verhält, hat es auch hier keinen Sinn, diese Frage zu stellen. Wir werden alle ihre Fragen beantworten. Nur eine Banditenstruktur macht solche Sachen.“ Er werde sich stellen. „Diejenigen, die sich auf diesen Weg gemacht haben, werden auch die Gerichte arrangiert haben. Normalerweise gibt es für diese Angelegenheit kein Ermittlungsverfahren, aber diejenigen, die das machen, werden auch dies in Kauf genommen haben. Eine Verbrecherorganisation beherrscht den Staat und macht dieses Prozedere.“
Gegen den am Tatort ebenfalls anwesenden und bereits benannten Staatsanwalt Sisman erging ebenfalls ein Haftbefehl durch das Gericht für schwere Strafsachen in Tarsus, der durch den „Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte“ beantragt worden war.
Die Tatvorwürfe gegen Staatsanwalt Sisman entsprechen denen, die gegen Staatsanwalt Takci erhoben wurden.
Staatsanwalt Sisman gab in einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung u.a. sinngemäß an:

Er habe gegen 21:30 Uhr den Tatort errreicht. Zu dem Zeitpunkt hätten sich breits alle Kräfte der Gendarmerieeinheiten vom Tatort entfernt gehabt. Vor Ort gewesen sei ein Durchsuchungsteam der Terrorbekämpfungsabteilung. Nach ca. 10 Minten hätten auch sie sich jedoch vom Tatort entfernt, nachdem ihnen mitgeteilt worden sei, dass sie auf Anweisung des Gouverneurs ihres Amtes enthoben worden seien. Da sich damit keine Sicherheitskräfte mehr vor Ort befunden hätten, habe er schließlich, nach entsprechender Mitteilung an den stellvertretenden Oberstaatsanwalt, auch den Tatort verlassen. Gemeinsam mit seinen Schutzeinheiten habe er am nächsten Tag ein entsprechendes Protokoll gefertigt. Zudem habe er dem stellvertretenden Oberstaatsanwalt mitgeteilt, dass er wegen dieser Vorkommnisse nicht mehr mit den Sicherheitskräften in Hatay zusammenarbeiten wolle und auch dieses Ermittlungsverfahren nicht weiter bearbeiten wolle. Da sein Zuständigkeitsbereich geändert wurde, wisse er nicht, was dem Verfahren geworden sei.
Er gab weiter an, weder die Sicherheitskräfte noch jemand anders habe ihnen vor dem Vorfall mitgeteilt, dass die Fahrzeuge dem MIT gehören. Es habe auch keine Mitteilung oder gar schriftliche Information darüber gegeben, um was für eine Ladung des sich gehandelt habe. Schließlich hätten sich auch die Personen, die sich im Umfeld der LKWs aufgehalten und als MIT-Angehörige ausgegeben haben, weder ihm noch den Sicherheitskräften gegenüber ausgewiesen. Seine Bestrebungen, seinen gesetzlichen Pflichten nachzukommen und Beweise zu sichern, seien durch Sicherheitskräfte, die keine Legitimation hatten, unterbunden worden und das Ermittlungsverfahren damit sabotiert worden.
-Beweis: Vernehmungsprotokoll der Vernehmung von Staatsanwalt Sisman vom 17.04.2014, Anlage 2-
Durch die Regierung der Republik Türkei – persönlich engagiert durch Herrn Erdogan – wurde gegen alle diejenigen vorgegangen, die die Unterstützung des türkischen Staates für die islamistische Terrororganisation haben offenkundig werden lassen. So wurden im Rahmen der Ermittlungen gegen die beiden zuvor benannten Staatsanwälte bis zum Sommer 2015 bereits gegen 47 Gendarmerieangehörige und Staatsanwälte unter dem Vorwurf „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, Versuch der Beseitigung der türkischen Regierung, Hinderung an der Ausübung des Amtes“ Ermittlungen durchgeführt und Haftbefehle erlassen.
Nach der Veröffentlichung des Vorfalls und eines Geheimdokuments ließ die AKP-Regierung sämtliche Internetseiten blockieren, die darüber berichten. Verhaftet wurden am 26.11.2015 auch der Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, und sein Kollege Erdem Gül, weil sie im Sommer Fotos veröffentlicht hatten, die eine Waffenlieferung für islamistische Gruppen in Syrien aus der Türkei Anfang 2014 belegten. Den beiden Journalisten wurde Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Spionage vorgeworfen. Am 06. Mai 2016 wurde Can Dündar deswegen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahre und 10 Monaten, Erdem Gül zu 5 Jahren verurteilt. Kurz vor der Urteilsverkündung in einer Gerichtspause war auf Can Dündar ein Attentat verübt worden, er wurde nicht verletzt.
Trotz der massiven Einschränkung der Pressefreiheit gab es immer wieder Veröffentlichung auch zu den Verbindungen zwischen der türkischen Regierung und dem IS, aus dem sich weitere Anzeichen für die Verbindungen zwischen der türkischen Regierung und dem IS ergeben:
So schrieb der bekannte Journalist und Autor Cengiz Candar in der Zeitung „Radikal“ am 09.08.2014

„WO STEHT DIE TÜRKEI IN SACHEN „ISLAMISCHER STAAT“?
Der IS (ehemals ISIS), der gerade dabei ist, das unter Ihrer Kontrolle stehende Gebiet zu vergrößern, herrscht aktuell über eine Region, die größer als England ist. Das Gespann Erdogan-Davutoglu hat regelrecht „Geburtshilfe“ für den „Islamischen Staat“ an der gesamten Südgrenze zu unserem Land geleistet. Dies sollte verhindern, dass „kein zweites autonomes Kurdistan entsteht und um etwaige Forderungen der Kurden in der Türkei abzuwenden“.
Nur Saudi-Arablen? Was ist mit der Türkei?
Außenminister Ahmet Davutoglu sagte vor einigen Tagen verärgert auf dem Sender NTV: „Wer sagt, die IS würde von der Türkei unterstützt, ist ein Verräter. Der größte Verrat ist es, die Türkei gemeinsam mit dieser Organisation zu nennen. Dies ist unfassbar. Ich bin aufgerührt.“
Nur weil er es so nennt, werden diejenigen, die sagen „IS werde von der Türkei unterstützt“ jedoch nicht zu „Verrätern“. Weil er dies behauptet, verlieren die Verbindungen zwischen Türkei und IS nicht an Realität.
Denn dass die ISIS (heutige IS) „Unterstützung von der Türkei erhält, haben vor allem diejenigen, die gegen diese Gruppen schon lange Kämpfen, wie der Vorsitzende der PYD Salih Müslim in Syrien, aber auch Dutzende von Augenzeugen in Ceylanpinar und zuletzt auch Persönlichkeiten wie Ahmet Türk in der Türkei geäußert.
Ahmet Türk hob hervor, dass „die Türkei eine wichtige Rolle darin hatte, die Organisation zu vergrößern“ und dass „Militante von ISIS ungestört und bewaffnet in Ceylanpinar, Kilis und Akcakale herumlaufen“.
Patrick Cockburn geht weiter und schreibt in seinem oben erwähnten Artikel „ISIS Consolidates“ [in: London Review of Books, 21.08.2014], dass „Saudi-Arabien, die Golfmonarchien und die Türkei die Ziehvähter der ISIS und anderer sunnitischer dschihadistischer Bewegungen im Irak und in Syrien seien. Dies bedeute nicht, dass die Dschihadisten keine starken lokalen Wurzeln haben, aber ihr Aufstieg an sich sei von äußeren sunnitischen Kräften unterstützt worden. Cockburn schreibt, dass die saudische und katarische Hilfe mehr in privaten Spenden bestanden hätte, und führt weiter aus:
Die Rolle der Türkei war anders, aber nicht weniger wichtig als die Hilfe Saudi-Arabiens an ISIS und anderer dschihadistischer Gruppen. Ihre wichtigste Handlung war das Offenhalten der 510 Meilen langen Grenze zu Syrien. Die irakische Sicherheit vermutet eine große Unterstützung der 2011 neu aufgebauten ISIS durch den militärischen Geheimdienst der Türkei. Auch wenn ISIS an der türkischen Grenze nun nicht mehr so wohl gelitten sein mag, so ist ISIS durch die vom irakischen Militär eingenommenen Waffen und die beschlagnahmten syrischen Öl- und Gasvorkommen nicht mehr so stark auf äußere Hilfe angewiesen.
Dessen ungeachtet spricht Davutoglu bei dem Thema ISIS nicht wie ein Außenminister, sondern wie ein analysierender Akademiker. Diese Worte gehören ihm:
„Das Gebilde ISIS kann den Anschein eines radikalen, terroristischen Gebildes haben. Es gibt Türken, Araber und Kurden, die sich Ihnen angeschlossen haben. Dieses Gebilde wurde als Reaktion der Empörung auf den vorhergehenden Missmut geboren. Wären im Irak die sunnitischen Araber nicht ausgegrenzt worden, fände heute in Provinzen wie Mossul und Anbar keine Empörung statt. Wäre in Syrien die Führung nicht in der Hand von Vertretern von 12 % der Bevölkerung, wären diese Dinge nicht geschehen. Es gibt eine Gruppe von Menschen, die sich aus Empörung zusammengetan haben.“
Es gibt Leute, die diese Worte mit der „Legitimierung der ISIS“ kommentieren. Sie haben damit nicht Unrecht. Weil in diesen Worten keine „politische Stellungnahme“ enthalten ist, kein bisschen. Das Duo Tayyip Erdogan – Ahmet Davutoglu hat regelrechte „Geburtshilfe“ bei der Geburt des „Islamischen Staates“ entlang der Südgrenze zu unseren Land geleistet. Damit nicht vor den Augen der Türkei „ein zweites autonomes Kurdistan entsteht und um etwaige Forderungen der Kurden in der Türkei abzuwenden.“
In der Zeitung „Taraf“ heißt es am 09.09.2014 :

„Es hat sich herausgestellt, dass die Terrororganisation IS, welche die Welt in Angst und Schrecken versetzt, im Besitze von Waffenausrüstung ist, welche die Stempelung der ‚Maschinen- und Chemie-Industrie‘ trägt. Bei bewaffneten Kämpfen zwischen IS-Anhängern und den Peschmerga-Kräften sowie den US-Einheiten in Erbil wurde dieser Umstand bekannt. Die bei den toten IS-Kämpfern gefundenen Waffen wurden von US-Experten geprüft. Die Tatsache, dass diese erlangten Waffen den Stempel „MKE“ tragen, führte bei den US-Experten zur großen Verwunderung. Aufgrund dieser Feststellungen wurden nun Ermittlungen eingeleitet, um in Erfahrung zu bringen, wie die Waffen in den Besitz der IS-Militanten gelangt sind. In Ankara heißt es, dass die USA eine Zusatzakte zur Ermittlung dieser Situation angelegt habe.
Der Umstand, dass man bei den IS-Militanten Waffen, die von der MKE produziert worden sind, gefunden hat, führt dazu, dass die Türkei in Bedrängnis gerät, zumal sie zuvor von den USA gewarnt wurde und man ihr mitgeteilt hatte, sie solle sich an die Linie der USA und der NATO halten.
Den verlässlichen Quellen unserer Zeitung zufolge wurden die Waffen, die bei den in Erbil bei Kämpfen getöteten IS-Militanten erlangt wurden, einzeln überprüft.
Die Überprüfungen haben ergeben, dass die Waffen die Prägung der Maschinen- und Chemieindustrie tragen (MKE). Dieser Umstand veranlasste die US-Experten zu weiteren Ermittlungen.
Während die US-Sicherheitsbehörden mit der Ermittlung in dieser Angelegenheit beschäftigt waren, stellte sich ein weiterer erstaunlicher Umstand heraus. Die Organisation IS, die sich durch US-Luftangriffe in die Ecke gedrängt fühlt, ist dazu übergegangen, Terrorangriffe zu verüben. Unter anderem in Erbil wurden durch IS-Angehörige mehrere Sprengstoffanschläge verübt. Die IS hat sich auch zu diesen Anschlägen bekannt. Die US-Sicherheitsbehörden haben auch die bei den Attentaten eingesetzten Sprengstoffe überprüft und festgestellt, dass auch dieses Kriegszubehör die Prägung MKE trägt. Auch das Waffenzubehör, das sich bei den IS-Militanten, die bei diesen Anschlägen gestorben sind, befand, trug die Prägung MKE.
Wie dieses Kriegszubehör der Organisation IS in die Hände gelangt ist, weiß niemand. Die Zuständigen sind der Meinung, dass dieses Kriegszubehör im Rahmen von „Waffenschmuggel“ oder „Diebstahl“ erlangt worden sein muss. Derzeit wird überprüft, ob es sich bei dieser Waffenausrüstung um das Kriegszubehör handelt, welches von der Türkei den syrischen Oppositionsgruppen überlassen wurde.
Die USA hat zur Herkunft dieser im Nordirak bei den IS-Militanten festgestellten Waffen eine Zusatzakte angelegt. Bereits vor einen Jahr hatte die USA eine Akte angelegt, deren Inhalt die Unterstützung der IS ist. Diese Akte war auch Inhalt der Gespräche bei dem Besuch des Recep Tayyip Erdogan im Mai 2013 in den USA. Bei dem Staatsbesuch im Weißen Haus wurde ausgiebig über die Inhalte gesprochen. Es heißt, dass diese Zusatzakte auch der Türkei zugänglich gemacht werden wird.“
Canan Coşkun berichtet in der vom 27.04.2016 zudem von einer weiteren Waffenlieferung an den IS im September 2015. Es heißt in dem Artikel, dem ein Foto, das die aus dem Lastwagen geräumten Säcke mit Zwiebeln und die auf der Ladefläche befindlichen Waffenkisten zeigt, beigefügt ist, wie folgt:

„Hier sind die Waffen, die unter Zwiebeln versteckt an den IS gegangen sind.
Der Fahrer des LKWs, Yalcin Kaya, der den LKW mit den Waffen, die unter den Zwiebeln versteckt waren, gefahren ist, sagte in seiner Aussage, man habe ihm gesagt: „Hinter uns steht die Republik Türkei“. Kaya berichtete, dass die vier Verdächtigen beim Verladen des Materials in Kilis gesagt hätten, dass Sattelschlepper zu viel Aufsehen erregen würden und deshalb kleinere Fahrzeuge besser wären.
Nach den Details zu den MIT-LKWs sind jetzt auch die Einzelheiten zu den Waffen, die letztes Jahr im September an die IS gegangen sind, bekannt geworden. Die Waffen waren mit Zwiebeln verdeckt.
Der Fahrer des LKWs, Yalcin Kaya, sagte in seiner polizeilichen Vernehmung, dass die Organisatoren des Transportes gesagt hätten, der Staat stehe hinter ihnen, dass man keine Angst haben müsse, und dass das Zubehör an die Märtyrer geschickt werden würde. Kaya sagte weiterhin, dass die Organisatoren sich als Angehörige des Nachrichtendienstes vorgestellt hätten und er sich deshalb auf die Sache eingelassen habe.
Zu den Detonationszündern, die von der IS für Bomben verwendet werden und letztes Jahr in einem LKW unter Zwiebeln versteckt entdeckt wurden, gibt es neue Erkenntnisse.
Der Fahrer des LKWs berichtete, dass die Einzelheiten zu dem Transport in einem Landhaus in Isparta besprochen wurden. Auf seine Frage hin, um was es sich bei der Ware handle, habe man ihm gesagt: „Wir verpacken das Material. Du bringst dieses Material nach Sanliurfa und von dort geht das Material an die IS. Hinter uns steht die Republik Türkei, es gibt nichts wovor man Angst haben muss. Wir schicken diese Materialien für unsere Märtyer.“ Er habe den Verdächtigen, Bülent, nach der Rechnung und der Genehmigung der Ladung gefragt. Der habe ihm gesagt, dass Mesut die Genehmigung von der Gendarmeriewache in Evciler geholt habe. Kaya berichtete, dass der LKW von Begleitfahrzeugen eskortiert worden sei und er deshalb davon ausgegangen sei, dass das Fahrzeug im Rahmen der Verkehrskontrollen nicht angehalten worden ist, weil man im Auftrag des Staates handle.
Sie kommen von Ankara
Er habe sich auf die Sache eingelassen, weil man ihm gesagt habe, „der Staat steht hinter uns, es wird für unsere Märtyrer gemacht“. Der Fahrer hat weiterhin berichtet, dass die Person, die sich als Bülent vorgestellt habe, ihn angerufen und ihm gesagt habe, er solle zu einer Tankstelle kommen, die auf der Strecke Dinar-Denizli liegt. Er habe sich an diese Tankstelle begeben und dort wäre ein weiterer mit Zwiebeln beladener LKW gekommen. Anschließend habe man dann die Zwiebeln umverladen. Danach sei er mit Bülent in ein Lager in Evciler gefahren und dort wären dann 270 Kisten verladen worden. Im Anschluss daran sei man wieder zu der Tankstelle gefahren. Dort seien dann zwei Personen mit einem schwarzen Volvo, an dessen Kennzeichen er sich nicht erinnere, erschienen. Die Personen, mit den Namen Mehmet und Gökhan hätten dann gesagt: „Es kommt ein Fahrzeug, dass Euch bis nach Sanliurfa eskortiert. Wenn das Fahrzeug da ist, könnt ihr losfahren.“
Kaya sagte weiterhin, dass sie am 08. September 2015 gg. 04:00 in Begleitung des Fahrzeugs von Gökhan und Dogan losgefahren sind.
Kaya erzählte, er habe während des Verladens mitgehört, dass die Personen Nuri, Gökhan, Mehmet, Bülent, Gökhan und Dogan gesagt hätten, dass LKWs die von Kilis los sind und an die IS sollten, Aufmerksamkeit erregt hätten und erwischt worden seien und es deshalb besser wäre, wenn man die Ladung dieses Mal mit kleineren Fahrzeugen der IS bringt.
Einen Tag danach, am 10. September 2015, wurde in der regierungsnahen regionalen Zeitung „Akit“ die Behauptung aufgestellt, dass die 5,5 Tonnen Plastiksprengstoff, die in Sanliurfa beschlagnahmt wurden, für das von der PYD kontrollierte Tel Abyad gedacht waren.“
Die Süddeutsche Zeitung meldete am 13.01.2016 unter der Überschrift „Verhältnis voller Widersprüche: Die Türkei und der IS“, der türkischen Regierung werde

„immer wieder vorgeworfen, die Extremisten des IS zu tolerieren oder sogar zu unterstützen – in der Hoffnung, sie würden zum Sturz des syrischen Regimes beitragen. Spätestens seit dem Vormarsch des IS auf die syrische Grenzstadt Kobane im Herbst 2014 sah sich die türkische Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, ihr eigentlicher Feind seien nicht die Dschihadisten, sondern die mit der PKK verbündeten Milizen, die in Nordsyrien gegen die IS-Extremisten kämpfen. Für Spannungen sorgte auch die Weigerung der Türkei, den USA die NATO-Luftwaffenbasis Incirlik für Angriffe gegen den IS in Syrien und dem Nordirak zu erlauben.“
Der Nahostexperte Prof. Günter Meyer erklärte im Interview (Südwestpresse 26.02.2016):

„Erdogan hat den IS bis vor kurzem massiv durch den ungehinderten Transit von Waffen, Geld und IS-Sympathisanten unterstützt, um die YPG zu schwächen.“
Der Türkeijournalist der Zeitschrift Spiegel, Hasnain Kazim, der im März 2016 die Türkei verlassen musste, da ihm der Presseausweis nicht verlängert wurde, veröffentlichte auf Spiegel Online vom 13.06.2014 einen Artikel mit der Überschrift „Ankaras gefährlicher Partner“

„Dabei hat die Türkei die Islamisten von ISIS seit Jahren unterstützt. Sie sollten helfen, den syrischen Machthaber Assad zu stürzen. Kämpfer konnten ungehindert die Grenze zur Türkei überqueren, möglicherweise hat man sie dort gar mit Waffen ausgerüstet und ihre Verletzten behandelt. Die Oppositionspartei CHP verbreitete zuletzt ein Foto von einem in Syrien bei Gefechten verletzten ISIS-Kommandeur. Es zeigt ihn angeblich in einem Krankenhaus im südosttürkischen Hatay. Dort soll er am 16.04. kostenlos behandelt worden sein, sagte der CHP-Parlamentarier Muharrem Ince. Zudem, kritisierte die Opposition, hätten Dschihadisten in Gästehäusern des Amtes für religiöse Angelegenheiten in der Türkei gewohnt.“

Im „Spiegel“ 43/2014 wird ausgeführt:
„Man muss von Suruc nur 60 Kilometer gen Osten fahren, nach Akcakale, zum nächsten Grenzübergang. Der ist geöffnet, und hier lassen sich irritierende Szenen des Einvernehmens zwischen dem türkischen Staat und den Dschihadisten erleben. Auf der syrischen Seite weht die schwarze Flagge des „Islamischen Staates“. Seit fast einem Jahr kontrolliert IS die Nachbarstadt Tall Abjad, hat alle Gegner ermordet oder vertrieben. Vor zwei Jahren gab es in Tall Abjad einen funktionierenden Stadtrat der Opposition und mehrere Rebellengruppen. Jetzt gibt es eine Diktatur, die mit Spitzeln und Willkür die verbleibende Bevölkerung in Schach hält. Doch mit diesem Nachbarn, der von der Weltgemeinschaft zum derzeit größten Feind erklärt worden ist, hat das NATO-Land Türkei offenbar weniger Probleme als mit den Kurden. Das Grenztor der schläfrigen Kleinstadt öffnet morgens gegen 09.00 Uhr, Syrer dürfen rein und raus, sagt der türkische Uniformierte im Wächterhäuschen. … Nach einer halben Stunde kommt ein Lieferwagen, lädt stapelweise medizinisches Notfallmaterial aus, Mullbinden, Einweghandschuhe und Unterlagen für Operationen, faltbare Rollstühle. All das, was die bedrängten Kurden von den türkischen Behörden für Kobane fordern, eine Öffnung der Grenze, das Passierenlassen medizinischer Hilfe: hier ist es kein Problem.“
Die Tageszeitung „Die Welt“ berichtete am 13.01.2016 unter der Überschrift „Wichtiger als der Terror ist für Erdogan die PKK“:

„Tatsächlich ist die türkische Luftwaffe seither kaum gegen die Terrormiliz IS vorgegangen, flog aber so heftige Luftangriffe auf PKK-Stellungen wie nie zuvor im seit 1984 währenden Konflikt. Die türkische Regierung versucht zugleich davon abzulenken, dass sie lange Zeit alle dschihadistischen Gruppen in Syrien inklusive des IS unterstützt hat, die ihr als Hilfstruppen gegen die Kurden willkommen waren. … Die verbotene Kurdenpartei PKK verhaftet IS-Kämpfer auf dem Staatsgebiet der Türkei. Seltsam klang es, was in türkischen Medien zu lesen war – kurdische PKK-Rebellen hätten 13 mutmaßliche Kämpfer des Islamischen Staates (IS) festgenommen. Die Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei verboten ist, hätten 25.000 $ bei den Verdächtigen gefunden, die teilweise aus Syrien stammten, zu einem großen Teil aber aus der Türkei. Der Vorgang ereignete sich in der südöstlichsten Provinz der Türkei, in Hakkari, wo Festnahmen eigentlich Sache der türkischen Polizei zu sein hätten. Und wenn die Polizei in Hakkari festnimmt, dann sind dies meist Menschen, die im Verdacht stehen, irgendetwas mit der PKK zu tun zu haben. Der Vorgang zeigte: die offiziell als ‚Terrorgruppe‘ eingestufte PKK übernimmt im Interesse der Allgemeinheit Aufgaben, die die türkische Polizei offenbar unfähig oder unwillens ist zu erfüllen.“
In diesem Kontext stehen auch folgende Meldungen:
Im deutsch-türkischen Journal vom 15.08.2014 heißt es.

„Türkei: Nicht die türkische Regierung, sondern die PKK nimmt IS-Terroristen fest.
Eine zu der PKK gehörende Gruppierung hat in der Türkei 13 mutmaßliche Angehörige der Terrorgruppe IS festgenommen. … Die 13 Männer wurden jedoch nicht von türkischen Sicherheitskräften, sondern von einer in der Türkei agierenden PKK-nahen Organisation festgenommen. … Es ist nicht das erste Mal, dass die Terrorgruppe IS ihre Kämpfer in die Türkei schleust.“
Die Washington Post vom 12.08.2014 berichtete, dass der türkische Staat den „Roten Teppich“ für den IS ausgerollt habe und die Kämpfer des IS die türkische Grenzstadt Reyhanli als ihre „Shopping Mall“ betrachtet haben. Weiterhin wird in dem Artikel der Washington Post über die Behandlung von verletzten Kämpfern des IS in türkischen Krankenhäusern berichtet und dem freien Grenzübertritt von Kämpfern des IS und deren Waffen.
Die britische Zeitung Daily Mail berichtete am 25.08.2014 über den Reiseweg britischer und europäischer Kämpfer des IS über die Türkei nach Syrien. Im Artikel wurde berichtet, dass die Kämpfer die türkische Grenze als „gateway to Jihad“ benennen.
CNN Turk berichtete am 29.07.2014, dass in Istanbul Orte wie Duzce und Adapazari Treffpunkte und Trainingszentren von ISIS-Militanten seien.
Die türkische Zeitung Taraf berichtete am 12.10.2014, dass Dengir Mir Mehmet Firat, ein Gründer der AKP, erklärte, die Türkei unterstütze terroristische Gruppen und behandle deren Verletzte in türkischen Krankenhäusern; „mit dem Ziel, die Entwicklung in Rojava zu schwächen, hat die Regierung Waffen an extreme religiöse Gruppen gegeben und die Regierung hat Verwundeten geholfen. Der Gesundheitsminister erklärte, es sei eine menschliche Verpflichtung, Verletzte ISIS-Kämpfer zu versorgen.“ In demselben Artikel wird sodann berichtet, dass Ahmet el H., einer führenden Kommandeure der ISIS, in dem Krankenhaus in Sanliurfa mit anderen ISIS-Militanten versorgt wurde. Der türkische Staat bezahle deren Behandlung. Entsprechende Krankenhausbehandlungen von ISIS-Militanten erfolgten in verschiedenen Krankenhäusern in der Türkei. Im Artikel werden dann namentlich mehrere ISIS-Militante benannt.

C. Situation in der Türkei Mitte 2015 bis heute
Wie bereits oben (Teil A, 2. Teil, A) dargestellt, erfolgte nach der Aussage von Erdoğan; „ich erkenne die Vereinbarung von Dolmabahce nicht an“ sowie dem Überschreiten der 10 %-Hürde durch die HDP bei der Wahl am 07. Juni 2015 eine immer weitere Eskalation des Krieges.
Dieser Krieg wurde und wird seitens Regierung und Armee zunehmend mit Massakern an der kurdischen Bevölkerung geführt, die sich auch im Rahmen die hier angezeigten Taten wiederfinden.
Viele Menschenrechtsorganisationen und große Teile der Bevölkerung aus dem Südosten der Türkei bewerten diese Vorgehen als noch massiver als das unten (Siehe.Teil D, 4. Teil) näher dargestellte Vorgehen in den 1990er Jahren.
Die Opposition wie auch parteiinterne Gegner_innen werden dabei systematisch und rücksichtslos ausgeschaltet (u.a. Fetullah Gülen und Ahmet Davutoğlu).
Die Eskalation begann jedoch bereits vor den Wahlen am 07. Juni 2015, hinsichtlich derer Recep Tayip Erdoğan bereits das Ziel hatte, über die Änderung der Verfassung ein Präsidialsystem einzuführen, wofür die AKP 330 Sitzte im Parlament benötigt hätte.
So kamen bei Bombenangriffen auf die HDP-Zentralen in Adana und Mersin am 25. Mai 2015 nur durch Zufall keine Menschen ums Leben. In beiden Städten befanden sich zum Zeitpunkt der Explosionen Menschen in den Gebäuden .
Zwei Tage vor den Wahlen explodierten am 05. Juni 2015 bei einer Kundgebung der HDP in Diyarbakir zwei Bomben. Dabei kamen vier Menschen ums Leben, 416 Menschen wurden verletzt . Augenzeugen berichten, dass es kurz nach den Explosionen zu Übergriffen mit Wasserwerfern und Gasgranaten durch die Sicherheitskräfte auf die Anwesenden kam. Auch Krankenwagen wurden nicht zum Ort des Geschehens durchgelassen . Nur durch das sofortige und weitsichtige Handeln der Anwesenden konnte eine Massenpanik und ein größeres Ausmaß des Massakers verhindert werden. Es stellte sich im Nachhinein heraus, dass die Person, welche für die Bombenexplosionen verantwortlich ist, Mitglied des IS ist und einen Tag vor dem Anschlag kurzzeitig bei einer Routinekontrolle der Polizei festgenommen wurde. Obwohl er auf einer Fahndungsliste der Polizei stand, wurde er noch am selben Tag auf freien Fuß gesetzt .
Nach der Wahl am 07. Juni 2015 verlor die AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament. Danach verließ die AKP, die so lange an dem Friedensprozess festgehalten hatte, wie sie glaubte, ihn für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren zu können, z.B. um bei den Wahlen ihre Stimmanteile bei der kurdischen Bevölkerung zu erhöhen, den Verhandlungstisch endgültig und setzt seitdem auf einen Gewalt- und Eskalationskurs.
Offiziell versuchte die AKP nach den Wahlen zwar, eine Koalition zu bilden. Es wurde jedoch von Anfang an deutlich, dass die Regierung Erdoğan auf eine Neuwahl abzielte und die Lage im Land destabilisierte, um eine größere Mehrheit zu bekommen.
Seither ist die Situation in der Türkei geprägt von Selbstmordanschlägen des IS, der Erzeugung einer Pogromstimmung gegen Kurd_innen, die HDP und andere Oppositionelle, sowie einer Vernichtungspolitik gegenüber Kurd_innen im Südosten der Türkei mit hunderten ziviler Toten (Siehe hierzu detalliert unten Teil B), der faktischen Abschaffung jeder Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Ausschaltung jeglicher politischer Opposition.
Das wahrscheinlich größte Massaker an Zivilist_innen durch einen Selbstmordanschlag des IS ereignete sich am 25. Juni 2015, als der IS sowohl über Dscharābulus als auch über die Türkei nach Kobanê durchdrang und wahllos Zivilist_innen ermordete (Siehe hierzu oben Teil A, 2. Teil, B III 3). Auch wenn es nicht offiziell bestätigt ist, ist wegen der Art und Weise, wie das Massaker erfolgte, davon auszugehen, dass dies ohne den Grenzübertritt des IS über die Türkei in dieser Form nicht hätte vonstattengehen können.
Der nächste Bombenanschlag ereignete sich am 20. Juli 2015 in Suruç. An jenem Tag wollten rund 300 sozialistische Jugendliche die Grenze nach Kobanê überqueren, dort den Kindern Spielzeuge bringen, einen Spielplatz und eine Bücherei errichten. Allerdings wurden sie noch vor Überquerung der Grenze durch einen Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Bei dem Angriff kamen 34 Jugendliche ums Leben . Obwohl die Stadt Suruç sich praktisch täglich unter einem Belagerungszustand der verschiedenen Sicherheitskräfte befindet, wurden an diesem Tag keinerlei Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen. Der Attentäter von Suruç war, wie sich später herausgestellt hat, auf derselben Fahndungsliste wie der Attentäter von Diyarbakir und stammte aus seinem Freundeskreis.
Nachdem die AKP-Regierung die HDP zur offenen Zielscheibe machte, griffen die an sie gebundenen paramilitärischen Gruppen der „Osmanischen Vereine“ vom 06. bis zum 08. September 2015 die HDP an und erzeugten eine Pogromstimmung gegen die Kurden im Land. In diesen drei Tagen wurden mehr als 100 Einrichtungen der HDP angegriffen, zerstört und zum Teil in Brand gesetzt .
Der jüngste Anschlag dieser Serie von Massakern ereignete sich am 10. Oktober 2015 in Ankara, wo vier große zivile Organisationen und Gewerkschaften zu einem Friedensmarsch aufgerufen hatten. Zwei Selbstmordattentäter sprengten sich im vordersten Block einer rund 100.000 Menschen zählenden Demonstration in die Luft. Erneut unternahmen die Sicherheitskräfte keinerlei Sicherheitsvorkehrungen vor der Demonstration. Erneut wurde, wie beim Anschlag in Diyarbakir, die Menge direkt nach dem Anschlag durch Sicherheitskräfte mit Gasgranaten und Wasserwerfern angegriffen. Einer der zwei Attentäter war der größere Bruder des Attentäters von Suruç und auch dieser wurde angeblich von der Polizei gesucht. Die Journalistin Ezgi Başaran hatte den späteren Attentäter von Ankara bereits nach dem Anschlag von Suruç in ihrer Kolumne namentlich benannt und davor gewarnt, dass dieser womöglich einen weiteren Anschlag plane. Laut letzten Angaben sind bei diesem Anschlag 106 Menschen ums Leben gekommen .
Zeitgleich wurden Zivilist_innen im Westen der Türkei, die äußerlich wie Kurd_innen aussahen, immer wieder auf offener Straße angegriffen. So wurde der 21-jährige Kurde Serdar Akbaş, während er mit seinen Familienangehörigen an einer Bushaltestelle am Telefon kurdisch sprach, erstochen. Die Angreifer teilten anschließend über das Telefon des Jungen seiner Familie mit, dass sie diesen getötet hätten und die Familie den Leichnam abholen solle. Faschistische Gruppen stoppten Reisebusse, die sich auf dem Weg in kurdische Städten befanden, kontrollierten die Busse der Insassen, verprügelten Kurd_innen in den Bussen und setzten zum Teil Busse in Brand. Aufgrund dieser Vorfälle wurden zeitweise Busreisen in kurdische Städte ausgesetzt. Vor allem in der Schwarzmeerregion und in Zentralanatolien kam es gegenüber kurdischen Saisonarbeitern zu Lynchattacken. In Muğla wurde Ibrahim Cay, der auf Facebook ein Foto von sich selbst mit traditioneller kurdischer Kleidung geteilt hatte, zunächst von der Polizei angerufen und aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Anschließend stürmte eine Gruppe von Faschisten seine Wohnung, verprügelte ihn und trieb ihn in das Zentrum des Stadtteils. Dort wurde er gezwungen, eine Statue von Atatürk zu küssen. Das grausame Schauspiel wurde fotografiert und über die sozialen Medien gestreut. Als der verletzte Cay anschließend ein Krankenhaus aufsuchte, wurde er dort nicht behandelt, sondern von den Ärzt_innen und Pfleger_innen beleidigt und beschimpft. Danach wurde er zur Polizeiwache gebracht, wo ihm die Polizei lediglich mitteilte, dass sie ihn vor möglichen weiteren Angriffen nicht schützen könnten. Anschließend beschloss Cay, mit seiner Familie den bisherigen Wohnort zu verlassen.
Seit August 2015 kam es in zahlreichen kurdischen Städten im Südosten der Türkei zu Angriffen durch die türkischen Polizei und das Militär, die alle nach demselben Muster verliefen. Zunächst wurde eine Ausgangssperre verhängt, anschließend wurden die Elektrizität, das Internet und das Wasser in den betroffenen Stadtteilen abgestellt. Daraufhin kam es zu Raketen- und Bombenangriffen auf die Stadtteile. Gepanzerte Fahrzeuge rasten durch die Straßen und beschossen und bombardierten die Bezirke. Scharfschützen, die auf den höheren Häusern postiert waren, schossen auf alles und jeden, der sich bewegt (Siehe hierzu unten Teil B, 1. Teil).
Zur Beschreibung der allgemeinen menschenrechtlichen Situation in der Zeit seit Mitte 2015 sowie den Zustand des türkischen Justizsystems sollen hier zunächst ausschnittsweise der Jahresbericht für 2015 von Amnesty sowie eine Pressemitteilung des Menschenrechtskommissars des Europarates vom 14.04.2016 wiedergegeben werden.

Im Jahresbericht von Amnesty-International für das Jahr 2015 heißt es u.a.

„Nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 und dem erneuten Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und den türkischen Streitkräften im Juli verschlechterte sich die Menschenrechtssituation zunehmend. Die Medien waren 2015 beispiellosen Repressalien ausgesetzt, und die Meinungsfreiheit wurde erheblich eingeschränkt, auch im Internet. Die Behörden verletzten nach wie vor das Recht auf Versammlungsfreiheit. Fälle von exzessiver Polizeigewalt und von Misshandlungen in Gewahrsam häuften sich. Die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen wurden nur selten zur Rechenschaft gezogen. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde weiter untergraben. Bei Selbstmordanschlägen, die der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) zugeschrieben wurden und die sich gegen linke und pro-kurdische Aktivisten und Demonstrierende richteten, wurden 139 Menschen getötet (…). Die politisch motivierte Ernennung und Versetzung zahlreicher Richter und Staatsanwälte wurde das gesamte Jahr 2015 über fortgesetzt und führte zu einer weiteren Schwächung des Justizwesens, das ohnehin gravierende Defizite in Bezug auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufwies. Die erstinstanzlichen, für Bagatelldelikte zuständigen Friedensgerichte, in deren Aufgabenbereich strafrechtliche Ermittlungen fallen, die Untersuchungshaft oder die Beschlagnahme von Eigentum anordnen können und über die Anfechtung solcher Anordnungen entscheiden, gerieten zunehmend unter die Kontrolle der Regierung(…).
Nach tödlichen PKK-Anschlägen im September 2015 folgte eine Welle von Gewalttaten nationalistischer Türken, die sich vor allem gegen Kurden, deren Eigentum sowie gegen die Büros der linken, pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) richteten. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden dabei zwei Zivilpersonen getötet und 51 verletzt sowie 69 Parteigebäude und 30 Wohn- und Geschäftshäuser angegriffen. Die HDP sprach von mehr als 400 Angriffen, darunter 126 Anschläge auf ihre Büros.
Auch 2015 fanden auf der Grundlage der vagen und breit gefassten Antiterrorgesetze Massenprozesse statt. Im Balyoz-Prozess wurden in einem Wiederaufnahmeverfahren die Urteile gegen alle 236 Armeeangehörigen aufgehoben, die beschuldigt worden waren, einen gewaltsamen Umsturz der AKP-Regierung geplant zu haben. Das Ergenekon-Verfahren gegen ehemalige Militärangehörige und Zivilpersonen, denen man ebenfalls Putschpläne zur Last legte, wurde in zweiter Instanz fortgesetzt. Auch nach der Abschaffung der mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Sondergerichte für terroristische Straftaten und organisiertes Verbrechen im Jahr 2014 waren noch immer Verfahren gegen kurdische Aktivisten wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der PKK-nahen Union Kurdischer Gemeinschaften (KCK) anhängig. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und Regierungstruppen im Juli 2015 kam es zu einer Welle von Festnahmen. Bis Ende August sollen etwa 2000 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK festgenommen worden sein; mehr als 260 Personen kamen in Untersuchungshaft. Die Behörden erhoben Anklage gegen den in den USA lebenden Prediger und früheren Verbündeten der AKP, Fethullah Gülen, sowie gegen mehrere seiner Anhänger wegen Bildung bzw. Mitgliedschaft in der „terroristischen Fethullah-Gülen-Organisation“(…)…….
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde 2015 weiter untergraben. Es gab zahllose unfaire Strafverfahren gegen politisch aktive Bürger, Journalisten und andere Regierungskritiker. Dabei wurde auch auf die Antiterrorgesetze und Gesetze zu Beleidigung zurückgegriffen. Häufig wurden Bürger wegen Beiträgen in sozialen Medien vor Gericht gestellt. Die Regierung übte enormen Druck auf die Medien aus. Sie ging gezielt gegen Medienunternehmen und digitale Netzwerke vor und nahm einzelne kritische Journalisten ins Visier, die dann bedroht und von häufig unbekannten Tätern körperlich angegriffen wurden. Journalisten, die für Massenmedien arbeiteten, wurden entlassen, wenn sie regierungskritische Berichte veröffentlichten. Nachrichtenseiten im Internet, darunter Dutzende kurdische Internetseiten, wurden von willfährigen Justizorganen auf Grundlage vage formulierter behördlicher Anordnungen blockiert. Die Polizei schikanierte und attackierte Journalisten, die über den vorwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes berichten wollten. Im März 2015 wurde Mehmet Baransu, Journalist der regierungskritischen Tageszeitung Taraf, festgenommen. Die Behörden warfen ihm vor, geheime Staatsdokumente in seinen Besitz gebracht und 2010 darüber berichtet zu haben, bevor er das Material an die Staatsanwaltschaft weiterleitete. Seine Enthüllungen bildeten die Grundlage des Balyoz-Prozesses, in dem es um mutmaßliche Putschpläne ging. Ende des Jahres befand sich Baransu noch immer in Untersuchungshaft.
Zwischen August 2014 und März 2015 genehmigte der Justizminister in 105 Fällen die Einleitung eines Verfahrens wegen Beleidigung von Staatspräsident Erdoğan nach Artikel 299 des Strafgesetzbuchs. Acht Verdächtige kamen in Untersuchungshaft. Die Strafverfahren auf der Grundlage dieses Artikels, der bis zu vier Jahre Haft vorsieht, zogen sich durch das gesamte Jahr. Im September 2015 wurde ein 17-jähriger Student wegen „Beleidigung“ des Staatspräsidenten schuldig gesprochen, nachdem er Präsident Erdoğan als „Dieb in seinem illegalen Palast“ bezeichnet hatte. Ein Jugendgericht in der zentralanatolischen Stadt Konya verurteilte ihn zu elf Monaten und 20 Tagen Haft auf Bewährung. Im November 2015 begann die erste Anhörung im Verfahren gegen Canan Coşkun, Reporterin der Zeitung Cumhuriyet, wegen Beleidigung von zehn Staatsanwälten und Richtern. Sie hatte berichtet, dass diese aufgrund ihres Amtes Luxuswohnungen zu günstigen Preisen erwerben konnten. Ihr drohte eine Haftstrafe von 23 Jahren und vier Monaten. Ebenfalls im November wurden der Chefredakteur und der Hauptstadtkorrespondent der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar und Erdem Gül, wegen Spionage, Offenlegung von Staatsgeheimnissen und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt, weil sie über eine mutmaßliche Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes an eine bewaffnete Gruppe in Syrien im Jahr 2014 berichtet hatten. Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte zuvor behauptet, die betreffenden Lastwagen hätten humanitäre Hilfsgüter transportiert. Die beiden Journalisten wurden in Untersuchungshaft genommen, wo sie sich auch Ende 2015 noch befanden. Ihnen droht eine lebenslange Haftstrafe.
Die in Diyarbakır lebende niederländische Journalistin Fréderike Geerdink, die wegen „Propaganda für die PKK“ angeklagt war, wurde im April 2015 freigesprochen. Im September wurde sie inhaftiert und des Landes verwiesen, nachdem sie einen Bericht über den Bezirk Yüksekova im Südosten des Landes veröffentlicht hatte. Im August 2015 wurden drei Journalisten des internationalen Nachrichtenkanals Vice News, die über Zusammenstöße zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften berichtet hatten, von der Polizei verhört, wegen „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Die beiden britischen Staatsbürger Jake Hanrahan und Philip Pendlebury wurden acht Tage später freigelassen und des Landes verwiesen; der irakisch-kurdische Journalist Mohammed Rasool befand sich Ende 2015 noch in Untersuchungshaft.
Mit beispiellosen Schritten wurden Medien, die der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahestehen, zum Schweigen gebracht. Im Oktober 2015 untersagte die Staatsanwaltschaft Ankara dem privaten Medienunternehmen Digiturk die Ausstrahlung von sieben Fernsehkanälen. Vier Tage vor den Parlamentswahlen am 1. November stürmte die Polizei in Begleitung eines gerichtlich eingesetzten Treuhänders die Sendezentrale des Medienkonzerns Koza İpek und schaltete die Live-Übertragung der beiden Fernsehkanäle Bugün und Kanaltürk ab. Darüber hinaus stoppte sie den Druck der zur selben Mediengruppe gehörenden Zeitungen Millet und Bugün. Als die Zeitungen wieder erschienen und die TV-Kanäle erneut auf Sendung gingen, waren die zuvor dezidiert regierungskritischen Medien auf Regierungskurs eingeschwenkt. Im November schaltete der staatseigene Satelliten- und Kabelnetzbetreiber Türksat 13 Fernseh- und Radiosender der Salmanyolu Broadcasting Group ab. Der Vorstandsvorsitzende der Mediengruppe, Hidayet Karaca, verbrachte das gesamte Jahr 2015 in Untersuchungshaft.
Im November 2015 wurde der bekannte Menschenrechtsanwalt und Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakır, Tahir Elçi, während einer Pressekonferenz in Diyarbakır erschossen. Die Täter waren bei Jahresende noch immer unbekannt, was Anlass zu Befürchtungen gab, die Ermittlungen würden nicht unabhängig und effektiv erfolgen. Elçi hatte im Oktober in einer Live-Sendung von CNN Türk gesagt, die PKK sei „keine Terrororganisation, sondern eine bewaffnete politische Bewegung mit erheblichem Rückhalt“. Daraufhin hatte er Morddrohungen erhalten und wurde wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ unter Anklage gestellt, ihm drohten mehr als sieben Jahre Haft. Gegen den Fernsehsender wurde eine Geldbuße in Höhe von 700.000 Türkische Lira (rund 220.000 Euro) verhängt(…).
Die Berichte über exzessive Gewaltanwendung bei Demonstrationen nahmen 2015 dramatisch zu. Die Sicherheitskräfte setzten bei Antiterroroperationen tödliche Gewalt ein, wie z.B. bei bewaffneten Zusammenstößen mit der PKK-Jugendorganisation YDG-H. In vielen Fällen konnte der Hergang des Geschehens aufgrund widersprüchlicher Darstellungen und in Ermangelung effektiver Ermittlungen nicht rekonstruiert werden. Das im März 2015 verabschiedete Gesetzespaket zur inneren Sicherheit entsprach nicht den internationalen Standards zur Anwendung von Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden.
Im Januar 2015 wurde in Cizre im Südosten des Landes der zwölfjährige Nihat Kazanhan von einem Polizeibeamten erschossen. Zunächst leugneten die Behörden die Beteiligung der Polizei an dem Vorfall, doch dann tauchte ein Video auf, das zeigt, wie Nihat Kazanhan und andere Minderjährige Steine auf Polizisten warfen. Auf einem anderen Video ist zu sehen, wie ein Polizist mit dem Gewehr in Richtung der Minderjährigen schoss. Nihat Kazanhan wurde durch einen Kopfschuss getötet. Das Verfahren gegen fünf Polizisten war am Jahresende noch nicht abgeschlossen.
Während der Polizeioperationen gegen die YDG-H in mehreren Städten im Südosten des Landes verhängten die örtlichen Behörden ganztägige Ausgangssperren. Bewohner durften ihre Häuser nicht verlassen, die Wasser- und Stromversorgung sowie die Kommunikationsverbindungen wurden gekappt, und Beobachter durften die Städte nicht betreten. Ausgangssperren, die im Stadtviertel Sur von Diyarbakır am 11. Dezember 2015 sowie in den Städten Cizre und Silopi am 14. Dezember verhängt wurden, waren zum Jahresende noch nicht wieder aufgehoben.
Folter und andere Misshandlungen
2015 trafen vermehrt Berichte über Misshandlung in Polizeigewahrsam und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ein, die in Zusammenhang standen mit dem Vorgehen von Polizei und Armee gegen die PKK.
Vier Männer, die in Ceylanpınar im Südosten des Landes zwei Polizeibeamten getötet haben sollen, erklärten, sie seien im Juli und August 2015 in Gewahrsam heftig geschlagen worden: zunächst bei ihrer Verlegung nach Osmaniye (Provinz Osmaniye) in die Haftanstalt Nr. 1 vom Typ T und später im Gefängnis. Ende des Jahres befanden sie sich noch immer in Untersuchungshaft.
Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und Sicherheitskräften tauchten im August 2015 im Internet Bilder auf, die offenbar von Angehörigen eines Sonderkommandos der Polizei aufgenommen worden waren. Sie zeigten, wie der nackte und entstellte Leichnam der kurdischen PKK-Aktivistin Kevser Eltürk (Ekin Wan) durch die Straßen des Ortes Varto in der osttürkischen Provinz Muş geschleift wurde. Im Oktober wurde ein Bild des PKK-Aktivisten Hacı Lokman Birlik ins Netz gestellt, dessen Leiche in der Provinz Şırnak hinter einem gepanzerten Polizeifahrzeug hergezogen wird. Dem Autopsiebericht zufolge wies seine Leiche 28 Schussverletzungen auf (…).“
Ebenso exemplarisch wie besorgniserregend ist die Pressemitteilung des Menschenrechtskommissars des Europarates vom 14.04.2016 über seinen neuntägigen Besuch in der Türkei. Dort heißt es:

„Der Respekt der Menschenrechte hat sich in den letzten Monaten im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus in alarmierender Geschwindigkeit verschlechtert“, sagt Nils Muiznieks, der Menschenrechtskommissar des Europarates zum Abschluss seines neuntägigen Besuchs in Istanbul, Diyarbakir und Ankara. Die Themen seines Besuches waren der Ausgleich zwischen Sicherheit und Menschenrechten im Südosten, die Meinungsfreiheit und die Rechtspflege.
Daran erinnernd, dass die Türkei das Recht und die Pflicht hat, Terrorismus zu bekämpfen, hat der Kommissar unmissverständlich alle terroristischen Aktionen und Gewalt, die sich gegen türkische Einwohnerinnen und den Staat richten, verurteilt, einschließlich derjenigen der PKK und Daesh. „Trotzdem muss die Türkei es vermeiden, in diesem Kampf die Menschenrechte und die Rechtsnormen zu vergessen, dass letztlich den Interessen eben dieser Organisationen dient“.
Das herausragendste Merkmal der Anti-Terror-Operationen seit August 2015 sind die rund um die Uhr, unbegrenzt und immer länger geltenden Ausgangssperren, die in ganzen Stadtvierteln oder Städten des Südostens der Türkei ausgerufen werden. „Ich habe ernsthafte Zweifel an der Rechtsmäßigkeit dieser Ausgangssperren, eine Frage, die noch durch die Venedig-Kommission, das türkische Verfassungsgericht und die Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht werden muss. Eine Verwaltungsentscheidung basierend auf einem Gesetz, das noch nicht einmal das Wort „Ausgangssperre“ erwähnt, ist eine sehr schwache Basis für das In Kraft-Setzen solch drastischer Einschränkungen grundlegender Menschenrechte einer großen Bevölkerungsgruppe und für Monate“.
Ein anderes kritisches Thema betreffend die Anti-Terror-Operationen war die Verhältnismäßigkeit: „Während ich den Ort besuchte, an dem Tahir Elçi in Sur ermordet wurde, bekam ich einen flüchtigen Eindruck des schockierenden Ausmaßes der Zerstörung in einigen dieser Zonen. Die Regierung informierte mich, dass während dieser Operationen in Sur 50 Terroristen getötet wurden, mindestens 20.000 Zivilist_innen vertrieben wurden, zahllose Gebäude zerstört wurden und viele Zivilist_innen haben zweifellos schwer gelitten unter den Terroristen und den Kollateralschäden“.
Der Kommissar betonte, dass der türkische Staat die Verpflichtung hat, effektive Untersuchung hinsichtlich aller Toten während der Operationen durchzuführen, einschließlich ZivilistInnen und Sicherheitskräfte, aber auch dem Terrorismus Verdächtiger. „Bedauerlicherweise habe ich die Vorwürfe ernster Mängel bei diesen Ermittlungen gehört, insbesondere betreffend die Identifizierung und Vernehmung von Sicherheitspersonal und die Sicherung aller Beweise vor dem Freigeben der Operationszonen“. Der Kommissar habe sich versichert, dass die türkischen Behörden die Vorwürfe rassistischer und degradierenden Verhaltens von Sicherheitskräften sehr ernst nehmen, und hat dringend gemahnt, sicherzustellen, dass disziplinarrechtliche und justizielle Ermittlungen auch diese Aspekte abdecken.
„Es ist klar, dass der Schaden, den die lokale Bevölkerung erlitten hat, groß ist und die Behörden müssen ohne Verzögerungen einen entsprechenden Schadensersatz sicherstellen“ sagte der Kommissar. Betreffend Pläne für notfallmäßige Enteignungen in besonders betroffenen Gebieten haben Teile der lokalen Bevölkerung Ängste geäußert, dass sie zweifach bestraft werden, während die Behörden dem Kommissar versichert haben, dass die einzige Zweck die Hilfe sei. „Enteignung ist kein Schadensersatz, die Behörden müssen in einen Dialog mit allen Akteuren treten und ihre Ziele klarer machen“ sagte der Kommissar.
Seit langem bestehende Probleme betreffend die Meinungsfreiheit, herrührend aus dem türkischen Recht und der Praxis der Justiz, haben sich ebenfalls in dieser angespannten Situation ernsthaft verschärft. „Zum Beispiel sehen sich die AkademikerInnen für den Frieden sowohl disziplinarrechtlichen wie auch strafrechtlichen Prozessen ausgesetzt, für eine Stellungnahme, in der sie sich für ein Ende der Gewalt aussprechen, was nach meiner Meinung unter die Meinungsfreiheit fällt, egal ob man ihre Botschaft zustimmt oder nicht“ sagte der Kommissar.
Der Rückgriff auf einen übermäßig weiten Begriff von Terrorismus, um gewaltfreie Äußerungen zu bestrafen und um jede Äußerung, die nur mit empfundenen Interessen terroristischer Organisationen übereinstimmt, zu kriminalisieren, sind nicht neu in der Türkei, aber das Ausmaß ist alarmierend geworden. Ein ähnlich exponentieller Anstieg besteht hinsichtlich des Vergehens der Beleidigung des Präsidenten der Republik, es wurden 1845 Strafverfahren gezählt. „Ich habe in keinem der 46 Mitgliedstaaten des Europarates eine derart missbräuchliche Anwendung einer ähnlichen Vorschrift erlebt, einschließlich der Staaten, in denen die Beleidigungen des Präsidenten eine eigener Straftatbestand ist“. Der Kommissar hat auch auf die stark ansteigende Zahl von blockierten Webseiten seit seinem letzten Besuch in 2011 hingewiesen, sowie auf die Tatsache, dass die Türkei den Weltrekord in Twitter-Entfernungsanfragen hält.
Bezugnehmend auf sein Treffen mit Can Dündar während seines Besuches äußerte der Kommissar, dass die Behandlung einer Veröffentlichung wahrer Informationen von wahrlich öffentlichem Interesse als eine Form von Spionage „einfach eine Bedrohung für den Journalismus als Beruf“ darstelle. Die Übernahme von Zeitungen und Fernsehstationen durch Verwalter war gemäß dem Kommissar ebenfalls ein sehr gefährliches Beispiel: „Nach dem Gesetz sind diese Verwalter zur Sicherung des Vermögens da, aber sie haben die redaktionelle Linie ausgetauscht, haben den Verlust der Leserschaft verursacht und den Marktwert der Unternehmung ruiniert. Dies ist ein besonders beunruhigendes Beispiel, das bereits irreparablen Schaden für die Medienfreiheit und Pluralismus in der Türkei verursacht hat, noch vor einer endgültigen Gerichtsentscheidung“.
Laut dem Kommissar hat die Intoleranz der Exekutive und der Justiz hinsichtlich der Legitimität von Kritik zu einem sehr augenfälligen Abschreckungseffekt und einer Selbstzensur geführt, und hat die Anzahl demokratischer Diskussionen im Land reduziert. Ein aufgefundenes Merkmal war die Tatsache, dass viele dieser problematischen Maßnahmen durch sog. „Friedensrichter“ erlassen wurde. „Während ich vorhatte, genauer die Praxis dieser juristischen Formation zu untersuchen, die angeblich eingeführt wurden, um den Schutz der Menschenrechte in Strafverfahren zu verbessern, gibt es starke Anzeichen dafür, dass sie genau den gegenteiligen Effekt haben. Sie scheinen viele Verletzungen ihrer eigenen Rechte zu verursachen“ sagte der Kommissar.
Er teilte ebenfalls die Bedenken anderer Teile des Europarates, der Venedig-Kommission und der Gruppe von Staaten gegen Korruption (GRECO), dass der Kampf gegen mutmaßliche terroristische Organisationen innerhalb der Justiz ihre Unabhängigkeit geschwächt haben könnte. „Die kürzliche Äußerung des türkischen Präsidenten über das Verfassungsgericht, ebenso wie andere Stellungnahmen von Politikern haben ebenso das öffentliche Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz beschädigt“. Schließlich betont der Kommissar das Thema der Menschenrechtsverteidiger und Anwälte, erwähnt insbesondere die stigmatisierende Rhetorik, die Schmähkampagnen und anhaltenden Ermittlungen gegen sie.
„In einem Kontext, in dem es viele Missinformationen, Manipulationen und widersprüchliche Meinungen gibt, insbesondere hinsichtlich des Geschehens während der Ausgangssperren, ist ein transparentes justizielles Verfahren, das auf Menschenrechtsverteidigern aufbaut die größte Hoffnung um die Wahrheit herzustellen und Rechtshilfe zu erhalten“. Vor eben jenem Hintergrund, sind die kürzlichen politischen Attacken gegen NGO`s, lediglich wegen geschriebener Berichte, eine sehr störende Entwicklung.“
Teil B: Angezeigte Straftaten
1. Teil: Straftaten während der Ausgangssperre in der Stadt Cizre vom 04. bis 11. September 2015
Ende Juli 2015 erklärte der türkische Staatspräsident Erdoğan den Friedensprozess mit den Worten, „es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben“, endgültig für beendet . Vor dem Hintergrund der anschließenden polizeilichen und militärischen Interventionen – insbesondere in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Landesteilen – hatten verschiedene Quartiere, Dörfer und Städte ihre Selbstverwaltung deklariert. Dabei ging es zum damaligen Zeitpunkt laut Angaben von Hatip Dicle, dem Co-Präsidenten des demokratischen Gesellschaftskongresses DTK (Demokratik Toplum Kongresi’nin), vom 23. Oktober 2015 um 13 Ortschaften, darunter Silopi, Cizre, Şırnak, Silvan, Varto, Bulanik, Edremit und das in Diyarbakir liegende Stadtviertel Sur.
Als unmittelbare Reaktion darauf, wurden über einzelne Stadtviertel, ganze Dörfer und teilweise ganze Städte mehrtägige Ausgangssperren verhängt. So auch in Cizre in der Zeit vom 04. bis zum 12. September 2015.
Cizre ist eine Stadt mit ca. 110.000 Einwohner_innen und liegt im Südosten der Türkei, direkt an der Grenze zu Syrien.
Vor der überraschend erfolgten Verkündung der Ausgangssperre am 04.09.2015 war es zuletzt am 27.08.2015 zu einer bewaffneten Aktion gekommen. Dabei war eine militärische Einheit im Zentrum von Cizre angegriffen worden. Die Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer, wodurch zwei Beamte und zwei Kinder ihr Leben verloren. Danach gab es allerdings bis zur Verhängung der Ausgangssperre am 04.09.2015 keine Informationen über weitere bewaffnete Angriffe .
Am Abend des 04.09.2015 wurde – ohne Vorankündigung – durch den Gouverneur (türkisch:Vali) von Şırnak (wozu auch Cizre gehört), den Beschuldigten Ali Ihsan Su, eine zeitlich unbegrenzte Ausgangssperre verhängt.
Die hierzu herausgegebene Presseerklärung vom 04.09.2015 lautete wie folgt :

„Um die Mitglieder der separatistischen Terrororganisation zu fassen und um die Sicherheit des Lebens und des Eigentums der Bevölkerung zu schützen wurde gemäß Artikel 11/C des Gesetzes Nr. 5442 über die Verwaltung der Provinzen für den Bezirk Cizre die Ausgangssperre verkündet. Sie gilt ab dem 04. September 2015, 20 Uhr bis auf weiteres.
Hochachtungsvolle Bekanntmachung an die Öffentlichkeit
Gouverneur von Şırnak“.
Für die Bevölkerung hatte die erlassene Ausgangssperre verheerende Folgen.
Diese werden zunächst zusammenfassend dargestellt (A.), bevor einzelne Zeugenaussagen, die Gesamtsituation bzw. Teilaspekte betreffend, wie z. B. Gesundheitsversorgung, Lebensmittelversorgung, Zugang zur Stadt, Sicherheitslage und psychologische Auswirkungen auf die Bevölkerung wiedergegeben (B.) und schließlich die Fälle der während der Ausgangssperre getöteten bzw. ums Leben gekommenen und verletzten Menschen näher dargestellt werden (C.).
A. Allgemeine Situation während der Ausgangssperre und ihre Folgen
Die Ausgangssperre wurde am Abend des 4. September 2015 ohne Vorankündigung deklariert. Zwischen 18.30 Uhr und 19.00 Uhr drangen die Polizei und das Militär ins Rathaus von Cizre ein und informierten über die Lautsprecheranlage, die mit Megaphonen in den Straßen der Stadt sowie auf den Moscheen verbunden ist, die Bevölkerung darüber, dass ab 20.00 Uhr eine allgemeine Ausgangssperre gelte und sich danach niemand mehr auf der Straße aufhalten dürfe. Begründet wurde die Maßnahme nicht. Wegen der Kürze der Zeit mussten viele der Menschen dort bleiben, wo sie sich zum Zeitpunkt der Bekanntmachung der Ausgangssperre (z.B. auf der Arbeit oder bei Verwandten) befunden haben und verloren teilweise über die gesamte Zeit der Ausgangssperre wegen der unterbrochenen Telefonverbindungen den Kontakt zu Familienmitgliedern. Gegen. 19.30 Uhr, mithin ca. 1 Stunde nach Verkündung der Ausgangssperre, begann sodann der Beschuss in den Vierteln der Stadt. Die Einsatzkräfte der polizeilichen Sondereinheiten und die türkische Armee setzten neben Maschinengewehren auch schwere Waffen wie Granaten, Artillerie und sogar Scharfschützen ein.
Während der 8-tägigen Ausgangssperre wurden alle Hauptstraßen, die nach Cizre hinein oder hinausführten, einschließlich der vorbeiführenden Straßen von der Türkei in den Irak und die internationale Seidenstraße durch Militärbarrikaden blockiert. Die Barrikaden waren bedeckt mit Stacheldraht und Sicherheitskräfte waren hinter Sandsäcken postiert. Die gepanzerten Militär- oder Polizeifahrzeuge und Panzer besetzten die gesamte Stadt einschließlich der Fernstraßen, die in die Stadt Cizre hinein- und hinausführten.
Lediglich in den ersten Tagen der Ausgangssperre, wurde Fahrzeugen ganz vereinzelt und nach Kontrolle die Durchfahrt erlaubt.
Pressevertretern, Abgeordneten, Repräsentanten politischer Parteien und AnwältInnen wurde die Zufahrt bzw. der Zugang nach Cizre verweigert. So berichteten VertreterInnen der Anwaltskammer von Diyarbakir, dass einige VertreterInnen der Anwaltskammer – unter anderem der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, Rechtsanwalt Tahir Elçi sowie die Mitglieder des Vorstandes, Cihan Ipek, Kutbettin Odabaşi und Bayram Incekara – bereits am Morgen des 05. September auf ihrem Weg nach Cizre, ca. 15 km entfernt von Cizre, einen meilenlangen Autokonvoi auf der Silk Road vor einer dort durch die Kurumci-Gendarmerie-Station errichteten Barrikade wahrnahmen. Es war eine Delegation von Abgeordneten der HDP, denen trotz ausführlicher Diskussion die Weiterfahrt Richtung Cizre verweigert wurde.
Nach einer Diskussion zwischen Tahir Elçi und Offizieren der Gendarmerie wurde der kleinen Anwaltsdelegation schließlich der Zutritt zur Stadt erlaubt. Während ihres kurzen Aufenthalts in der Stadt, konnte die Delegation einige Hauptstraßen und Kreuzungen in Augenschein nehmen und feststellen, dass die Rohre aller Panzer und gepanzerten Fahrzeugen, die in den Bergen und allen herausragenden Punkten aufgestellt waren, auf die Stadt zielten.
Es war nicht möglich, die Stadt zu betreten oder zu verlassen. Alle Versuche der Delegation mit dem Bezirksgouverneur oder dem Polizeipräsidenten zu sprechen, wurden aufgrund der Ausgangssperre abgelehnt. Am selben Tag, informierten Polizeioffiziere die Delegation, dass sie die Stadt verlassen müssten, weil es für ihre Delegation in der Stadt nicht sicher sei. Die Delegation verließ die Stadt mit Polizeibegleitung.
Auch einer Delegation der HDP mit dem Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, zahlreichen Abgeordneten und zwei Ministern der damaligen Übergangsregierung wurde am 10. September die Zufahrt bereits ca. 20 km vor Cizre verweigert. Ihnen wurde nicht einmal erlaubt, die Stadt Midyat (bei Mardin) zu passieren. Schließlich gelangten sie nach Idil, der Zugang nach Cizre wurden ihnen jedoch selbst nach Aufhebung der Ausgangssperre nicht erlaubt. Auch alle Versuche der Delegation, zu Fuß Richtung Cizre zu gelangen, wurden verhindert.
Am 11. September kamen Hunderte von AnwältInnen von verschiedenen Anwaltskammern in der Türkei nach Cizre, um zu den Menschen vor Ort zu gelangen, Ermittlungen und Interviews vorzunehmen und einen Bericht vorzubereiten mit dem die Fälle der Verletzten, Toten und anderer Ereignisse untersucht werden sollten. Die AnwältInnen wurden auf der Straße durch Polizeibarrikaden gestoppt, die am Ausgang der Stadt Midyat (bei Mardin) errichtet waren. Die AnwältInnen protestierten gegen die Blockade durch ein Sit-in in Robe und gaben eine Erklärung ab, die durch den Präsidenten der Anwaltskammer von Diyarbakır Tahir Elçi verlesen wurde und an die Sicherheitskräfte, die Presse und die anwesenden Gruppenmitglieder gerichtet war. Schließlich erreichten die Anwält_innen die Stadt Idil mit Autos, nachdem sie zwanzig Kilometer gelaufen waren und einige Militärbarrikaden passiert hatten. Den Anwält_innen gelang es, Cizre am 12. September zu erreichen, dem Tag, an dem die Ausgangssperre aufgehoben wurde.
Unter Zugrundelegung der verschiedenen Berichte der Anwaltskammer von Diyarbakir (im Weiteren genannt: Bericht der Anwaltskammer von Diyarbakir), der demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (im Weiteren genannt: Delegationsbericht der demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz), Human Rights Watch (im Weiteren genannt: HRW), einer 300-köpfigen Anwaltsdelegation (im Weiteren genannt: Anwaltsdelegation) sowie eines Berichtes des Türkisches Ärztebundes TTB (im Weiteren Bericht Ärztebund genannt) sowie der weiter unten wiedergegebenen Zeugenaussagen kann die Situation in Cizre während der Ausgangssperre wie folgt beschrieben werden :
Die Ausgangssperre wurde in einer sehr strikten Weise während der gesamten Zeit in allen Teilen von Cizre durchgeführt. Die gepanzerten Fahrzeuge und Panzer waren auf allen Hauptstraßen, Kreuzungen und Anfängen der Straßen platziert.
In Cizre selbst waren durch die Bevölkerung Barrikaden in den Straßen errichtet bzw. Gräben ausgehoben worden, so dass zahlreiche Straßen in den Stadtvierteln Nur, Cudi, Sur und Yafes nicht mit Autos befahren werden konnten.
Während der Ausgangssperre wurden militärische Sicherheitsoperationen durchgeführt, gepanzerte Fahrzeuge und schwere Waffen, wie Granaten, Haubitzen, Minen und eine Anzahl weiterer schwerer Waffen wurden in den Stadtvierteln eingesetzt, wo sich die Wohnungen der Menschen befinden.
Neben dem Beschuss der Bevölkerung, der unmittelbar nach Beginn der Ausgangssperre begann, wurde – ein bis zwei Stunden später – im Wesentlichen über die gesamte Dauer der Ausgangssperre, hinweg, die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, sowie mit dem Beschuss der sich auf den Häusern befindenden Wasserbehälter, sowie an den Häusern befindlichen Klimaanlagen, begonnen. Nahezu die gesamte Infrastruktur der Stadt wurde geschlossen. Auch die Handynetze und Internetverbindungen wurden unterbrochen. Die Kommunikation in die Stadt und aus der Stadt heraus war – bis auf wenige Ausnahmen – fast gänzlich abgebrochen. Lediglich der GSM-Anbieter AVEA funktionierte zeitlich und örtlich teilweise.
Mehr als 20 Transformatoren und somit rund 1500 Haushalte waren von der Stromversorgung abgeschnitten. Angestellte des Stromunternehmens DEDAS, die versuchten, Reparaturen durchzuführen, wurde daran ebenso gehindert wie Personen, die die Wasserversorgung wiederherstellen wollten. Auf ein Auto des Stromunternehmens DEDAS mit Angestellten, die ihm Bezirk Nur etwas reparieren wollten, wurde mit Geschützen gezielt und sie mussten sich in einem Haus verstecken.
Nahezu alle Läden mussten schließen. Für die Bevölkerung in der Stadt war es nicht möglich, die Grundbedürfnisse wie Essen, Medizin, Milch, Kindernahrung zu decken und bis auf wenige Ausnahmen wurde den Bäckereinbesitzer_innen nicht die Möglichkeit gegeben, ihre Bäckereien zu öffnen, so dass nicht einmal Brot im Bezirk zu erhalten war.
Auch von außen war es nicht möglich Lebensmittel in die Stadt zu bringen.
Außer einigen Apotheken, die an ein oder zwei Orten für eine begrenzte Zeit geöffnet waren, als keine Operationen durchgeführt wurden, wurden alle Apotheken geschlossen gehalten. Eine entsprechende Anweisung des Gouverneurs besagte, dass alle Apotheken außer der gegenüber dem staatlichen Krankenhaus von Cizre zu schließen sind. Es war nicht möglich, Zugang zu Apotheken, Krankenhäusern und Gesundheitszentren zu haben. Alle allgemeinen, aber auch alle Familiengesundheitszentren waren während der Ausgangssperre geschlossen. Verwundete konnten weder den Notruf 112 noch das Krankenhaus anrufen, weil mit Beginn der Ausgangssperre alle Kommunikationsmittel unterbrochen waren. Wenn Menschen es schafften, über das teilweise funktionierende AVEA-Netz zu telefonieren, konnten die Krankenwagen aufgrund der Barrikaden, Gräben und militärischen Sicherheitsoperationen und Kämpfen nicht zu den Menschen in den Stadtvierteln durchkommen.
Während des Zeitraums der Ausgangssperre hatte der größte Teil des Personals des staatlichen Krankenhauses von Cizre die Stadt verlassen. Menschen die ehrenamtlich im Krankenhaus helfen wollten und meist aus Diyarbakır kamen, wurde nicht erlaubt, die Stadt zu betreten. Vorhandenes medizinisches Personal am staatlichen Krankenhaus von Cizre arbeitete zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten, aber sie mussten während der streng durchgeführten Ausgangssperre im Krankenhaus bleiben, und konnten oft keine Neuigkeiten von ihren in Cizre lebenden Familien erfahren.
Unmittelbar nach dem Ende der Ausgangssperre, berichtete das Krankenhauspersonal, gegenüber der Anwaltsdelegation, dass das Krankenhaus nach dem Beginn der Ausgangssperre für Zivilist_innen nahezu geschlossen wurde. Es war nur geöffnet für Polizei und Soldaten. Personal, das versuchte, verletzten Zivilist_innen zu helfen, wurde bedroht. Aufgrund der Bedrohung durch die Polizei flohen viele Angehörige des Krankenhauspersonals aus dem Krankenhaus. Einige gaben an, dass die Polizei Waffen an ihre Köpfe hielt und sie ungeschützt den Beleidigungen und Demütigungen der Spezialeinheiten der Polizei ausgesetzt waren.
Die Auswirkungen auf die Lebensbedingungen während der Ausgangssperre waren Folgende:
• Cizre verfügt nicht flächendeckend über fließendes Trinkwasser. Die Wohnhäuser haben stattdessen Wassertanks auf den Dächern, die regelmäßig über die sich im Rathaus befindende Wasserkontrollstelle gefüllt werden. Diese Wassertanks auf den Dächern wurden unter dem Beschuss durch Polizei und Armee jedoch regelrecht durchlöchert, womit die Bevölkerung weitgehend von der Versorgung mit sauberem Trinkwasser abgeschnitten war. In der Folge erkrankten nach drei bis vier Tagen viele Menschen, insbesondere Kinder an Magen-Darm-Infektionen
• Viele Menschen hungerten, weshalb einige versuchten trotz der Gefahr, Brot aus den Mülleimern zu sammeln, einer von ihnen, der 75-jährige Mehmet Erdoğan wurde dabei erschossen (Einzelheiten unten).
• Schwangere Frauen konnten während der Ausgangssperre ihre Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnehmen, da alle Gesundheitszentren geschlossen waren .
• 68, in Cizre lebende, Menschen müssen dauerhaft dialysiert werden. Ihre Behandlung während der Ausgangssperren war erheblich beeinträchtigt. In den ersten vier Tagen der Ausgangssperre konnte keiner der dialysepflichtigen Menschen das Haus verlassen. In den restlichen fünf Tagen konnten lediglich 25 dialysepflichtige Patient_innen das Krankenhaus erreichen .
• Aufgrund des Stromausfalles waren die Impfstoffe nicht mehr nutzbar, auch die Ersatzlieferung nach dem Ende der Ausgangssperre dauerte einige Zeit, mit der Folge, dass nahezu drei Wochen keine Impfungen erfolgen konnten .
• Da es nicht möglich war, gebärende Frauen ins Krankenhaus zu bringen, mussten viele von ihnen ihre Kinder zu Hause gebären. Normalerweise finden auf der Geburtsstation des Krankenhauses von Cizre täglich 10 bis 15 Geburten statt, während der gesamten acht Tagen der Ausgangssperre waren es insgesamt nur 12 Fälle, die im Krankenhaus mit Wehen aufgenommen wurden, von denen es in 7 Fällen zu einer Geburt kam. Daraus wird in dem Bericht des türkisches Ärztebundes darauf geschlossen, dass etwa 90 häusliche Geburten in unhygienischen Zuständen, ohne Hilfe von Gesundheitspersonal stattgefunden haben müssen, wobei teilweise nach der Geburt Komplikationen aufgetreten seien. Die nachträglichen ärztlichen Untersuchungen konnten nicht stattfinden .
• Viele Menschen von Cizre, die sich während der Ausgangssperre unter massivem Gewehrfeuer und sonstigem Beschuss befanden, sind traumatisiert. Sie mussten oft tagelang in ihren Häusern ausharren, die sich unter ständigem Beschuss befanden, und miterleben, wie neben ihnen die Wände ihre Häuser durch den Beschuss zusammenfielen. Sie hatte keine Möglichkeit sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen.
• Menschen, die sich vor die Tür, wenn auch nur in ihren eigenen Innenhof, wagten, wurden angeschossen oder erschossen, es traf Alte, Junge, Frauen und Kinder. (siehe hierzu die unten Teil B, 1. Teil C I 1 detailliert dargestellten Einzelfälle)
• Da die Klimaanlagen an den Häusern gezielt durch Schüsse zerstört worden waren, war die Hitze in den Häusern, bei Temperaturen von oft mehr als 40 Grad, unerträglich.
• Die Bedrohungssituation für die Bevölkerung wurde dadurch verstärkt, dass aus den gepanzerten Fahrzeugen von Polizei und Militär Militärmärsche abgespielt wurden und über Lautsprecher Durchsagen erfolgten wie: „Stadtviertel Nur, Apo`s Bastarde (bezugnehmend auf Abdullah Öcalan, den inhaftierten Ehrenvorsitzenden der PKK), armenische Bastarde, wir werden Euch zur Hölle schicken.“
• An die Wände waren Slogans geschrieben wie: „Spiel nicht, wenn Du danach heulst“
• Patienten mit chronischen Erkrankungen hatten keinen Zugang zu denjenigen Medikamenten, die sie regelmäßig benötigten.
• Da den Rettungswagen der Zugang verweigert wurde, konnten Verletzte und Kranke nicht oder nur ungenügend medizinisch versorgt werden und erlagen deshalb teilweise ihre Verletzungen. (Auch hierzu siehe die unten Teil B, 1. Teil C I 2 detailliert dargestellten Einzelfälle)
• Selbst die Körper der Verstorbenen wurden nicht abtransportiert und mussten über Tage privat u. a. in Kühlschränken oder Kühllagern von Gemüsemärkten gelagert werden. (Auch hierzu siehe die unten Teil B, 1. Teil C I detailliert dargestellten Einzelfälle)
• Die Feuerwehr, die eigentlich von der Ausgangssperre ausgenommen sein sollte, wurde während ihrer Einsätze behindert. Ein Feuerwehrmann wurde im Einsatz angeschossen und am Bein verletzt.
• Während der Ausgangssperre starben 21 Zivilist_innen und eine weitere Person starb an den Spätfolgen. Teilweise wurden Zivilist_innen von Scharfschützen erschossen, Menschen erlagen ihren Verletzungen oder starben, weil die benötigte medizinische Versorgung wegen der Ausgangssperre nicht gewährleistet werden konnte. Alle Opfer waren ortsansässige Zivilist_innen. Mit anderen Worten, keine Person unter den Opfern war in einer anderen Stadt gemeldet. Personen, die im Stadtviertel Nur ihr Leben verloren, lebten auch alle im selben Stadtviertel. In den anderen Stadtvierteln war es ebenso, die meisten der Opfer lebten aktuell in eben jenem Stadtviertel, in dem sie, vor oder in der Nähe ihrer Häuser erschossen wurden..

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Todesopfer (weitere Details dazu unten unter Teil B, 1. Teil C I):
• Mehmet Emin Levent (26 Jahre) wurde am Morgen des 5.09.2015 vor seinem Haus von Scharfschützen erschossen.
• Cemile Çağırga (10 Jahre) wurde am Abend des 6.09.2015 von Scharfschützen vor ihrem Haus von hinten erschossen.
• Said Çağdavul (19 Jahre) wurde im Nur-Quartier aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus angeschossen und erlag seinen Verletzungen, da er von seiner Familie nicht ins Spital gebracht werden konnte. Nach der Autopsie musste der Vater feststellen, dass seinem Sohn die Augen entfernt worden waren, ohne dass ihm der Staatsanwalt einen sachlichen Grund dafür mitteilen konnte.
• Bahattin Sevinik (50 Jahre) wurde am Abend des 6.09.2015 verletzt und erlag seinen Verletzungen. Bei dem Versuch, ihn ins Krankenhaus zu bringen, wurde Suphi Sarak erschonen und Abdullah Anakin schwer verletzt.
• Suphi Sarak (52 Jahre) wurde beim Versuch, seinem verletzten Nachbarn Bahattin Sevinik zu helfen, aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus mit mehreren Schüssen erschossen.
• Osman Çağlı (18 Jahre) wurde am Morgen des 7.09.2015 von Scharfschützen erschossen und verblutete.
• Bünyamin Irci (14 Jahre) wurde am 9.09.2015 durch den Beschuss aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus verletzt. Beim Versuch, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wurde das Feuer erneut eröffnet und der bereits Verletzte erschossen.
• Eşref Erdin (60 Jahre) wurde am 10.09.2015 um 23.00 Uhr auf dem Dach seines Hauses angeschossen. Beim Versuch, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wurde das Feuer von einem Panzer aus erneut eröffnet, weswegen der Transport ins Krankenhaus scheiterte. Nach einer Stunde erlag Eşref Erdin seinen Verletzungen.
• Zeynep Taşkın (18 Jahre) wollte ihren Vater vom Festnetztelefon im Haus ihrer Nachbar_innen anrufen – auf dem Heimweg wurde sie von Scharfschützen erschossen. Sie trug ihr Baby, Berxwedana Taşkın auf dem Arm, das verletzt überlebte.
• Maşallah Edin (ca. 35 Jahre) wurde gemeinsam mit ihrer ihrer Schwiegertochter Zeynep Taşkın und ihrem Enkelkind beschossen und verstarb noch vor Ort.
• Özgür Taşkın (18 Jahre) wurde am Nachmittag des 9.09.2015 erschossen. Er hatte sein Zuhause verlassen, um bei seinem Onkel – auf der gegenüberliegenden Straßenseite – kaltes Wasser zu holen und im Fernsehen die Nachrichten zu schauen.
• Meryem Süne (45 Jahre) wurde am 8.9.2015 im Innenhof ihres Zuhauses angeschossen und verstarb 2½ Stunden später. Alle Versuche der Verwandten, medizinische Hilfe zu erhalten, scheiterten.
• Mehmet Sait Nayci (16 Jahre) wurde auf der Straße vor seinem Haus erschossen, als er sich mit seiner Familie im Hinterhof des Hauses in Sicherheit bringen wollte. Nach sechs Stunden erlag er seinen Verletzungen.
• Selman Ağar (10 Jahre) wurde am 11.09.2015 um ca.17.00 Uhr im Cudi-Quartier von einem Scharfschützen erschossen – er hatte auf der Straße gespielt.
• Mehmet Erdoğan (75 Jahre) hatte am 11.09.2015 sein Zuhause verlassen, um Brot zu holen– er wurde von einem Scharfschützen erschossen.
• Mülkiye Geçgel (48 Jahre) wurde während der Ausgangssperre verwundet und starb Anfang Oktober 2015 im Krankenhaus.
• Şahin Açık (74 Jahre) war wegen seines Gesundheitszustandes auf ständige medizinische Behandlung angewiesen gewesen. Als sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, versuchten seine Angehörigen, einen Krankenwagen zu rufen. Weil er keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatte, verstarb er am 11. September 2015.
• Muhammed Tahir Yaramuş (35 Tage) fiel zu Boden als seine Mutter beschossen und starb, nachdem medizinische Hilfe nicht erreichbar war, an den Folgen des Sturzes.
• Mehmet Dökmen (70 Jahre) starb am 11. September 2015 an einem Herzinfarkt, da er, obwohl er bereits unter ständiger medizinischer Behandlung stand, auf Grund des Beschlusses nicht mehr ins Krankenhaus konnte
• Ibrahim Çiçek (80 Jahre) verstarb, da der für ihn gerufene Krankenwagen von Polizeikräften nicht durchgelassen wurde.
• Xetban Bülbül (65 Jahre) starb an einem Herzinfarkt.
• Hacı Ata Borçin (70 Jahre) starb an einem Herzinfarkt.

Hinsichtlich der Verletzten kann weder eine konkrete Zahl noch eine komplette Namensliste angegeben werden. Grund hierfür ist zum einen, dass, als die Delegationen nach der Ausgangssperre Untersuchungen in Cizre vornahmen, die Verletzten in verschiedenen Krankenhäusern behandelt wurden und zum anderen, dass viele Menschen nicht ins Krankenhaus gingen, weil sie Angst hatten, dort verhaftet zu werden.
Viele Einwohner_innen haben deshalb versucht Verletzte selbst zu behandeln.
Im Folgenden findet sich eine unvollständige Aufzählung der Verletzen. Zunächst die Fälle, die unten (Teil B, 1, Teil C II) noch detaillierter mit Zeugenaussagen dargestellt werden (I), schließlich Fälle, zu denen wenigstens grobe Informationen hinsichtlich des Vorgangs bestehen (II) und dann noch Namen von Verletzten, die gegenüber der Anwaltsdelegation ihr Einverständnis für die Veröffentlichung erteilt haben, aber nichts Näheres zum Hergang bekannt ist (III).
I. Detaillierte Fälle von Verletzten
• Abdullah Özcan, wurde am 07. 09.2015 durch Polizeischüsse verletzt. Er hat sein Bein verloren
• Salih Çağlı, wurde angeschossen, als er in der Nacht vom 6. auf den 07.09.2015 vor seinen Laden trat, auch ihm musste ein Bein amputiert werden
• Abdullah Anakin wurde beschossen, als er am Abend vom 06. auf den 07.09.2015 Bahattin Sevinik ins Krankenhaus fahren wollte. Ihm droht, das Augenlicht zu verlieren
• das Baby Berxwedana Taşkin wurde am 08.09.2015 durch Kugeln verletzt , als es sich auf dem Arm ihrer Mutter, Zeynep Taşkin befand, die erschossen wurde, als sie gemeinsam mit Maşallah Edin das Haus der Nachbarn verließ, um nach Hause zu gehen. Zeynep Taşkın und Maşallah Edin starben vor Ort, das Baby überlebte.
• Ein anonymer Imam wurde in die Schulter getroffen, als er vom Nachtgebet in die Moschee zurückkehrte

II. weitere Vorfälle von Verletzten
• Am 5.09.2015 wurden 4 Menschen nach einer Attacke mit gepanzerten Fahrzeugen in dem Stadtviertel Nur, Botas Straße, verletzt.
• Am 5.09.2015 wurden viele Einwohner durch Gewehrfeuer der Polizei verletzt. Allerdings wurde nur 4 von ihnen erlaubt, ins Krankenhaus gebracht zu werden.
• Am 5.09.2015 wurde ein Einwohner namens Deniz Gökay in Folge eines Schusses – abgefeuert durch die Polizei – verwundet.
• Am 5.09.2015 eröffnete die Polizei das Feuer auf die Reporter der Dicle Nachrichten Agentur, Cihan Ölmez und Nuir Akman. Sie konnten ihr Leben retten, indem sie in eine Nebenstraße flüchteten.
• Am 6.09.2015 wurden drei Menschen aus unterschiedlichen Stadtvierteln, bei einer Polizeiattacke verwundet. Ihre Namen konnten nicht herausgefunden werden, weil ihnen nicht erlaubt wurde, ins Krankenhaus gebracht zu werden.
• Am 6.09.2015 starb Bahattin Sevinik. Die Polizei attackierte die Nachbarn, die versuchten, ihn aufgrund seiner Verletzungen ins Krankenhaus zu bringen und viele seiner Nachbarn wurden dabei verletzt, u. a. Ekrem Dayan und Ayşe Kolin.
• Am 07.09.2015 , wurde ein Kind, dessen Namen unbekannt ist, ernsthaft verletzt nachdem Scharfschützen das Feuer auf der Nusaybin Straße im Stadtviertel Cudi eröffnet hatten.
• Am 07.09.2015 wurden 3 Kinder von Geschützfeuer aus gepanzerten Fahrzeugen in der Gegend rund um Medresa Sor verletzt. Eines der Kinder wurde mit Hilfe der Bemühungen des HDP-Vertreters Murat Babayiğit, ins Krankenhaus gebracht.
• Am 07.09.2015 , wurde Mesut Yurttaş ins Krankenhaus gebracht in Folge von durch Scharfschützen eröffnetes Gewehrfeuer. Die Formulierung finde ich unklar. Wurde er durch Gewehrfeuer verletzt? Dann solltest du das so schreiben!
• Am 08.09.2015 wurde der Imam mit Namen Mele Ehmed in Folge von Gewehrfeuer durch Polizei in dem Stadtviertel Cudi verwundet.Die Formulierung finde ich unklar. Wurde er durch Gewehrfeuer verletzt? Dann solltest du das so schreiben!
• Am 09.09.2015 wurde ein Kind namens Devran Budak durch Gewehrfeuer der Polizei verwundet.
• Am 09.09.2015 wurde Mülkiye Taşkın als Ergebnis von Gewehrfeuer durch Polizeikräfte, verletzt. Die Formulierung finde ich unklar. Wurde er durch Gewehrfeuer verletzt? Dann solltest du das so schreiben!
• Am 12.09.2015, unmittelbar nach Beendigung des Ausnahmezustandes, wurden die Kinder Yusuf Sik und Berivan Dadak durch eine Explosion im Stadtviertel Nur verwundet. Yusufs Hand und sein Fuß mussten im Rahmen der Behandlung amputiert werden.

III. Weitere Namen von Verwundeten
Weitere Verwundete, die durch die Anwaltsdelegation kontaktiert werden konnten und von denen die Erlaubnis besteht, ihre Namen zu veröffentlichen, sind Folgende :
• Yusuf Ecer
• Lokman Sungur
• Hüseyin Aslan
• Ferhat Yeşil
• Behiye Yeşil
• Bahattin Yeşil
• Fatma Tekin
• Saliha Çakar
• Emine Şahin
• Funda Barin
• Botan Imrağ

B. Zeugenaussagen zu der Gesamtsituation bzw. zu einzelnen Aspekten, wie Gesundheitsversorgung, Lebensmittelversorgung, Zugang zur Stadt, Sicherheitslage und psychologische Auswirkungen auf die Bewohner_innen

Während im vorherigen Abschnitt die Bedingungen während und die Auswirkungen der Ausgangssperre zunächst zusammengefasst dargestellt wurden, werden hier einige Zeugenaussagen betreffend die Gesamtsituation wiedergegeben, bevor dann im nächsten Abschnitt (C.) die Zeugenaussagen betreffend bestimmter Todesfälle bzw. Fälle von Verwundeten wiedergegeben werden.
I. Zeugenaussagen hinsichtlich der Allgemeinsituation
Hier zunächst einige Aussagen, die die Allgemeinsituation während der Ausgangssperre betreffen:
1. Beobachtungen Anwaltskammer Diyarbakir
Die Anwaltskammer von Diyarbakir, deren Vertreter unter Leitung von Tahir Elçi einmal am 05.09.2015 kurz die Stadt betreten konnte (Siehe Teil B, 1. Teil A, Seite 40) und sich dann ab dem 12.09.2015 für Untersuchungen und Zeugenbefragungen in Cizre aufhielt, schildert ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen hinsichtlich der Gesamtsituation wie folgt :

„Zwischen dem 04. und dem 12. September 2015, als die Ausgangssperre in Cizre galt, wurden alle Hauptstraßen, die nach Cizre hinein oder hinausführten, einschließlich der vorbeiführenden Straßen von der Türkei in den Irak und die internationale Seidenstraße durch Militärbarrikaden blockiert, die Barrikaden waren bedeckt mit Stacheldraht und Sicherheitskräfte waren hinter Sandsäcken postiert.
In den ersten Tagen der Ausgangssperre, wurde Fahrzeugen teilweise und nach Kontrolle die Durchfahrt erlaubt. Die gepanzerten Militär- oder Polizeifahrzeuge und Panzer besetzten die gesamte Stadt einschließlich der Fernstraßen, die in die Stadt Cizre hinein- und hinausführten. Unser Komitee hat an seinem begrenzten Besuch vom 05. September 2015 beobachtet, dass die Rohre aller Panzer und gepanzerten Fahrzeugen, die in den Bergen und allen herausragenden Punkten aufgestellt waren, auf die Stadt zielten. Während der Ausgangssperre war es nicht möglich, die Stadt zu betreten oder zu verlassen.
Während der Ausgangssperre vom 04.09.2015 bis zum 12.09.2015 wurden die Netze der Mobilfunkanbieter auf Anweisung des Gouverneurs von Şırnak unterbrochen. Während dieser Zeit waren alle Kommunikationsmittel von Cizre an die Außenwelt mit wenigen Ausnahmen unterbrochen.
Während der Ausgangssperre wurde weder Abgeordneten, Repräsentanten politischer Parteien noch einem Komitee, bestehend aus Repräsentanten von NGO`s oder einem Journalisten erlaubt, in den Bezirk zu gehen. Dem Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, und dem ihn begleitenden Komitee einschließlich eines Ministers der Europäischen Union wurde nicht erlaubt, die Stadt Midyat, Mardin zu passieren. Das Komitee schaffte es die Stadt Idil für etwas zu Essen zu erreichen, aber ihnen wurde der Zutritt nach Cizre sogar dann nicht erlaubt, als die Ausgangssperre aufgehoben war.
Außer an ein oder zwei Plätzen war während der Ausgangssperre keine Versorgung mit Lebensmitteln oder medizinische Versorgung möglich. Läden, Supermärkte, Apotheken und Bäckereien blieben geschlossen. Während dieser Zeit konnte kein Essen oder Trinken von draußen nach Cizre geliefert werden.
Während der Ausgangssperre konnte beobachte werden, dass Barrikaden aus Stein errichtet waren oder Gräben in den Straßen waren. Vorschlag: In zahlreichen Stadtvierteln von Cizre (Nur, Cudi, Sur und Yafes) waren die Kreuzungen zu den Hauptstraßen gesperrt und es war, bis auf einige Ausnahme, nicht möglich in diese Stadtviertel mit Autos zu fahren.
Es wurde bekannt und wurde beobachtet, dass die Ausgangssperre während der gesamten Zeit in allen Teilen von Cizre in einer sehr strikten Weise durchgeführt wurde. Die gepanzerten Fahrzeuge und Panzer waren auf allen Hauptstraßen und Kreuzungen von Cizre und an den Anfängen der Straßen platziert.
Während der Ausgangssperre wurde eine militärische Sicherheitsoperation durchgeführt, gepanzerte Fahrzeuge und schwere Waffen wurden in den Stadtvierteln eingesetzt, in denen sich die Wohnungen der Menschen befinden. Während der Ausgangssperre wurden Granaten, Haubitzen, Minen und eine Anzahl schwerer Waffen in den Wohngebieten eingesetzt. Während der Zeit der Ausgangssperre wurden gegen die Sicherheitskräfte, die mit bewaffneten Fahrzeugen in das Innere der Stadtviertel vordringen wollten, mit Waffen und Minen vorgegangen.
Viele Kinder, Frauen und ältere Menschen verloren ihr Leben, viele Menschen wurden verletzt oder behindert, aufgrund der durchgeführten Sicherheitsoperationen und Konflikte, die in den Vierteln während des Zeitraums der Ausgangssperre stattfanden. Viele Häuser, Büros und Fahrzeuge wurden verbrannt, zerstört oder auf vielfältige Weise beschädigt durch den Einsatz von Granaten, Haubitzen, schweren Maschinengewehren etc. und das Zielen auf Orte und Häuser, in denen Menschen während der Zeit der Ausgangssperre wohnten.
Viele Menschen, die durch Schusswaffen verletzt wurden, verbluteten aufgrund der Ausgangssperre, den Gräben und Barrikaden oder sie wurden behindert, da sie keine Möglichkeiten hatten aufgrund der gesperrten Telefonnetze einen Krankenwagen zu rufen oder keinen Zugang zu den Krankenhäusern bekamen. Krankenwagen fuhren nicht oder ihnen wurde nicht erlaubt zu fahren.
Bei unseren ersten Beobachtungen, insbesondere in den Stadtvierteln Nur und Cudi, wo die Ereignisse stattfanden, wurde das Herumliegen von Hunderten von Granatsplitterteilen, nicht explodierten Kugeln und anderer Reste des Konfliktes, wie Tränengaskapseln, Raketenteile, Blutlachen, Glassplitter, ausgebrannte oder beschädigte Autoreste, zerstörte-verbrannte Häuser und Büros, Minengruben, Ruinen von gepanzerten Fahrzeugen beobachtet und aktenkundig gemacht.“
2. Ramazan Nayci
Die Angaben von Ramazan Nayci, der Vater des während der Ausgangssperre erschossenen Sait Nayci (diesbezügliche Zeugenaussagen von Ramazan Nayci (siehe Teil B, 1. Teil C I 1 (13)) werden betreffend der Allgemeinsituation im Delegationsbericht der demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz wie folgt wiedergegeben :

„Ramazan Nayci, der Vater von Sait, habe über die Lautsprecherdurchsagen von der Ausgangssperre erfahren – vorher habe er keine Kenntnis von der Maßnahme gehabt. Wegen der kurzen Vorankündigungszeit seien viele Leute dort geblieben, wo sie zu diesem Zeitpunkt gerade gewesen seien. Danach habe »der Krieg« begonnen: Vormarsch der Sicherheitskräfte, Panzer, Helikopter und Schüsse. In der ersten Nacht sei im Nur Quartier alles zerstört worden, in der zweiten Nacht hätte dann der Beschuss des Cudi-Viertels – hier wohnt die Familie – begonnen. In der dritten Nacht sei auch in ihrer Straße geschossen worden.“
3. Mehmet Ağar,
Der Vater des getöteten Selman Ağar (Siehe näheres unten Teil B, 1. Teil C I 1 (14)) beschreibt die Situation im Bericht der Anwaltsdelegation wie folgt :

„Ich arbeite in der Dicle Shopping Arcade. Ich war dort am Freitag, den 04.09.2015, als die Ausgangssperre verkündet wurde. Elektronische Transformatoren explodierten durch Gewehrfeuer. Ich suchte Unterschlupf im Catak Hotel direkt neben der Arcade. Wir blieben für 4 Tage eingeschlossen im Hotel. Da war weder Brot noch Wasser übrig. Wir riefen am 5. Tag einen Krankenwagen. Der Krankenwagen brachte mich von dem Hotel, in dem wir eingeschlossen waren, zum Krankenhaus.“
4. Bahaeddin Yağarcik (38)
Der in Cizre geborene Lehrer gab gegenüber HRW an :
„Am 04. September war eine Ankündigung um 19 Uhr, die besagte, dass es eine Ausgangssperre geben würde, und um 20 Uhr wurde sie eingeführt und unmittelbar danach begannen Schießereien in der Botas Straße in der Nähe des städtischen Kulturzentrums, wo die Polizei stationiert war. Unser Haus befindet sich an der Botas Straße und wurde übersät mit Maschinengewehrfeuer.
Am dritten Tage der Ausgangssperre verließen wir unser Haus und gingen zum Haus meines jüngeren Bruders an der Straße hinter unserer, wo es ruhig war.
Aber dann begann das Granatfeuer. Mit meiner Frau, Kindern, Mutter und anderen Verwandten waren wir insgesamt 18 Personen und waren von 18:30 in der 4. Nacht bis zum 06:00 Uhr des folgenden Morgens in einem Zimmer. Meine Mutter war krank mit einem Herzleiden, meine Frau war erstarrt vor Angst. Ich versuchte, alle zu beruhigen. Es gab kein Essen, wir konnten das Zimmer nicht verlassen, um auf die Toilette zu gehen.
Wir blieben einfach die ganze Nacht in dem einen Raum. Die Fenster zerschmetterten und das Gebäude wackelte. Alle waren traumatisiert. Meine Frau kam nicht darüber hinweg und zittert immer noch vor Angst. Gegen 06:00 Uhr morgens verließen wir das Haus und gingen in ein drittes Haus, wo meine Tante mütterlicherseits lebt. Da waren fünf oder sechs Familien dort, zwischen 50 oder 60 Personen, und da war nicht mal Platz zum Sitzen. Sie hatten ein Loch in eine Wand gemacht die angrenzte an das Haus meiner älteren Schwester, so dass wir in Lage waren, dort hindurchzugehen. Dort blieben wir in zwei Zimmern. Dort war kein Wasser und wir benutzten einen alten ungenutzten Brunnen und ließen einen Eimer herunter, um das modrige Wasser vom Grund zu bekommen.
Aber es war nicht trinkbar, deshalb versuchten wir es durch Kleidung zu filtern. Am siebten Tag ging meine Schwester, um zu versuchen, Wasser zu bekommen und sie wäre fast erschossen worden. Wir gingen zu einem anderen leeren Haus durch die Fenster und tranken dort Wasser. An diesem Tag war das Wasser wiederhergestellt, aber manchmal gab es immer noch keine Elektrizität und es war 40 Grad. Wir konnten in dieser Hitze kaum atmen. Ich wurde beschossen, als ich versuchte, raus zu schauen. Wir waren so besorgt um unsere Verwandten.
Es wurden Militärmärsche aus den bewaffneten Fahrzeugen abgespielt und es erfolgten Ansagen über Lautsprecher wie:
„Stadtviertel Nur, Apo`s Bastards (bezugnehmend auf Abdullah Öcalan, den inhaftierten PKK-Führer), armenische Bastarde, wir werden Euch zur Hölle schicken“. An die Wände hatte die Polizei Slogans geschrieben wie ‚Spiel nicht, wenn Du danach heulst.‘“
II. Zeugenaussagen hinsichtlich Gesundheitsversorgung
1. Ferhat Encü, HDP-Abgeordneter von Şırnak
Die Angaben des Parlamentsabgeordneten der HDP hinsichtlich der Allgemeinsituation aber insbesondere auch der Gesundheitsversorgung gegenüber der Anwaltsdelegation lauten wie folgt :

„Am Abend als die Ausgangssperre in Cizre ausgerufen wurde, betraten wir den Distrikt mit meiner Gruppe. Am Eingang befanden sich hunderte von gepanzerten Fahrzeugen und eine große Anzahl von Polizeiblockaden. Zunächst gingen wir zum staatlichen Krankenhaus von Cizre. Wir sahen, dass das Krankenhaus innen und außen durch Polizei umstellt war. Wir verbrachten die Nacht dort. Krankenhaus-Angestellte versuchten unter schwierigsten Bedingungen zu arbeiten. Gegen 08:00 Uhr am Morgen versuchte die Polizei am Eingang des Krankenhauses Spannungen zu produzieren; es war ein Pseudo-Konflikt, damit wir und das Krankenhauspersonal Angst bekommen, Angst bekommen und das Krankenhaus nicht verlassen, wir sollten uns nicht irgendwie sicher fühlen. Obwohl Spezialeinheiten der Polizei, ausgerüstet mit automatischen Waffen und die Gesichter vermummt, mich und mein Komitee erkannten, zielten sie auf uns, indem sie uns an der Wand einklemmten und ihre Gewehre insbesondere auf mich richteten. Am selben Tag, am Abend des zweiten Tages der Ausgangssperre, attackierte uns die Polizei, in dem sie uns ohne Vorwarnung mit Tränengas bombardierten, während wir uns mit meinen Abgeordneten-Kollegen aus verschiedenen Regionen auf der Sah Straße in Cizre aufhielten.
Weder der Gouverneur von Şırnak, noch der Colonel-Leutnant oder der Polizeichef antworteten auf unsere Telefonanrufe oder beschäftigten sich mit unseren Problemen in irgendeiner Weise. Am vierten Tag, gingen wir um die verzweifelten und eingeschlossenen Einwohner des Stadtviertels Nur zu sehen und uns von ihnen informieren zu lassen. In Nur erlebten die Menschen die intensivsten Attacken; und trotzdem wurde uns der Zugang zum Stadtviertel Nur verweigert. Trotz unserer Versuche, in einen Dialog zu treten, fuhren sie mit ihren Panzern in einer sarkastischen und zynischen Art und Weise auf uns zu. Unsere Bemühungen, zu verhandeln, dass die Leichen in eine Leichenhalle transportierte werden konnten, wurden durch Polizeiattacken verhindert. Sie bombardierten uns mit Gewehrfeuer aus gepanzerten Fahrzeugen Typ Kobra und überfuhren uns mit den Fahrzeugen. Als wir den Notruf 112 riefen und um einen Krankenwagen für die Verletzten baten, antwortete uns das Personal wie folgt: „Ihr seid durch die Polizei angegriffen worden. Wenn ihr in die Nähe unseres Krankenwagens kommt mit den Verletzten, seid ihr ein Risiko für uns“ und sie hinderten unseren Weg zum Krankenwagen.“
2. Narin Zeren, Repräsentant der Pharmazeutenkammer von Mardin Pharmazeut:
Er hat gegenüber der Anwaltsdelegation folgendes bekundet :
„Apotheken konnten vom 04.09.2015, als die Ausgangssperre ausgerufen wurde, bis zum 12.09.2015 nicht geöffnet werden. Nur eine Apotheke gegenüber dem staatlichen Krankenhaus von Cizre konnten während der ersten 3–4 Tage bis mittags öffnen. Diese Apotheke musste auch schließen, da wegen der Ausgangssperre niemand mehr kommen konnte, alle Straßen der Stadt waren durch Panzer versperrt und es kam die Nachricht, dass Scharfschützen Menschen ins Visier genommen haben. Das Apothekenlager, das normalerweise Medizin sowohl für das Krankenhaus als auch die Apotheken des Distriktes bereithalten konnte den Distrikt nicht betreten da es verboten war, den Distrikt zu betreten oder zu verlassen. Währenddessen hatten Patient_innen mit chronischen Erkrankungen keinen Zugang zu der Medizin, die sie regelmäßig nehmen müssen. Wir wussten, dass viele Menschen aufgrund dessen, was in dem Distrikt passierte, Medizin benötigten, aber trotzdem konnten wir unsere Apotheken nicht öffnen. Nur ein Apotheker im Stadtviertel Nur wollte seine Apotheke öffnen, aber er wurde von Kugeln getroffen als sie öffnete. Am selben Tag zur selben Uhrzeit, wurden auch zwei Kinder in der Nähe des Ortes, an dem die Apotheke gelegen ist, durch Polizeikugeln getroffen.
Später erfuhren wir, dass der Distrikt-Gouverneur am Tag des Ausrufens der Ausgangssperre Anweisungen an alle Apotheken von Cizre gegeben hatte. Der Distrikt-Gouverneur konnte die Anweisung nicht faxen, da es keine Elektrizität gab. Gemäß dieser Anweisung mussten alle Apotheken außer der gegenüber dem staatlichen Krankenhaus von Cizre schließen. Kurz gesagt, das Recht auf Zugang zu öffentlicher Gesundheitsvorsorge wurde verhindert. Nur die Apotheke gegenüber dem Krankenhaus war für einige Tage bis mittags geöffnet wegen ihrer eigenen Sicherheit. Die Informationen, die besagen, dass Apotheken während dieser Zeit geöffnet waren, ist eindeutig nicht richtig. Während der öffentliche Zugang zum Gesundheitssystem blockiert war, wurden einige der geschlossenen Apotheken ebenso beschädigt.“
3. Wahrnehmungen der Anwaltsdelegation
Die Anwaltsdelegation gibt ihre eigenen Wahrnehmungen hinsichtlich der Gesundheitssituation wie folgt wieder:

„Unsere Delegation berichtet, dass der Eingang des Gartens zum Krankenhaus, die Notfall- und Intensivstation durch die Spezialeinheiten der Polizei kontrolliert und blockiert wurden. Alle Patienten wurden am Eingang der Notfallaufnahme des Krankenhauses durch die Polizei kontrolliert. Sogar ein 4 Vierjähriger mit Brandwunden, der zum Krankenhaus gebracht wurde, wurde durch die Polizei kontrolliert. Das Krankenhauspersonal gab an, dass die Notfallaufnahme des Krankenhauses geschlossen ist und die Intensivstation als Notfallaufnahme genutzt wurde. Auch unsere Delegation konnte dies im Krankenhaus wahrnehmen. Die Patienten der Intensivstation und die Patienten der Notfallaufnahme mussten in derselben Umgebung/Abteilung bleiben. Dies verursachte gefährliche Situationen für die Patienten in einer kritischen Lage und für alle Patienten. Die Patientenrechte wurden während der Ausgangssperre durch die Polizei massiv verletzt. Das Krankenhauspersonal gab an, dass nach dem Beginn der Ausgangssperre das Krankenhaus für Zivilisten geschlossen wurde. Es war nur geöffnet für Polizei und Soldaten. Personal, das versuchte, verletzten Zivilisten zu helfen, wurde durch die Polizei bedroht. Aufgrund der Bedrohung durch die Polizei, musste das Krankenhauspersonal aus dem Krankenhaus fliehen. Mitglieder des Krankenhauspersonals gaben an, dass die Polizei Waffen an ihre Köpfe hielt und sie waren ungeschützt den Beleidigungen der Spezialeinheiten der Polizei ausgesetzt. Der Notruf 112 wurde deaktiviert und den Krankenwagen wurde nicht erlaubt, die Straßen zu befahren. Wegen dieser Behinderung konnte keiner aus dem Krankenhauspersonal den verletzten Zivilisten helfen.
4. Bericht des türkischen Ärztebundes
Am 18. September suchte eine Delegation von der Ärztekammer Diyarbakir und des türkischen Ärztebundes Cizre auf und führte Gespräche mit Personal des staatlichen Krankenhauses, u.a. dem Chefarzt, Ärzt_innen und weiterem medizinischen Personal, mit Mitarbeiter_innen des Gesundheitszentrums in Cizre, mit einer Apotheke, mit der Cizre Vertretung der Ärztekammer von Şırnak, mit der Stadtverwaltung von Cizre, mit dem Bîşeng Gesundheitszentrum, mit dem Arzt der Stadtverwaltung von Cizre, dem 2. Gesundheitszentrum für Familien in Cizre, mit dem Abgeordneter der HDP Faysal Sariyildiz, mit der Bevölkerung während dem Besuch der Stadtteile Cudi und Nur. In dem Bericht der Delegation heißt es:

„(…). In Cizre existieren 8 Gesundheitszentren sowie 35 Gesundheitszentren für Familien. Alle Zentren blieben während der verhängten Ausgangssperre geschlossen und leisteten keine Gesundheitsdienstleistungen.
Aufgrund des Ausfalls der Elektrizität während der achttägigen Ausgangssperre sind in dem Landkreis vorhandenen Impfstoffe unbrauchbar geworden. Diese Impfungen wurden vom Amt für Volksgesundheit sichergestellt und bis zum 18. September 2015, als sich die Delegation in Cizre befand, nicht erneuert.
Es wird erwartet, dass neue Impfstoffe aufgrund der 9-tätigen Bayramferien ohne Verzögerungen frühstens am 28. September 2015 eintreffen werden. Das heißt, dass vom Beginn der Ausgangssperre an, somit dem 5. September 2015, insgesamt 20 bis 25 Tage keine Impfungen in Cizre durchgeführt werden konnten.
Hausärzte gaben an, dass selbst nach der Aufhebung der Ausgangssperre die Anzahl der Besucher in den Gesundheitszentren für Familien sich auf das Halbe reduziert hat. (….)
Situation der Notfallbehandlung
In Cizre sind zwei Notrufzentralen vorhanden. Der Delegation wurde berichtet, dass während der Ausgangssperre Notrufwagen in der Ortschaft nur mit Erlaubnis der Sicherheitskräfte in speziell erlaubte Gebiete gefahren seien.
Krankentransporte, die möglich waren, erfolgten in nahegelegene Ortschaften außerhalb von Cizre.
Situation der Behandlungsdienste
In Cizre leistet das staatliche Krankenhaus als einzige öffentliche Einrichtung auf der zweiten Stufe gesundheitliche Dienste. (…)
In der Notfallbehandlungsstation waren zum Beginn der Ausgangssperre 4 Ärzte beschäftigt. Zwei dieser Ärzte kündigten, einer von den verblieben zwei Ärzten nahm sich Urlaub.
In der Notaufnahme wurden Dienstleistungen von einem Arzt und soweit erreichbar und nach Möglichkeit von unterstützenden Fachärzten erbracht.
Es wurde berichtet, dass zum Zeitpunkt des Beginns der verhängten Ausgangssperre, der auf einen Freitagabend fiel, ein Notarzt und weiteres medizinisches Personal im staatlichen Krankenhaus tätig waren, die Krankenhausleitung als auch andere Mitarbeiter_innen aufgrund des anstehenden Wochenendes jedoch nicht im Krankenhaus waren. Nach Beginn der Ausgangssperre hätten Ärzte, die keinen Dienst hatten, versucht das Krankenhaus zu erreichen, jedoch ohne Erfolg.
An den ersten vier Tagen der Ausgangssperre hätte sich ein Anästhesist und in der Notfallstation ein praktischer Arzt befunden. Erst am vierten Tag der Ausgangssperre hätten die Krankenhausleitung und andere Fachärzte das Krankenhaus erreicht.
Es wurde berichtet, dass sich während der Ausgangssperre durchgehend eine Vielzahl von Mitgliedern der Sondereinsatzpolizei im staatlichen Krankenhaus aufgehalten hätte; die Anwesenheit dieser bewaffneten Polizisten im Krankenhaus, im Hof und Garten des Krankenhauses habe Druck auf die MitarbeiterInnen des Krankenhauses und Patienten ausgeübt. Insbesondere nach den Abendstunden hätten sich vor der Notfallstation eine Vielzahl von Polizisten und vor dem Untersuchungszimmer aufgehalten und während der Behandlung von Notfallpatienten bewaffnete Polizisten im Untersuchungszimmer aufgehalten. (….).
In einer Nacht sei die Sicherheitskraft und Kassenwart des Krankenhauses durch Sicherheitskräfte in ein Raum eingeschlossen worden.
Während des Rundgangs unserer Delegationsteilnehmer_innen im Krankenhaus wurden in der Intensivstation Spuren von drei Schusskugeln beobachtet. (….)
In der Regel seien täglich 700 Fälle in die Notfallstation eingegangen, jedoch seien während der acht tägigen Ausgangssperre lediglich 228 Fälle in der Notfallstation eingegangen. Bei diesen Fällen seien nicht vermehrt Schussverletzungsfälle aufgetaucht. Durch Schüsse verletzte Personen hätten kein Krankenhaus aufgesucht, sondern sich selbst versorgt. Dies sei darauf zurückzuführen, weil die Verletzten befürchtet hätten, mit staatlichen Organen in Konflikt zu geraten und sich der Gefahr der Festnahme durch Sicherheitskräfte auszusetzen.
In der Geburtsstation finden normalerweise täglich 10 bis 15 Geburten statt, innerhalb der Ausgangssperre von acht Tagen, sind lediglich 12 Fälle im Krankenhaus eingegangen, bei denen 7 Fälle mit einer Geburt geendet haben. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass nach den durchschnittlichen Geburtserwartungen etwa 90 häusliche Geburten in unhygienischen Zuständen, ohne Hilfe von Gesundheitspersonal stattgefunden haben müssen. Den Berichten von Ärzt_innen ist zu entnehmen, dass bei einigen Frauen, die eine häusliche Geburt durchgemacht haben, Komplikationen nach der Geburt aufgetreten sind. Bei Neugeborenen, die im häuslichen Rahmen auf die Welt kamen, habe keine nachträgliche ärztliche Untersuchungen stattfinden können. (….)
Wir konnten in Erfahrung bringen, dass es seit längerer Zeit in Cizre an Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mangelt. In der Zeit vor der Ausgangssperre seien aus den umliegenden Landkreisen und Dörfern Patientinnen in das Krankenhaus in Cizre gekommen. Es ist klar geworden, dass während der Ausgangssperren diese Patientinnen ausblieben und keine Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nahmen.
Aus der Sicht von chronisch kranken Bürger_innen stellt sich die Situation wie folgt dar: Menschen, die an Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Asthma, chronische Bronchitis, Epilepsie erkrankt waren, konnten ihre erforderlichen Medikamente nicht besorgen, weil Apotheken ebenfalls geschlossen waren.
Uns wurde berichtet, dass 68 Menschen in Cizre dauerhaft dialysiert werden müssen und deren Behandlung während der Ausgangssperren beträchtlich beeinträchtigt wurde. In den ersten vier Tagen der Ausgangssperre hätten dialysepflichtige Menschen nicht das Haus verlassen können. In den restlichen fünf Tagen sollen lediglich 25 dialysepflichtige PatientInnen das Krankenhaus erreicht haben. (….)
Der seelische Gesundheitszustand der Bevölkerung
Uns wurde berichtet, dass nach der Aufhebung der Ausgangssperren in der Poliklinik für Psychiatrie des Krankenhauses bei jedem/r dritten Patient_in akute Belastungsreaktionen festgestellt worden seien. Die Behandlung von Patient_innen, die an Bipolarstörungen und Psychose leiden, sei ausgeblieben. In der Regel würden 45 bis 50 Patient_innen täglich in die Poliklinik für Psychiatrie kommen, währen der Ausgangssperre habe sich diese diese Summe halbiert.
Die Ereignisse während der Ausgangssperre haben insbesondere Auswirkung auf die Kinder gehabt. Es wurde festgestellt, dass Kinder verbreitet Verhaltensänderungen, wie Angst vor der Dunkelheit in der Nacht, keine Durchführung von Toilettengängen usw. aufwiesen.
Weiterhin wurde berichtet, dass es in Cizre keinen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt und deswegen normalerweise ein Facharzt in Şırnak aufgesucht werden muss. Das Verbringen von Kindern und Jugendlichen nach Şırnak während der Ausgangssperre sei ein großes Problem gewesen.
Die Probleme des medizinisches Personal
Die Angestellten des Gesundheitswesens sind auf Grund der Ereignisse während der Ausgangssperre besonders betroffen gewesen, der Stress und die Anspannung des medizinischen Personals sei ständig spürbar gewesen.
Während der Ausgangssperre seien 4 bis 5 Pflegekräfte mit Waffen durch Sicherheitskräfte bedroht worden. Pflegekräfte hätten sich selbst Venenverweilkanülen gelegt, damit sie nicht als Pflegekräfte erkannt werden; eine Pflegekraft habe auf Grund der Auswirkung der Ereignisse 1,5 Tage lange nicht sprechen können.
Es wurde uns mitgeteilt, dass in einer Nacht die Mobiltelefone der Pflegekräfte durch Sicherheitskräfte beschlagnahmt wurden.
Das Gesundheitspersonal ist besorgt um sein Leib und Leben und das der Bevölkerung. Insbesondere die Bilder aus einigen Stadtteilen, die an Ruinen erinnern, die angespannte Lage, die Befürchtung die Vorfälle könnten sich wiederholen, haben das Gesundheitspersonal in Besorgnis und Unruhe gestürzt. Diese Situation beeinflusst die Gesundheitsdienstleistung negativ.
Man berichtet uns, dass der Tod der Pflegekraft Eyüp Ergen (Anmerkung der Unterzeichnerin: Eyüp Ergen wurde Ende August 2015 nach Zeugenaussagen durch Sondereinheitskräfte in Şırnak erschossen) zu einem ernsthaften Trauma beim Gesundheitspersonal geführt hat. Einer der Ärzte hat gesagt, dass sie von Angehörigen gesagt bekämen, sie sollten auf sich Acht geben und der Arzt sagte weiter: „Diese gut gemeinte Sätze sind in der Situation, in der Menschen durch Schüsse aus unbekannten Richtungen getötet werden, völlig sinnlos, man hat nichts mehr, worauf man Acht geben könnte.“ Dies zeigt den seelischen Zustand des Arztes.
Seit dem ersten Tag der Ausgangssperre sei es den Ärzt_innen und dem weiteren Pflege- und Gesundheitspersonal nicht möglich gewesen, ihre Arbeitsstätte zu erreichen. Obwohl sie sich bei den Sicherheitskräften als Ärzt_innen ausgegeben hätten, seien sie mit unangemessener und abschreckender Behandlung konfrontiert gewesen, sie seien aufgefordert sich auf dem Boden zu legen und seien beschimpft worden.
Umweltgesundheit
Im Landkreis Cizre existiert auch normalerweise ein Versorgungsproblem mit sauberem Trinkwasser. Die Stadtverwaltung von Cizre verteilt deswegen zwei mal die Woche sauberes Trinkwasser an die Haushalte. Die Einwohner lagern das Wasser in Depots auf ihren Häusern. Im Falle, dass kein fließendes Trinkwasser vorhanden ist, versorgen sich die Einwohner aus diesen Wasserdepots.
Auf Grund dieser Versorgungsprobleme mit Trinkwasser gibt es in manchen Haushalten Wasserbrunnen, aus denen Wasser bezogen und durch eigene Kläranlagen gereinigt wird.
Es wurde berichtet, dass die Stadtteile Cudi und Nur unter Belagerung genommen worden seien und während dessen durch Schüsse alle auf den Häusern befindlichen Wasserdepots durchlöchert worden seien.
Die Bevölkerung habe versucht aus den vorhandenen Wasserbrunnen Wasser zu ziehen, jedoch seien in einigen Stadtteilen die Transformatoren zerstört worden und der Strom ausgefallen, in anderen Stadtteilen sei der Strom des öfteren ausgefallen und deshalb sei es nicht möglich gewesen mit elektrischen Pumpen Wasser aus den Brunnen herauszuholen und es zu elektrisch zu klären.
Uns berichten Ärzt_innen, dass nach dem Ende der Ausgangssperre Eingänge von Krankheitsfällen mit Durchfall bei Kindern zugenommen hätten. (…)
Bei einer Untersuchung von einem zweijährigen gestorbenen Kind im staatlichen Krankenhaus von Cizre habe sich der Verdacht auf Dehydration erhärtet.(…)
Schlussfolgerung
Die Vorfälle während der neuntägigen Ausgangssperre in Cizre sind mit universellen Werten und Menschenrechtsgrundsätzen nicht vereinbar.(…)
Das Ende der Ausgangssperre bedeutet nicht gleichzeitig, dass Verletzung und der Tod von weiteren Menschen eine Ende gefunden hat. Die Zerstörung von Infrastruktur, insbesondere die Verschmutzung von Wasser in erster Linie, haben zu Probleme der Umwelthygiene geführt. Die Möglichkeit der Einwohner_innen, sauberes Trinkwasser aus den Wasserdepots auf ihren Häusern zu beziehen ist auf Grund der Schüsse aufgehoben und deswegen verbrauchen die Einwohner_innen ungesundes Wasser. In Folge dessen ist eine Steigerung von Magen-Darm Infektionen bei den Einwohner_innen zu beobachten. Es bestehe der Verdacht, dass ein zweijähriges Kind auf Grund von Dehydration gestorben sei. (….)
Durch die neun Tage anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen wurde das tägliche Leben unmöglich gemacht; dadurch, dass die Menschen einem permanenten Todesrisiko ausgesetzt waren, dass auf die Häuser gezielt wurde, in denen Menschen zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung lebten und sich in ihnen im Grunde am sichersten fühlten, dass permanent Schussgeräusche zu hören sind, sowie das ständige Sehen von Verletzung und Tötung von Menschen, hat den seelischen Gesundheitszustand der Menschen, vor allem der Kinder, extrem beeinträchtigt. (….)
Während der Ausgangssperre wurde die Inanspruchsnahme von Gesundheitsdienstleistung in folgender Art und Weise verhindert: Menschen konnten sich nicht auf die Straße begeben und im Falle, dass sie es taten, bestand die Wahrscheinlichkeit, Schüssen ausgesetzt zu sein. Das Krankenhaus war von Sondereinsatzpolizisten umzingelt und in eine Zentrale der Polizei verwandelt; konnten die Menschen das Krankenhaus erreichen, waren sie Beleidigungen, Gewalt und Festnahme der Sicherheitskräfte ausgesetzt.
Es wird erwartet, dass in den nächsten Tagen die Angaben über Früh- und Fehlgeburten und andere Komplikationen bei diesen Geburten bekannt werden (Anmerkung der Unterzeichnerin: diese Daten sind nicht bekannt, insbesondere auch, weil sich die Situation nach dem Besuch der Delegation nicht etwa entspannte, sondern weiter angespannt blieb und es weitere Ausgangssperren gab, wie es auch unter Teil B, 4. Teil ausgeführt wird). (…)
Die Steigerung von Fällen von Durchfall in den bevorstehenden Tagen ist wahrscheinlich und es könnte zu einer Epidemie führen.
Außerdem wurde hinsichtlich der Getöteten festgestellt, dass nach der Untersuchung der Getöteten im staatlichen Krankenhaus in Cizre, die Leichname nach Şırnak geschickt und dort eine Autopsie durchgeführt worden ist. Während der Autopsie waren rechtliche Vertreter der getöteten Personen und unabhängige Fachleute nicht anwesend. Autopsieberichte wurde den betroffenen Familien nicht ausgehändigt. Daher bleibt die Todesursache und die zum Tode führende Verletzungen dieser Menschen ungeklärt.“

III. Zeugenaussagen hinsichtlich Lebensmittelversorgung
Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung können folgende Zeugenaussagen wiedergegeben werden:
1. Ramazan Tavlar, Bäckereibesitzer :
„Die Bäckerei, gelegen im Stadtviertel Sur Nusaybin Straße Nr. 123 a, war vom Tag der Verkündung der Ausgangssperre am 04.09.2015 bis zum ihrem Ende, 12.09.2015, geschlossen. Als sie begonnen die Ausgangssperre durch gepanzerte Fahrzeuge bekanntzugeben, evakuierten wir die Bäckerei. Meine Bäckerei wurde durch Polizeikugeln unter Beschuss genommen, obwohl die geschlossen war. Wir konnten die Bäckerei während der Ausgangssperre nicht erreichen. Ich habe außer dieser noch eine andere Bäckerei, gelegen im Stadtviertel Nur. Als die Ausgangssperre begann, saßen meine Angestellten dort für 6 Tage fest. Als der Laden durch Kugeln getroffen wurde, versteckten sie sich im Obergeschoss. Ich versuchte mit meiner Frau gemeinsam, dorthin zu gelangen, da ich dachte, dass sie hungrig und durstig sind. Aber ich und meine Frau wurden durch die Polizei aufgehalten und bedroht, in dem sie uns sagten, sie würden uns erschießen, wenn wir nicht zurückgehen. Wir entkamen, wobei wir immer auf höhere Gebäude achteten, um uns vor Scharfschützen zu schützen und entkamen zwischen den Straßen. Meine beiden Bäckereien blieben währen der gesamten Ausgangssperre geschlossen.“
2. Nimet Simsek :
„Ich bin ein Straßenverkäufer vor der Bäckerei in der Nusaybin Straße 123a. Wir gingen nicht raus während der Ausgangssperre. Zwei Tage nach der Ausgangssperre waren wir ohne Essen zu Hause. Deshalb ging ich raus zur Bäckerei, um Brot zu holen, aber sie war geschlossen. Außer dass sie geschlossen war, schossen sie auch noch auf mich, als ich dort ankam. Wir konnten entkommenentkamen.“
3. Ramazan Batar, Bäckereibesitzer
„Ich bin der Eigentümer der Tatlisöz Bäckerei im Stadtviertel Alibeyler. Wir waren in der Bäckerei an dem Tag, an die Ausgangssperre ausgerufen wurde. Normalerweise arbeiten wir in zwei Schichten Tag und Nacht. Aber während der Ausgangssperre konnten wir nur die Tagschicht arbeiten. Wir produzierten zweimal mehr Brot, um die Menschen nicht hungrig zu lassen. Trotzdem mussten mir manchmal stoppen dann und wann. Wir arbeiteten nur während des Tages, um unser Leben zu schützen und um unsere Bäckerei nicht schließen zu müssen. Es gab große Schlangen der Menschen aus dem Stadtviertel Alibey vor unserer Bäckerei, weil es keine anderen Läden gab, die offen hatten. Manchmal kam die Polizei und sagte, sie würden die Bäckerei schließen, wenn da eine Menschenmenge davor sei. Menschen aus anderen Stadtvierteln konnten nicht hierher kommen. Eine Person aus unserem Distrikt sagte, sie wolle etwas Brot in den Distrikt Nur bringen, weil die Menschen dort verhungerten. Wir gaben ihm Brot, aber wir wissen nicht, ob er das Viertel erreichen konnte oder nicht. Einmal warf die Polizei Tränengas in unsere Bäckerei, weil es vor dem Laden eine Menschenmenge war. Aber wir wussten, dass unsere Bäckerei die einzige war, die offen hatte und das Brot reichte nicht einmal für dieses Stadtviertel. Wir arbeiteten nur während des Tages, aber es war nicht genug.“
4. Salih Askin :
„Ich arbeite in der Tatlisöz Bäckerei in Alibeyler Stadtviertel. Ich konnte vom Stadtviertel Cudi aus nicht zum Alibey Distrikt kommen während der Ausgangssperre. Wir blieben hungrig als wir nichts mehr hatten.“
5. Celal Islek, Ladenbesitzer :
„Mein Laden war während der Ausgangssperre offiziell geschlossen, aber nach dem 5. Tag konnten wir Menschen über die Hintertür bedienen. Zwei Angestellte und eine Sicherheitsperson blieben im Supermarkt während der Ausgangssperre. Der Laden wurde während dieser Zeit nicht attackiert. Wir verloren frisches Fleisch, Milch und Gemüse, weil der Strom ausgefallen war. Wir hatten deshalb einen Verlust von 10.000 türkischen Lira. Wegen des Stromausfalls, begann der Generator für eine Weile zu arbeiten, sodass auch das Diesel-Öl aufgebraucht war. Aufgrund der 9-tägigen Ausgangssperre hatten wir eine ernsthafte Gewinneinbuße. Es wird mehrere Monate dauern, die Verluste wett zu machen. Die Versorgungsunternehmen hatten Schwierigkeiten, uns neue Produkte zu bringen. Wie verloren geschätzt 100.000 Türkische Lira während der Zeit der Ausgangssperre. Nach diesen Ereignissen wurde unsere Arbeitszeit reduziert. Während wir vorher bis 24 Uhr arbeiteten, müssen wir jetzt um 17 Uhr schließen. Wir haben auf lange Sicht gesehen großen Schaden.“
IV. Angaben hinsichtlich Stromversorgung
Während der Ausgangssperre war die Stromversorgung nahezu vollkommen unterbrochen. Die Unterbrechung der Stromversorgung wird in einigen der oben bereits unter anderen Punkten wiedergegebenen Aussagen, sowie auch unter den noch weiter unten zu den einzelnen Fällen von Toten und Verletzten wiedergegeben Aussagen immer wieder thematisiert. Diese Aussagen sollen daher hier nicht noch einmal wiedergegeben werden, sondern lediglich die Informationen, die das Stromunternehmen dazu an die Anwaltsdelegation gegeben hat.

Informationen von DEDAS (Stromvertriebsunternehmen)
Der Stromausfall begann 1–2 Stunden nachdem die Ausgangssperre am 04.09.2015 ausgerufen worden war. Selbst wenn das Stromniveau schwankt, kann man sagen, dass ein Transformator Strom für wenigstens 75 Haushalte liefert. Dadurch, dass 21 Transformatoren nicht funktionierten, blieben 1500 Haushalte ohne Strom. Die Arbeiter von DEDAS konnten während des gesamten Zeitraums nicht arbeiten. Einige der Angestellten, die in den inneren Stadtvierteln wohnen, versuchten zu arbeiten. Wegen der Beschwerden wollten einige Angestellte in den Distrikt Nur gehen, um einiges zu reparieren. Obwohl das Auto, in dem sie sich befanden, zum Versorgungsunternehmen gehörte, waren die Gewehre auf die Angestellten gerichtet und sie mussten sich in einem Haus verstecken. Die Probleme, die vom Stromausfall herrührten, konnten nicht repariert werden, einige Distrikte haben immer noch keinen Strom. Sicherheitskräfte warnten das Elektrizitätsunternehmen, nicht dahin zu gehen wegen fehlender Sicherheit für Leib und Leben.
Die Bestandsaufnahme (Ergebnisse) nach der Ausgangssperre: Technisch sind dort einige Leitungen, die die Transformatoren verbinden. Die Leitung zwischen Nummer 14 und 25 im Stadtviertel Nur war zerschnitten, der Strom zu den Transformatoren war blockiert und alle Transformatoren waren später explodiert. Insgesamt waren 21 Transformatoren explodiert oder in einer Art und Weise zerstört, dass sie in ganz Cizre nicht funktionierten, besonders im Distrikt Nur. Im Bericht von DEDAS waren keine Explosionen erwähnt. Ungefähr 4 oder 5 tausend Meter der Elektrizitätsleitungen, die die Transformatoren verbinden, sind außer Betrieb. Durch Kugeln sind ernsthafte ökonomische Schäden an den Kabeln entstanden.
C. Zeugenaussagen zu einzelnen Fälle von Toten und Verletzten
Hier sollen nun die einzelnen Fälle von Toten (I.) und Verletzten (II.) mit den entsprechenden Zeugenaussagen wiedergegeben werden.
I. Fälle von Toten
Hinsichtlich der Zivilist_innen, die ihr Leben verloren haben, sollen zunächst die Fälle derjenigen dargestellt werden, die erschossen wurden und dann entweder sofort oder dadurch, dass sie keine oder nicht rechtzeitig medizinische Hilfe erhielten, starben (1.), dann diejenigen, die nicht durch Schüsse verletzt wurden, aber wegen mangelnder medizinischer Hilfe starben (2.) und dann schließlich diejenigen, die aufgrund des durch den ständigen Beschuss produzierten Angst und Stress an Herzinfarkten starben (3.).
Einzelne Zeugenaussagen sind der Übersichtlichkeit halber doppelt wiedergegeben, wenn sie sich auf die Tötungen bzw. Verletzungen mehrere Personen beziehen
1. Todesfälle durch Schüsse
Insgesamt verloren 15 Zivilist_innen ihr Leben durch Beschuss durch Scharfschützen, Panzer oder Gewehrfeuer. Die Fälle werden hier im Wesentlichen zeitlich chronologisch wiedergegeben. Eine Unterscheidung zwischen den Menschen, die nach den Verletzungen zunächst noch lebten, dann aber keine medizinische Hilfe erhielten und starben wird hier nicht vorgenommen, da im Einzelfall oft nicht klar ist, ob die Person hätte überleben können oder nicht.
Bei den Zeugenaussagen wird jeweils angegeben, gegenüber wem die Zeugenaussage gemacht wurde. In der Fußnote ist dann die Fundstelle genau angegeben.
(1) Mehmet Emin Levent
Mehmet Emin Levent ging im Viertel Nur, am 04.09.2015 gegen 01:00 Uhr morgens, nachdem er draußen Schreie gehört hatte, aus seinem Haus und wurde dabei durch Scharfschützen angeschossen. Nachbarn trugen ihn in einen Innenhof, aber die Polizei erlaubte Krankenwagen nicht, in die Region zu fahren und er verblutete.
(a) Hanife Levent, Schwester von Mehmet Emin Levent gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Der 4.9.2015 ist der erste Tag des Beginns der Ausgangssperre im Şırnak Cizre Bezirk. Es gab noch keine ernsten Vorfälle. Mein Bruder ging hinaus auf die Özgür Straße im Stadtviertel Nur, um Zigaretten zu kaufen. Nach einigen Minuten, gab es ein schockierendes Geräusch, wie eine Bombe. Dann waren da Gewehrschüsse. Unter Geschrei liefen wir auch raus. Dann war die Elektrizität aus und ich hatte keinen Empfang. Obwohl wir nach ihm riefen, konnten wir ihn nicht erreichen. Da wir erneut Gewehrfeuer hörten, gingen wir aus Angst, wie alle, nach Hause.
Durch die Nachbarn erfuhren wir Neuigkeiten, aber es wurde gesagt, er sei verletzt. Ich und meine Mutter gingen raus, konnten ihn aber, obwohl es hell war, nicht finden.
Während mein Bruder verletzt war, wurde er mit Hilfe von Nachbarn zu einem Haus in der Özgür Straße gebracht. Wir wussten, dass mein Bruder durch Scharfschützen getroffen worden war. Er gehörte zu denjenigen, die in der ersten Nacht erschossen wurden.
Nachbarn wussten nicht, wo er ist. Wir gingen zur Moschee, wo Leichen gesammelt wurden, aber er war nicht dort. Menschen, die dort waren, sagten, die Abgeordneten hätten gesagt, dass keine Krankenwagen kommen konnten, um Personen ins Krankenhaus zu bringen.
Während der 8 Tage, die die Ausgangssperre andauerte, warteten wir, ohne zu wissen, wo mein Bruder ist. Der Grund war, dass wir wussten, dass Scharfschützen und Militärfahrzeug im Stadtviertel unterwegs sind. Er blieb dort, wo er erschossen wurde bis um 06:00 Uhr des 12.09.2015.
Am 12.09.2015, an dem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, informierte uns die Gemeindepolizei, dass sich Leichen im staatlichen Krankenhaus von Cizre zur Untersuchung/Identifizierung befinden. Ich und meine Familie gingen zum Krankenhaus. Am Krankenhaus trafen wir auf Polizisten. Es war ein Staatsanwalt bei ihnen. Sie brachten uns zur Leichenhalle zur Identifizierung. Ich erkannte meinen Bruder. Dann wurden die Stellungnahmen aufgeschrieben. Der Staatsanwaltschaft sagte uns eindringlich, dass wir die Leiche aus der Leichenhalle nehmen müssen. Aufgrund dieser eindringlichen Aufforderung nahmen wir die Leiche mit unserer Familie mit und brachten meinen Bruder vom Krankenhaus zu einem Ort, der als Kühllager des Marktes von Cizre genutzt wurde. Am nächsten Tag beerdigten wird ihn gemeinsam mit anderen Leichen.“
(2) Cemile Çağırga (10)
Die Zehnjährige Cemile Çağırga wurde durch Scharfschützen getötet, die am Abend des 6. September das Feuer auf das Stadtviertel Cudi eröffneten, als sie sich gerade in ihrem eigenen Innenhof befand. Ihrer Mutter wurde nicht erlaubt, ihre Leiche aus dem Haus zu entfernen wegen der Ausgangssperre, ihr Körper musste 2 Tage in der Kühltruhe des Hauses aufbewahrt werden.
(a) Ramazan Çağırga, Vater von Cemile Çağırga, gegenüber der Anwaltsdelegation: :
„Meine Tochter wurde am dritten Tage der Ausgangssperre gegen 21 Uhr durch Scharfschützen in ihren unteren Brustkorb geschossen. Wir waren im Garten. Als wir sahen, dass sie erschossen worden war, versuchten wir, sie rein zu holen und im selben Moment gab es Gewehrfeuer. Wir waren in der Lage über das Avea Telefon meines Sohnes – Avea war der einzige teilweise funktionierende GSM-Anbieter in Cizre – die 112 Hotline anzurufen. Aber aus Sicherheitsgründen, sagten sie, würde der Krankenwagen nicht kommen. Solange wir nicht herausgehen konnten, brachten wird den Körper meiner Tochter in den Eisschrank unseres Nachbarn, Mehmet Matur, der Fleischer ist, damit der Körper meiner Tochter nicht anfängt zu riechen. In der ersten Nacht nach ihrem Tod, bedeckten wir ihren Körper mit Eis während ihre Mutter in ihrer unmittelbaren Nähe schlief. Der Abgeordnete Faysal Sariyildiz war über den Vorfall informiert, da er im Stadtviertel war. Nachdem die Presse den Fall öffentlich gemacht hatte, probierte der Abgeordnete die Erlaubnis für die Beerdigung am Morgen des 09.09.2015 zu bekommen. Gegen 10 Uhr erschien der Abgeordnete, um den Leichnam zur Sheikh Sirak Moschee an der Idil Route zu bringen. Aber als sie auf die Straße hinausgingen, wurde die Kommission über Lautsprecher gewarnt und sie feuerten auf sie. Wir konnten gerade noch den Krankenwagen erreichen. Sie feuerten danach erneut offenes Feuer auf Zivilisten. Niemanden wurde erlaubt, den Krankenwagen zu begleiten, nicht mal uns. Sie wurde unbegleitet in der Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses von Şırnak behalten. Wir konnten aufgrund unserer persönlichen Kontakte in Şırnak herausfinden, dass sie sich dort befindet. Es war besonders schmerzhaft für uns, sie selbst zu waschen, sie zum Krankenwagen zu bringen, sie im Eisschrank aufzubewahren und sie mit Eis zu bedecken, damit sie nicht stinkt.
Sie wurde in der Nacht auf den 12. September vom staatlichen Krankenhaus in Şırnak für die Beerdigung zurückgebracht. Ich wurde gefragt, sie aus dem Hospital abzuholen. Uns wurde ein Identifizierungsprotokoll sowie die Todesurkunde gegeben und wir wurden gebeten, unsere Tochter mitzunehmen. Wir mussten den Körper unserer Tochter in die Kühlanlage des Gemüsemarktes von Cizre bringen. Da waren vier weitere Leichen (Sait Çağdavul). Wir konnten die Leiche am 13. September begraben. Ich denke, dass meine Tochter Cemile durch Scharfschützen erschossen wurde, die sich auf der Schule platziert hatten, die perfekt in das Sichtfeld unseres Hauses fällt.
Niemanden von uns wurde erlaubt, im Krankenwagen mitzufahren und wir wurden nicht darüber informiert, welches Material aus ihr herausgeholt wurde und was sie damit nach der Autopsie im staatlichen Krankenhaus von Şırnak getan haben.“
(b) Emine Çağırga, eine Hausfrau, gegenüber HRW
„Emine Çağırga, Hausfrau, sagte, dass ihre 13-jährige Tochter, Cemile, auf der Straßen unmittelbar vor ihrem Haus im Stadtviertel Nur erschossen wurde und zeigte die Einschusslöcher in der Tür.
Die Örtlichkeit ist ziemlich nah zu dem Haus der Familie Edin und ist an einem hervorgehobenen Hügel über große Entfernung hinweg klar einsehbar von anderen Teilen von Cizre aus. Emine Çağırga und andere Verwandte, mit denen HRW sprach, machten die glaubwürdige Vermutung, dass Scharfschützen, positioniert auf hohen Gebäuden in anderen Teilen der Stadt, die Örtlichkeit unter Beschuss genommen haben könnten.
Es war Sonntagabend (06. September) und wir hörten Schüsse und sahen, dass Cemile zu Boden fiel. Ich sagte: „Steh auf, steh auf.“ Sie rief: „Mutter, Mutter“ und starb. Wir brachten ihren Körper ins Haus und ich hielt ihre Hände bis zum Morgen und packte Eis auf ihren Körper. Dann wuschen wir ihren Körper am folgenden morgen, ich brachte Henna auf ihr Hände, wir wickelten sie in ihr Leichenhemd und legten ihren Körper in den Eisschrank. Am Ende des zweiten Tages, am Abend, kamen die Parlamentarier von Şırnak und brachten Cemiles Körper in die Moschee in der Idil Straße. Ihre Autopsie erfolgte in Şırnak und dann begruben wir sie.“
(c) Ramazan Çağırga (44), Vater von Cemile Çağırga, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Meine Tochter wurde am dritten Tag der Maßnahmen im Innenhof unseres Hauses erschossen. Es war gegen 21 Uhr am Abend. Ich, ihre Mutter und meine anderen Kinder waren zu Hause. Wir denken, sie feuerten von Orten wie Schulen und öffentlichen Plätzen im Stadtviertel Karayollan. Die Kugeln, die benutzt wurden, waren sehr groß. Schusslöcher sind immer noch an unseren Wänden und Türen zu sehen.
(Beobachtungen durch die Mitglieder der Anwaltskammer: Das Hause wurde aufgesucht und die Einschusslöcher in den Wänden und Türen wurden mit einer Kamera fotografiert. Der Ort, von dem geschossen wurde, wurde überprüft. Es wurde gesehen und fotografiert, dass die Tür des Hauses und die Straße, an der das Haus liegt, von der Abschussstelle genau gesehen werden kann.)
Unser Haus kann einfach gesehen werden, weil es an einem hohen Ort gelegen ist. Meine Tochter verlor ihr Leben 10 Minuten nachdem sie angeschossen worden war. Wir riefen das Krankenhaus an und den Notruf 112 beinahe sofort, aber das Gesundheitspersonal konnte nicht kommen. Wir riefen den Abgeordneten der HDP Faysal SARIYILDIZ. Zu diesem Zeitpunkt hatte unser Haus Stromversorgung. Wir konnten ihn über Festnetztelefon erreichen.
Wir legten die Leiche meiner Tochter in einen Eisschrank, um ihren Körper vor Fäulnis zu bewahren, als niemand kam. Wir behielten ihre Leiche in dem Eisschrank für zwei Tage. Nach zwei Tagen brachten wir ihren Körper mit der Hilfe des HDP Abgeordneten in die Leichenhalle der Moschee. Bis jetzt hat keine Behörde/Obrigkeit Kontakt mit uns aufgenommen. Sie habe keine Erklärung eingeholt.
Mein Bruder ging zum Krankenhaus, um sie zu identifizieren. Da ist eine Eintrittsstelle der Kugel, aber keine Austrittsstelle. Die Kugel ist noch in ihrem Körper. Der Name meiner Tochter ist Cemilie, aber wir nennen sie Cizir seit sie klein war. Ihr wirklicher Name ist Cizir. Unser Nachbar Abdullah Özcan wurde am selben Tage verletzt, aber wir konnten uns gegenseitig nicht helfen, weil wir unter schwerem Beschuss waren. Ich habe gehört, sie haben sein Bein amputiert.
Ich hatte 1992 sieben Familienmitglieder in einem Haus im Stadtviertel Cudi aufgrund des Beschusses durch das Militär verloren. Acht von uns wurden verwundet.“
(d) Familie Çağırga gegenüber den Schweizer Jurist_innen
„Die Familie Çağırga sei bereits von den militärischen Interventionen 1992 in Cizre betroffen gewesen. Damals seien sieben Familienmitglieder getötet (zwei Töchter, die Großeltern väterlicherseits, zwei Brüder väterlicherseits und eine Schwägerin) und weitere sieben Angehörige verletzt worden. Während der Ausgangssperre Anfang September 2015 habe sich die 10-jährige Cemile am »lauten Protest« der Zivilbevölkerung beteiligt und sei mit Topfdeckeln auf der Straße gewesen. In ihrem Wohnviertel seien keine Panzer eingesetzt worden, Scharfschützen hätten jedoch gezielt auf Zivilist_innen geschossen. Als Cemile von der Straße in ihren Innenhof treten wollte, sei sie von einem Scharfschützen in den Rücken geschossen worden – das Projektil sei von hinten in das Herz eingedrungen. Der Leichnam habe von der Familie geborgen und ins Innere des Hauses gebracht werden können. Die Familie habe die Tochter gewaschen, die Haare und Hände mit Henna gefärbt, den Körper zuerst in ein weißes Tuch, danach in Plastik gewickelt und in einer Tiefkühltruhe gelagert. Hiervon hat die Familie ein Foto gemacht und den Medien zur Verfügung gestellt, um auf die Geschehnisse in Cizre aufmerksam zu machen. Die türkische Regierung habe hierauf mitgeteilt, das Foto sei nicht aus Cizre, sondern stamme aus dem Gazastreifen. Die Eltern haben zusammen mit mehreren anderen Angehörigen der übrigen Opfer und dem Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi Anzeige erstattet.“
(3) Said Çağdavul (19)
Er wurde im Stadtviertel Nur, am 06.09.2015, von einem gepanzerten Fahrzeug aus in den Nacken und in seinen Körper geschossen und verlor vor den Augen seiner Familienmitglieder sein Leben, weil es nicht ermöglicht wurde, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Als der Vater die Leiche schließlich nach der Autopsie identifizieren sollte, musste er feststellen, dass seinem Sohn die Augen entfernt worden war und der Staatsanwalt auf Nachfrage angab, dies sei ggf. bei der Autopsie erfolgt, einen Sachgrund dafür konnte er aber weder benennen, noch ist er erkennbar. Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass es sich dabei um eine bewusste Schändung der Leiche handeln könnte.
(a) Abdullah Çağdavul, Vater von Said Çağdavul, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Da war intensiver Lärm von Gewehrfeuer, beginnend am Anfang der Ausgangssperre um 20 Uhr in der Özkan Avenue, wo wir wohnen. Da unser Haus am Anfang der Özkan Straße liegt und wegen der Kugeln, die – von den Militärfahrzeugen aus – unser Haus trafen, entschieden wir uns, mit den anderen Familienmitgliedern gegen 02 Uhr nachts zum Haus unseres Vaters zu gehen. Während wir zum Haus meines Vaters gingen, welches auch an der Ecke Özkan Avenue/Kent Straße ist, sahen wir Gewehrfeuer und Bomben, die überall in das Viertel geworfen wurden. Während wir mit der ganzen Familie die Straße betraten (7 Menschen) sahen wir mein Kind, Said Çağdavul, umfallen durch Kugeln, die ihn in seinen Hals und Arm trafen. Wir nahmen meinen Sohn Said zum Haus meines Vaters und riefen sofort 112. Aber wegen des schweren Gewehrfeuers und dem Artilleriebeschuss, sagten sie, sei es aus Sicherheitsgründen nicht möglich, zu kommen. Trotz all der Anrufe sagten sie, sie seien nicht in der Lage zu kommen. Da die Telekommunikation nicht funktioniert, konnten wir niemanden anderes rufen.
Alle Mobiltelefone und GSM Betreiber waren aus. Trotz all unsere Versuche, zu intervenieren, starb mein Sohn innerhalb einer halben Stunde. Nachdem er gestorben war, legten wir ihn auf den Grabstein an der Moschee im Viertel, eingehüllt in ein Bettlaken. Auch während wir meinen Sohn in die Moschee brachten, gab es heftigen Waffen- und Artilleriebeschuss in die Richtung, in der wir uns befanden. Wir blieben in der Moschee bis zum Mittag des nächsten Tages und erzählten die Situation der Delegation, in der sich auch die Abgeordneten von Şırnak, Leyla Birlik und Ferhat Encü befanden.
Obwohl sie darauf bestanden, zu versuchen, meinen Sohn zu begraben, kam der Krankenwagen erst nach 36 Stunden und brachte meinen Sohn in das staatliche Krankenhaus von Şırnak. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre wurden wir für eine Autopsie/Identifizierung am 13.09.2015 ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gerufen. Nachdem die Autopsie erfolgt war, wurde die Leiche unseres Sohnes zum staatlichen Krankenhaus von Cizre gebracht. Vielleicht eher: Bei der Identifizierung konnte ich ihn zunächst nicht identifizieren, da seine Augen entfernt waren. obwohl mein Sohn zum Zeitpunkt des Vorfalls keine weiteren Verletzungen außer Einschusslöcher hatte. Als ich sorgfältig schaute, sah ich, dass er verletzt wurde, in dem ihm seine Augen absichtlich entfernt wurden. Als ich diesbezüglich die Autoritäten fragte, sagte der Staatsanwalt, der bei der Autopsie anwesend war, dass es möglicherweise während der Autopsie passiert sei. Als ich ihn fragte, warum seine Augen entfernt wurden, obwohl er durch ein Gewehr erschossen wurden und Wunden an seinem Nacken und seinen Arm und nicht seinen Augen hatte, sagte er, dass sie möglicherweise Gewebebelege aus seinen Körperteilen entnommen hätten und es vielleicht daher komme, aber er selber kenne keine Details. Nach der Autopsie nahmen wir den Leichnam unseres Sohnes mit einem Fahrzeug mit Kühlung mit anderen Leichen mit und begruben ihn am nächsten Tag.“
(b) Gurbet Çağdavul, gegenüber HRW
„Gurbet Çağdavul sagte, dass ihr Sohn, Sait Çağdavul, im Stadtviertel Nur durch Kräfte, von denen sie glaubt, dass es Polizei war, erschossen wurde. Sait arbeitete in einem Laden für einen Verwandten von uns. In der zweiten Nacht der Ausgangssperre rannten wir aus unserem Haus, weil gepanzerte Fahrzeugen in unsere Straße hineinschossen. Mein Sohn wurde vor der Tür des Hauses in seine linke Brust und in den Hals geschossen. Ein Nachbar schaffte es, den Notruf anzurufen, aber es konnte keine Krankenwagen hierher kommen. Die Polizei erlaubte ihnen nicht ins Viertel zu kommen. Wir schafften es, Sait´s Leiche zur Moschee zu bringen und dort blieb er für 3 Tage und wir konnten ihn nicht waschen, weil es kein Wasser gab. Letztendlich brachten 15 Personen, einschließlich Parlamentarier, den Leichnam gemeinsam zu einem Krankenwagen in die Idil Straße. Wir haben von keiner offiziellen Stelle etwas gehört. Wir haben nichts über das Verfahren und darüber, ob da Ermittlungen hinsichtlich Sait`s Ermordung stattfinden, erfahren. Da war nur das Geräusch von Kugeln und Beschuss. Der Staat soll uns alleine lassen, wir wollen Frieden. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder sterben, noch die Soldaten, noch andere. Unsere Kinder haben Angst vor dem Staat und können nirgends hingehen. In Cizre beachtet der Staat das Recht nicht. Selbst wenn es aktuelles Fotomaterial gibt, gibt es keine Möglichkeit, Polizisten vor Gericht zu bringen. Der Grund ist, dass wir Kurden sind. Viele Leute haben Angst, ins Krankenhaus zu gehen, weil sie befürchten, verhaftet zu werden.
(c) Abdullah Çağdavul (45), Sait Çağdavul `s Vater, gegenüber der Anwaltskammer
Mein Sohn Sait Çağdavul war 19 Jahre alt. Er arbeitete im Laden seines Onkels. Ich denke, 3 Tage der Ausgangssperre waren vergangen, als er getötet wurde. Wir verließen unser Haus und gingen hinaus, um zu einem sichereren Ort zu gehen als das Geschützfeuer und die Bomben schlimmer wurden im Stadtviertel Nur, Özkan Straße. Als ich hinausging mit meiner Frau und meinen Kindern eröffneten sie auf der Straße das Feuer auf uns.
Sie feuerten von einem Panzer aus durch den Park am Stadtviertel Nur und von Militär-Panzern am Kulturzentrum. Der Panzer war an der Ecke vom Park. Sie eröffneten das Feuer auf uns, sobald wir hinausgingen. Ich nahm wahr, wie mein Sohn zu Boden fiel. Wir nahmen unseren Sohn und brachten ihn in den Innenhof eines Hauses, dass an der Straße lag. Er quälte sich für zwei Stunden und dann starb er in meinem Armen. Nachdem er gestorben war, brachten wir ihn zur Moschee des Stadtviertels Nur. Es gab keine Stromversorgung und Telefonverbindung. Die Leiche meines Sohnes musste zwei Tage in der Moschee bleiben, dann brachten wir ihn mit Hilfe von Abgeordneten zu einem Krankenwagen, aber sie feuerten auch auf den Krankenwagen. Seine Beerdigungserlaubnis wurde erteilt. Weder meine Aussage noch die meiner Familienmitglieder wurde bis jetzt eingeholt. Ich habe nur meinen Sohn identifiziert. Ich sah, dass die Augen meines Sohns während der Autopsie entfernt wurden. Ich fragte den Staatsanwalt „warum seine Augen in diesem Zustand sind“ und er sagte mir, dass „es notwendig für die Autopsie sei“.
(4) Bahattin Sevinik (50)
Bahattin Sevinik wurde am Abend des 06. September beim Beten in den Kopf geschossen. Nachbarn, die dachten, er lebt noch, versuchten ihn, in Krankenhaus zu bringen. Als dabei die Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten, wurde Suphi Sarak erschossen (siehe Teil B, 1. Teil C I 1. (5)) und Abdullah Anakin wurde schwer verletzt (Siehe unten unter Teil B, 1. Teil C II 3.)
(a) Abdullah Anakin gegenüber HRW
„Abdullah Anakin, 28, ein Buchhalter, sagte, er war in der Botas Straße, Stadtviertel Nur, angeschossen, als er mit Suphi Sarak zusammen versuchte, Sevinik in das Krankenhaus zu fahren. Unser Nachbar Bahattin Sevinik wurde in seinem Hause nach dem Beten in den Kopf geschossen. Sein Bruder Hüsamettin rannte hinaus und rief und winkte mit einem Handy mit Licht an, rufend: „Sie haben meinen Bruder getötet“. In der Straße waren 10–15 gepanzerte Fahrzeuge, vielleicht auch mehr. Wir wussten nicht, dass er tot war. Hüsamettin sagte, er könne kein Auto fahren, um ihn zum Krankenhaus zu bringen. Wir boten an, ihn ins Krankenhaus zu fahren. Das Auto war im Hof und wir legten Bahattin ins Auto. Ich fuhr das Auto ein bis zweit Meter hinaus.
Als ich fuhr, erschien unser Nachbar Suphi Sarak, und schaute durch das Fenster des Autos und fragte, was passiert sei. Er war mit der leskeri bekleidet (traditionelle Hose der Region mit weiten Hosenbeinen). Die Straße war voll von gepanzerten Fahrzeugen der Spezialeinsatzkräfte der Polizei und sie eröffneten das Feuer auf uns, erschossen ihn und schossen mir in meine linke Hand, die sich am Lenkrad des Autos befand. Er wurde durch 10 Kugeln getroffen. Ich habe einen medizinischen Bericht erhalten, der erklärt, dass „Metallteile“ in mein linkes Auge eingedrungen sind, obwohl nicht genau spezifiziert ist, was es genau ist. Ich blieb sechs Tage zu Hause und konnte nicht in Krankenhaus, weil wir das Haus nicht verlassen konnten. Jemand den wir kannten, die Krankenschwester war, sah mich und überzeugte mich, zu gehen. Ich hatte zwei Operationen an meiner Hand und am Auge, um die drei „Metallteile“ zu entfernen. Ich kann mit meinem linken Auge nicht sehen und habe Angst, mein Augenlicht zu verlieren. Wir wissen, wie der Staat ist. Es gibt keine Sicherheit für das Leben in Cizre. Wir fürchten uns vor den blinden Kugeln, wo immer sie herkommen. Fünf verschiedene Gruppen von Polizeibeamten sind gekommen und haben mir vernommen. Ich wurde durch keinen Staatsanwalt vernommen, aber ich habe eine Beschwerde eingelegt.“
(b) Sirin Sarak (48) gegenüber HRW ,
Sirin Sarak sagte, ihr Ehemann, Suphi Sarak, 51 Jahre alt, wurde in der Botas Straße erschossen als er versuchte seinem Nachbarn Bahattin Sevinik zu helfen, der ebenfalls angeschossen wurde: Es war gegen 09:00 Uhr oder 09:30 Uhr am Dienstagabend. Die Ausgangssperre hatte am vorherigen Freitag begonnen. Die Stromversorgung war unterbrochen und da waren beängstigende Geräusche von Schüssen von draußen von der Straße. Wir hörten Schreie von unserem Nachbarn Bahattin Sevinik und in „Hilfe“ rufen. Suphi konnte nicht untätig bleiben und rannte raus vor die Tür, um Bahattin zu erreichen. Ich folgte ihm und versuchte, ihn aufzuhalten, aber er lief voraus und dann hörte ich die Erschießung/das Scharfschießen. Mein jüngerer Sohn schaute vom Balkon und sah zwei gepanzerte Polizeifahrzeuge heranfahren, sie schleiften Suphi die Straße entlang und legten ihn in ein gepanzertes Fahrzeug. Erst nachdem die Ausgangssperre Tage später beendet war, konnten wir in die Leichenhalle nach Şırnak gehen, um Suphi`s Leiche zu identifizieren. Wir bekamen einen Anruf von der Leichenhalle, die uns baten, zu kommen. Nachdem Suphi erschossen wurde, gab eine TV Station bekannt, dass die Polizei einen PKK-Militanten entdeckt habe, der PKK-Kleidung getragen habe. Suphi trug die traditionelle Beinkleidung dieser Region, Leskeri (die Botan shalvar mit den weiten Beinen). Er wurde mehrfach in seinen Rücken geschossen. Ich bin allein. Ich habe sieben Söhne und drei Töchter. Zwei meiner Söhne konnten nicht zur Beerdigung ihres Vaters kommen, weil sie in der Region am Schwarzen Meer Haselnüssen sammeln und konnten es sich nicht leisten, zurückzukommen, solange die Saisonarbeit nicht beendet ist.
(5) Suphi Sarak (52)
Suphi Sarak wurde durch Feuer, das von gepanzerten Fahrzeugen aus eröffnet wurde, angeschossen, als er versuchte, zu helfen, seinen verletzten Nachbarn Bahattin Sevinik ins Krankenhaus zu bringen. Suphi Sarak, wurde durch 5 Kugeln direkt vor seinen Kindern erschossen. Seine Familie wurde durch dieselben gepanzerten Fahrzeuge daran gehindert, seine Leiche zu bergen.
(a) Halil Sarak, Suphi Sarak`s Bruder, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am 4. Tag der Ausgangssperre hörten wir, dass 7 Mal an einem Ort in der Nähe von der Trauerhalle in der Botas Straße im Stadtviertel Nur auf ihn geschossen wurde während er lief, um Bahattin Sevinik zu helfen. Mein Bruder wurde angeschossen in der Nähe des Ortes, an dem unser Nachbar Bahattin Sevinik ermordet wurde.
Wir wissen nicht, ob der Schuss von einem Scharfschützen oder aus einem Fahrzeug kam. Die Menschen waren wegen der Ausgangssperre nicht in Kontakt miteinander. Nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, erfuhren wir von dem Tod meines Bruders als nahe Angehörige uns anriefen. Wir wissen, dass mein Bruder und Bahattin Sevinik zu Militärfahrzeugen gebracht wurden. Später wurden sie durch die Presse als „Terroristen“ bezeichnet. Unsere anderen Verwandten (Abdullah Kurt, Feyzi Kurt) gingen zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak, nachdem ihnen das Informationsblatt des Krankenhauses gegeben wurde. Abdullah Kurt wurde der Totenschein gegeben und ihm wurde gesagt, er kann die Leiche mitnehmen. Er wurde um 21 Uhr in Cizre ermordet. Aber wir konnten in keiner Weise bei ihm sein während des Vorfalls. Wir waren nicht in der Lage, herauszufinden, ob er verletzt ist oder nicht. Wir wussten nicht, ob es eine Autopsie gab oder nicht. Abdullah Kurt und Feyzi Kurt, die unsere Verwandten sind, begruben ihn in der Stadt Kasrik.
Emin Sorak, ein weiterer Angehöriger von uns, hat die Leiche identifiziert und hat das Identifikationsdokument. Da sie die Leiche nicht nach Cizre bringen konnten, mussten sie ihn in Kasrik begraben, um ihn zu konservieren und zu verhindern, dass er stinkt.“
(b) Sirin Sarak, 48, gegenüber HRW :
„Sirin Sarak sagte, ihr Ehemann, Suphi Sarak, 51 Jahre alt, wurde in der Botas Straße erschossen als er versuchte seinem Nachbarn Bahattin Sevinik zu helfen, der ebenfalls angeschossen wurde: Es war gegen 09:00 Uhr oder 09:30 Uhr am Dienstagabend. Die Ausgangssperre hatte am vorherigen Freitag begonnen. Die Stromversorgung war unterbrochen und da waren beängstigende Geräusche von Schüssen von draußen von der Straße. Wir hörten Schreie von unserem Nachbarn Bahattin Sevinik und in rufen „Hilfe“. Suphi konnte nicht untätig bleiben und rannte raus vor die Tür, um Bahattin zu erreichen. Ich folgte ihm und versuchte, ihn aufzuhalten, aber er lief voraus und dann hörte ich die Erschießung/das Scharfschießen. Mein jüngerer Sohn schaute vom Balkon und sah zwei gepanzerte Polizeifahrzeuge heranfahren, sie schleiften Suphi die Straße entlang und legten ihn in ein gepanzertes Fahrzeug. Erst nachdem die Ausgangssperre Tage später beendet war, konnten wir in die Leichenhalle nach Şırnak gehen, um Suphi`s Leiche zu identifizieren. Wir bekamen einen Anruf von der Leichenhalle, die uns baten, zu kommen. Nachdem Suphi erschossen wurde, gab eine TV Station bekannt, dass die Polizei einen PKK-Militanten entdeckt habe, der PKK-Kleidung getragen habe. Suphi trug die traditionellen Kleider dieser Region, Leskeri (die Botan shalvar mit den weiten Beinen). Er wurde mehrfach in seinen Rücken geschossen. Ich bin allein. Ich habe sieben Söhne und drei Töchter. Zwei meiner Söhne konnten nicht zur Beerdigung ihres Vaters kommen, weil sie in der Region am Schwarzen Meer Haselnüssen sammeln und konnten es sich nicht leisten, zurückzukommen, solange die Saisonarbeit nicht beendet ist.“
(6) Osman Çağlı (18)
Am dritten Tag der Ausgangssperre, am 07.09.2015, um 07 Uhr, wurde Osman Çağlı vor seinem Haus durch Scharfschützen in seine Schulter, seinen Rücken und seinen Oberschenkel geschossen. Zwei Stunden lang wurde das Eintreffen von Krankenwagen nicht erlaubt und während des Transportes des Verletzten wurde der Krankenwagen wieder und wieder gestoppt. Çağlı verblutete noch vor Eintreffen im Krankenhaus.
(a) Nuri Çağlı, Vater von Osman Çağlı, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„In der zweiten Nacht nach dem Ausrufen der Ausgangssperre, gegen 06:30 Uhr, ging mein Sohn aufgrund von Rufen von Menschen, die von der Straße kamen, hinaus. Er war in seinen Rücken geschossen worden und schwankte, sobald er raus ging. Wir gingen raus, um nach dem verwundeten Sohn zu sehen und versuchten, das Viertel über die Hauptstraße zu verlassen. Wir konnten aber nicht weiter wegen der Verschärfung des Beschusses. Es war bekannt, dass Scharfschützen an bestimmten Ort der Stadt sind. Aber ich weiß nicht genau, ob der Schuss, der meinen Sohn getroffen hat, von einem gepanzerten Fahrzeug oder von einem Scharfschützen kam. Einige Menschen riefen den Krankenwagen. Aber sie sagten, sie können nicht in das Stadtviertel kommen. Sie sagten, es sie ihnen nicht erlaubt, in das Stadtviertel zu kommen. Wir versuchten 4 Stunden lang, meinen verletzten Sohn aus dem Stadtviertel zu bringen. Nach 4 Stunden, gegen 10:00 Uhr, holte ihn ein Krankenwagen vom Kreis Cudi ab.
Als sie ihn in den Krankenwagen brachten, atmete er noch. Aber wir konnten sehen, dass er eine Menge Blut verloren hatte. Sein Körper war sehr kalt. Mehmet Salih, sein Bruder fuhr mit dem Krankenwagen mit. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Spezialeinheiten der Polizei sagten seinem Bruder, dass die Leiche seines Bruders in Krankenhaus gebracht werde und er ihn nicht begleiten könne. Wir wissen nicht genau, wo er hingebracht worden ist. Am 12.09.2015, als die Ausgangssperre aufgehoben wurde, gingen wir zu staatlichen Krankenhaus von Cizre zur Identifizierung. Ich erledigte das Identifikationsprozedere. Nach der Identifizierung sagten wir, wir wollen, dass die Leiche im Leichenhaus bleibt, da es spät in der Nacht war, aber es wurde nicht erlaubt. Deshalb mussten wir Osmans Leichnam in das Kühllager des Frucht- und Gemüsemarktes bringen. Am 13.09.2015 konnten wir ihn begraben. Der Grund für den Tod meines Sohnes ist der extreme Blutverlust, weil der Krankenwagen sehr spät kam.“
(b) Nuri Çağli (62), Osman Çağlı`s Vater gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Mein Sohn Osman Çağlı war 18 Jahre alt. Das Ereignis fand statt am dritten Tag der Ausgangssperre gegen 06:30 am Morgen. Ich übte das Morgengebet zu Hause aus. Alle waren zu diesem Zeitpunkt zu Hause. Mein Sohn ist Single. Mein verheirateter Sohn und meine Schwiegertochter waren bei uns zu Hause. Wir hörten Hilferufe. Die Geräusche von intensivem Gewehrfeuer und Explosionen waren zu dieser Zeit zu hören. Mein Sohn fragte sich, was los ist und ging raus.
Wir wagten uns nicht raus, aber mit dem Mut der Jugend wollte mein Sohn schauen, was passiert war. Nach einer kurzen Weile rief mein ältester Sohn aus dem 2. Stock des Hauses: „Osman wurde angeschossen, Vater sie haben auf Osman geschossen.“ Er wurde 40–50 Meter entfernt von der Tür des Hauses erschossen, er lag am Boden. Wir konnten nicht zu ihm in wegen des intensiven Beschusses. Sie schossen von den Dächern hoher Häuser.
Wir waren unter starkem Kugelbeschuss. Ich sah keine Panzer zu keiner Zeit. Sie feuerten von den hohen Gebäuden. Er sagte zu Menschen um ihn herum: „Ich will meine Eltern noch mal sehen bevor ich sterbe“. Seine Mutter schaffte es nicht, ihn zu sehen, aber ich. Wir versuchten 2–3 Stunden lang, unseren Sohn ins Krankenhaus zu bringen, aber wir konnten niemanden anrufen, weil es keine Telefonverbindung gab.
Zeitweise funktionierte AVEA. Der verletzte Körper meines Sohnes blieb für 2–3 Stunden am Boden. Dann schaffte es mein ältester Sohn, den Krankenwagen zu rufen und er kam mit dem Krankenwagen. Sie brachten meinen Sohn mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus, aber sie warten vor dem Krankenhaus, abgesperrt durch Polizei. Mein Sohn starb vor dem Krankenhaus. Meine beiden Söhne gingen zur Schule und lasen den Koran. Er war wie ein Diamant. Wir werden eine Beschwerde einreichen.“
(c) Mehmet Sait Çağli (23),Osman Çağli´s Bruder, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Ich schlief an diesem Morgen gegen 06:00 Uhr zu Hause. Ich hörte Menschen rufen und schreien. Jemand wurde angeschossen. Ich ging hinunter in den zweiten Stock. Da realisierte ich, dass es mein Bruder war, auf den geschossen worden war. Er starb nicht zum Zeitpunkt des ersten Schusses. Ich rannte unverzüglich zu ihm, er war verwundet. Ich sprach mit ihm; ich versuchte, ihm aufzuhelfen. Er war an seinem Fuß verletzt, ich sagte ihm, dass er an seinem Fuß verletzt sei und wieder gesund werde. Es stellte sich raus, dass er auch in seinen Bauch geschossen worden war, aber das realisierte ich später. Die Menge belagerte uns und ein Militärfahrzeug des Typs Kobra war am Ende der Straße stationiert. Menschen riefen einen Krankenwagen und 122 aber der Notrufservice kam nicht. Wir trugen ihn mit einem Tuch auf die Straße, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, aber die Polizei eröffnete das Feuer. Dann liefen wir zu einer Gasse. Während einer Feuerpause brachten wir meinen Bruder in das Beerdigungshaus der Moschee.
Dieser Ort war sicherer als andere Orte. Dann brachten wir ihn ins Krankenhaus. Sein Puls stoppte als wir unterwegs waren und dann starb er. Der Staatsanwalt war an diesem Tag im Krankenhaus. Er nahm meine Aussage auf. Ich sagte zu dieser Zeit nicht, dass von einem Panzer aus geschossen wurde, weil ich allein war. Das Krankenhaus war voll von Polizei, ich hatte Angst.“
(7) Bünyamin Irci (14)
Bünyamin Irci wurde am 09.09.2015 durch Feuer verletzt, dass von gepanzerten Fahrzeugen aus eröffnet wurde und wurde durch Zeugen in einen Innenhof gebracht. Während versucht wurde, ihn ins Krankenhaus zu bringen, eröffneten gepanzerte Fahrzeuge erneut das Feuer, woraufhin die Unterstützer wegliefen und er erschossen wurde, weil er bereits verletzt war und deshalb nicht entkommen konnte.
(a) Tarik Irci, Vater von Bünyamin Irci, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Die Ereignisse fanden während der Verkündung der Ausgangssperre am 09.09. statt. Bevor die Ereignisse begannen, ging mein Sohn Bünyamin, um seinen Großvater Ihsan Irci in seinem Dorf zu besuchen. Unser Haus befindet sich im Viertel Kale, der Onkel meines Sohnes lebt in der Irci Straße im Dicle Distrikt. Mein Sohn hat um Erlaubnis gebeten, zu gehen und seine Cousins in dem Haus seines Onkels zu sehen, der ein Fahrer ist. Aber ich habe es nicht erlaubt und er ist ohne meine Erlaubnis gegangen. Ich konnte meinen Sohn nicht erreichen, weil seine Telefone ausgeschaltet waren. Obwohl ich nach ihm suchen wollte, konnte ich das Haus nicht verlassen, da dort Scharfschützen in der Regierungsvilla waren, in der direkten Nähe unseres Hauses und der Minarette. So weit ich es später erfahren habe, trug mein Onkel aus dem Stadtviertel Nur Eis und Brot in das Dicle Stadtviertel. Am 7. Tag der Ausgangssperre, lass ich die Neuigkeiten über den Tod meines Sohnes Bünyamin. Ich ging zu dem Haus meines Bruders in Dicle. Sie erzählten mir, dass Bünyamin nicht dort war. Dann wollte ich zum Haus meines Onkels Aydin Irci in Nur gehen, aber ich konnte nicht gehen. Ich nahm eine weiße Flagge und wollte mit meinem ältesten Sohn nach Nur gehen.
Aber uns wurde durch 3 gepanzerte Kobra-Fahrzeuge zweimal der Weg abgeschnitten, sie brachten uns an einen zweiten Platz, sie fluchten und beleidigten uns. Dann rannten wir direkt nach Nur als sie uns sagten, wir sollten sofort verschwinden.
Sie eröffneten das Feuer sogar als wir liefen. Als wir das Haus meines Onkels Aydin erreichten, fragte ich nach Bünyamin. Sie sagten, sie hätten dieselben Informationen und wüssten nicht, wo er ist.
Ich ging dann durch die Straßen und fragte die Menschen nach meinem Sohn. Einer der Menschen erzählte mir, da sei eine Leiche in der Moschee, daraufhin lief ich zur Seyh Sait Moschee und sah den leblosen Körper meines Sohnes. Dann erreichten wir mit Hilfe von Faysal Sariyildiz einen Krankenwagen. Dem Krankenwagen wurde nicht erlaubt, in die Straße rein zufahren. Er wartete vor der Dalmis Tankstelle auf der Idil Straße. Sie sagten Faysal Sariyildiz, dass es nur 4 Personen erlaubt werde, den Körper zu tragen und anderenfalls wären sie nicht verantwortlich für die Sicherheit von irgendjemandem.
Ich, mein Sohn und Faysal Sariyildiz trugen den toten Körper meines Sohnes zum Krankenwagen.
Während wir meinen Sohn trugen, zielten vier gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Kobra mit ihren Geschützrohren auf uns und sagten uns, dass nur ich mit dem Leichenwagen mitgehen dürfe.
Obwohl sowohl ich als auch Faysal Sariyildiz sehr darauf bestanden, erlaubten sie meinem Sohn nicht, mitzukommen.
Sie wurden gezwungen, ins Viertel zurückzugehen. Wir wurden mit dem Leichenwagen ins staatliche Krankenhaus von Cizre gebracht. Wir sahen keinerlei Krankenhauspersonal, als wir mittags am staatlichen Krankenhaus von Cizre ankamen. Zwei Angehörige der Sondereinsatzkräfte warten in der Leichenhalle des Krankenhauses.
Und durch den Staatsanwalt wurde uns gesagt, da sei nicht genug Platz für die Leiche und wir müssten für die Autopsie zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak gehen. Der Staatsanwalt fragte einige Sachen und sagte uns, wir müssten nicht mit den Leichen mitfahren. Es würde immer eine Leiche mit einer Gruppe von 3 Leuten gefahren werden.
Nachdem die Leichen weitere 2 Stunden warten mussten, fuhr der Krankenwagen nach Şırnak, wo mein Onkel den Krankenwagen sah. Nach der Autopsie im staatlichen Krankenhaus von Şırnak wurde die Leiche nach Cizre gebracht. Am 12.09.2015 wurde die Leiche meines Sohnes nicht in der Leichenhalle aufbewahrt, weil sie uns sagten, da sei nicht genug Platz. Stattdessen wurde die Leiche die Nacht auf den 13.09.2015 in der Kühlanlage des Gemüsemarktes aufbewahrt.
Die Bilder, die in der Presse veröffentlicht wurden und die einen Jungen zeigen, der zu einem gepanzerten Kobra-Fahrzeug gebracht wird, die zeigen meinen Sohn. Wenn man die Bilder sieh, kann man denken, dass er in dieses Fahrzeug gebracht wurde. Für einen Vater ist es unerträglich, sich einzugestehen, dass diese Bilder die Leiche meines Sohnes zeigen.“
(b) Tarik Irci (41), Vater von Bünyamin Irci (14) gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir :

„Mein Sohn, Bünyamin Irci, war 14 Jahre alt. Er ging in die 08. Klasse. Unser Haus ist im Stadtviertel Kale. Wir hatten Stromversorgung in unserem Stadtviertel und es war relativ gesehen sicherer als andere Stadtviertel. Im Stadtviertel Nur gab es keinen Strom. Die Kommunikationsmittel waren unterbrochen oder sehr beschränkt. Zwischendurch war das Wetter hier sehr heiß. Mein Sohn Bünyamin und einige Kinder trugen Eisblöcke zu den Menschen in anderen Stadtvierteln, weil dort in ihren Gebieten kein Strom war und es heiß war. Ich wachte am Mittwoch, den 09.09.2015 morgens auf, ich checkte das Internet, insbesondere die Neuigkeiten zu Cizre. Ich erfuhr aus dem Internet, dass mein Sohn Bünyamin Irci sein Leben verloren hatte. Der Onkel meines Sohnes wohnt in dem Stadtviertel, in dem mein Sohn erschossen wurde. Wir dachten, er wäre die Nacht über im Haus seines Onkels gewesen. Er wurde auf der Nusaybin Straße erschossen. Zwei Menschen trugen seine Leiche zur Moschee. Sein Körper blieb dort für 2 Tage. Dann brachten sie seine Leiche erst zum staatlichen Krankenhaus von Cizre und dann zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak.
Nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, brachten wir seinen Körper hierher und begruben ihn. Der Staatsanwalt fragte mich, wer meinen Sohn getötet habe. Ich sagte zu dem Staatsanwalt: „Ihr habt meinen Sohn getötet, Eure Sicherheitskräfte haben meinen Sohn getötet. Soweit ich weiß, wurde er in seine Stirn, seine Schläfe, sein Herz und seine Hände geschossen, obwohl er sich ergeben hatte und seine Hände gehoben hatte.“
(c) Abdurrahman Ukşul, (49), Augenzeuge, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir .
„Ich lebe im Stadtviertel Nur, Kirca Straße. Ich bin der Augenzeuge von Bünyamin Irci. Die Tür unseres Hauses ist zur Straße hinaus. Ein unbewaffnetes Kind, dass ich nicht kannte, kam durch das Tor meines Hofes und fiel um 21:00 Uhr am Abend zu Boden. Ich lief hin, um ihm mit meinen Kindern zu helfen. Ich lief auf das Dach und rief laut um Hilfe. Nachbarn kamen und wickelten ihn in ein Tuch und brachten das Kind zur Moschee. Nach einer kurzen Zeit brachten sie ihn wieder auf einer Bahre vor mein Haus. Ein Panzer hatten das Feuer auf sie eröffnet, bevor sich das Haus betraten. Die Menschen riefen: „das ist eine verletzte Person“ Die Kugel hatte ihn ins Herz getroffen. Da sind 15 bis 20 Minuten vergangen zwischen, dass sie das Kind geholt und wiedergebracht haben. Nachdem sie das Kind erschossen haben, begannen sie das Feuer auf mein Haus zu eröffnen. Der Körper des Jungen blieb auf der Straße bis zum Morgen. Am Morgen kam eine Gruppe junger Männer und brachten seine Leiche zur Moschee. Ich habe nicht gesehen, als das erste Mal auf das Kind geschossen worden: Ich sah ihn als er meine Tür betrat und zu Boden fiel, aber ich sah den zweiten Schuss, das Feuer kam von einem Militärfahrzeug.“
(8) Eşref Erdin (60)
Eşref Erdin wurde am 10.09.2015 um 23:00 Uhr in der Nacht an der Rückseite seines Hauses in den Rücken geschossen. Als er aus dem Haus getragen wurde, um ins Krankenhaus transportiert zu werden, begann – obwohl die Helfer zuvor das Kennzeichen ihres Fahrzeugs an die Sicherheitskräfte durchgegeben und angekündigt hatten, einen Verletzten zu transportieren – erneut Feuer vom Panzer aus. Deswegen mussten sich seine Helfer mit ihm wieder ins Haus zurückziehen, wo er kurz danach verstarb. Erst nach 22 Stunden konnte der Krankenwagen kommen, um die Leiche zu holen.
(a) Rahmed Erdin Ağar, Tochter von Eşref Erdin, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Wegen der Ausgangssperre, die am 04.09.2015 begann, verließen mein Mann und ich unser Haus, dass in der Varol Straße im Stadtviertel Nur gelegen ist und gingen zum Haus meines Vaters, dessen Adresse wegen Sicherheitsproblemen hier nicht angegeben wird, aber vorhanden ist. Am 09.09.2015 gegen 21:30 Uhr, als die Ausgangssperre noch andauerte, begab sich mein Vater Eşref auf das Dach des Hauses, trotz all unserer Bedenken, da das Gewehrfeuer und der Artillerie Beschuss sehr stark war. Nach wenigen Minuten machten wir uns Sorgen um meinen Vater, der nicht zurückgekommen war.
Wir gingen nach oben, um zu sehen, was passiert war. Meine Mutter schrie, dass mein Vater erschossen/angeschossen worden sei. Wegen des Gewehrfeuers und des Artilleriebeschusses, der sehr stark war, konnten wir meinen Vater 2 Stunden lang nicht holen. Danach konnten wir nach oben gehen und während einer Einstellung des Gewehrfeuers meinen Vater holen. Er war durch einen Schuss in seinen Rücken und seine Niere getroffen worden. Aber er war noch nicht tot.
Ich, mein Mann und unsere Verwandten Mustafa Erding, Kadri Erding und Ekrem Ağar brachten meinen Vater runter in unseren Hof und riefen 112, da sie sahen, dass er noch lebte. Da alle GSM-Leitungen kaputt waren, konnten wir nur 112 anrufen. Sie sagten uns, sie könnten nicht kommen, da die Polizei ihnen dies nicht erlaube und sie könnten wegen der Sicherheitsprobleme nicht kommen. Wir erzählten der Polizei die Situation, in dem wir 155 anriefen, da die Avea Leitungen von Zeit zu Zeit funktionierten.
Sie fragten nach dem Nummernschild unseres Autos und sagten, sie würden den Vorfall an die Polizeiteams weitergeben. Als wir meinen Vater zum Auto brachten und wegfuhren, begann die Polizei massiv auf uns zu schießen. Da registrierten wir, dass die Polizeibeamten, mit denen wir telefoniert hatten besonders unser Kennzeichen weitergegeben hatten, so dass wir in der Umgebung gefangen waren unter Kontrolle der Polizei. 7-8 Schüsse trafen unser Fahrzeug und die Reifen. Wir mussten unverzüglich zu unserem Haus zurück. Wir brachten meinen Vater ins Haus und versuchten, wie wir ihm selbst helfen können mit unseren eigenen Möglichkeiten. Er hatte regelmäßigen Puls und konnte bis zum Morgen noch atmen. Wir mussten warten bis zum Abend desselben Tages (10.09.2015). Nachdem wir bemerkt hatten, dass mein Vater in den Morgenstunden gestorben war, taten wir Eis um seinen toten Körper wegen des heißen Wetters und der Stromunterbrechung. Gegen Abend kam eine Delegation mit dem Abgeordneten von Şırnak, Faysal Sariyildiz, mit einem Krankenwagen und sagte wir können den Leichnam an den Krankenwagen übergeben. Und der Krankenwagen konnte nicht bis vor unser Haus kommen. Wir wickelten den toten Körper meines Vaters in ein Betttuch und trugen ihn mit meinem Ehemann und unseren Nachbarn zum Krankenwagen.
Nachdem wir die Leiche zum Krankenwagen gebracht hatten, kamen wir zurück und während wir zurück gingen hat die Polizei zunächst in die Luft geschossen, dann versucht uns zu treffen, aber ohne Verletzungen konnten wir in die Straßen entkommen.
Sie brachten den Leichnam meines Vaters zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak für eine Autopsie. Meine Onkel Abdulrahim und Abdurrahman Erdin, die aus Deutschland kamen wurden angerufen und ins staatliche Krankenhaus von Cizre gebeten.“
(b) Rahmet Erdin Ağar, (34) gegenüber HRW :
„Rahmet Erdin Ağar sagte, dass sein Vater, Eşref Erdin, (60), am 09. September auf dem Dach seines Hauses im Stadtviertel Nur erschossen wurde. Für 3 Tage hörten wir nur Geschützfeuer. Mein Vater ging hoch auf das Dach, um nach dem Wassertank zu sehen, dass die Wasserversorgung unterbrochen war. Es gab keine Elektrizität. Wir waren unten. Er war für einige Zeit weg und kam nicht runter. Meine Stiefmutter ging hoch, um zu sehen, was er tat und entdeckte ihn mit dem Gesicht in einer Blutlache, als würde er beten.
Er war in seinen Rücken geschossen worden, aber er war nicht tot. Wir riefen über 112 einen Krankenwagen. Wir können nicht kommen, sagten sie oder sie erschießen uns. Wir riefen die Notfallnummer 155 an und gaben das Nummernschild des Autos meines Vaters durch, damit sie wussten, dass wir es waren, die kamen. Wir brachten den Körper in das Auto und fuhren aus dem Hof und als wir auf die Kreuzung bogen, schoss die Polizei unmittelbar auf uns. Wir wussten, dass es die Polizei war, weil das Feuer direkt von dort kam, wo sie positioniert waren. Das Auto ist ein weißer Jeep voll mit Kugellöchern und hat ein 33er Nummernschild (ein Mersin Nummernschild).
Wir mussten umdrehen oder wir wären erschossen worden. Mein Vater starb. Am 11. September konnten wir seine Leiche mit der Hilfe des Parlamentsabgeordneten, Faysal Sariyildiz, in die Leichenhalle des Krankenhauses bringen.“
(9) Zeynep Taşkın (18)
Zeynep Taşkın ging zu den Nachbarn, um ihren Vater anzurufen, der sich wegen der Ausgangssperre außerhalb von Cizre aufhielt und rief ihn von dem Telefon der Nachbarn aus an. Nach dem Anruf, als sie gerade mit Maşallah Edin und ihrem Baby, Berxwedana Taşkın, das Haus verließ, wurde sie von Kugeln durchsiebt, obwohl sie ihr Baby auf dem Arm hatte. Zeynep Taşkın verlor ebenso ihr Leben wie Maşallah Edin (Siehe Teil B, 1. Teil, C I 1. (10)), das Baby wurde verletzt, aber überlebte (Siehe unten unter Teil B, 1. Teil, C II 4.). Alle die versuchten, ihr zu helfen, wurden ebenfalls beschossen, einige von ihnen verletzt, wie Ayşe Kolin und Ekrem Dayan.
(a) Hassan Taşkın, Vater von Zeynep Taşkın gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich war in Zaxo als die Ausgangssperre am 04.09.2015 um 19:00 Uhr begann, da ich ein Fahrer bin. Ich blieb in Zaxo für ca. 13 Tage bis die Ausgangssperre beendet war. Danach kam ich in die Türkei. Als ich Cizre betrat, hielt die Ausgangssperre noch an. Ich blieb in Hüsnü Igdis Haus, gelegen im Stadtviertel Konak für 3 Tage, da die Brücke, die nach Cizre führt, geschlossen war. Obwohl ich erfahren hatte, dass meine Tochter gestorben war, konnte ich wegen der Ausgangssperre nicht zu meiner Tochter gehen. Ich konnte Einzelheiten über ihren Tod erst herausfinden als ich nach drei Tagen zu mir nach Hause kam.
Meine Tochter Zeynep und unsere Verwandte Maşallah machten sie Sorgen um mich und meinen Verwandten Ahmet Edin und sie ging zum Haus unsere Nachbarn, um uns von deren Telefon aus anzurufen. Sobald meine Tochter Zeynep das Haus unseres Nachbarn, Abullatif Dayan, verlassen hatte, um zurück nach Hause zu gehen, war sie Geschützfeuer ausgesetzt, obwohl sie ihr Baby im Arm hatte. Meine Tochter starb. Meine Enkelin wurde verletzt. Letztendlich kann nur Ekrem Dayan die Einzelheiten des Vorfalls erzählen, da er zur selben Zeit verletzt wurde und Einblick in die Materie hat. Er wird gegenwärtig im Krankenhaus behandelt.“
(b) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Unser Haus ist im Stadtviertel Cudi, in der Askin Straße. Der Vorfall ereignete sich gegen 22 Uhr abends. Ich schlief zu dieser Zeit. Meine Schwägerin kam und sagte „sie haben das Feuer auf unser Haus eröffnet“. Ich schaute aus dem Fenster. Mein Onkel Ekrem Dayan schrie nach Hilfe. Ich rannte schnell, um ihm zu helfen ohne Schuhe an zu haben. Mein Bruder kam hinter mir, aber ich musste zurück gehen, weil sie das Feuer auf uns eröffneten. Mein Onkel Ekrem Dayan lag am Boden vor der Tür. Ich zog ihn hinein. Meine Schwägerin Maşallah Edin und unsere zukünftige Braut Zeynep Taşkın lagen verwundet vor der Tür auf dem Boden. Das Baby war bei ihnen während dieser Zeit und war auch verletzt. Mein Onkel war an der inneren Seite der Tür auf dem Boden und meine Schwägerin, unsere Braut und das Baby waren an der äußeren Seite der Tür. Die bedeckten das Baby mit ihren eigenen Körpern, ansonsten hätten sie es getötet. Ich versuchte mehrfach, die Frauen hineinzuziehen, nachdem ich meinen Onkel hereingebracht hatte, aber sie feuerten jedes Mal auf uns. Mein Bruder und ich wir versuchten, ihnen ins Haus zu helfen. Ich brachte meinen Onkel in das Haus meines Bruders. Er war in seinem Fuß geschossen worden. Ich zerriss mein T-Shirt und versuchte, dass Blut zu stoppen. Ich bat um Hilfe. Ich schrie und rief den Leuten zu „Hilfe! Sie schießen auf alle“. Meine andere Schwägerin kam. Die Frauen und das Baby blieben dort für 2–3 Stunden in dieser Lage. Das Baby weinte, dann stoppten wir ein vorbeifahrendes Fahrzeug. Währenddessen beschossen sie uns weiter. Wir rannten wieder rein. Wir versuchten 15–20 Minuten später erneut herauszugehen. Als ich später wieder hinsah, sah ich, dass meine Schwägerin und unsere Braut verblutet waren. Meine Schwägerin Ayşe Kolin wurde auch angeschossen, als sie ging, um ihnen zu helfen. Ungefähr 3 Stunden später brachten wir die beiden Verwundeten und die Leichen zum Cizre-Beerdigungsinstitut. Nachdem die Leichen für eine Nacht im Beerdigungsinstitut geblieben waren, brachten wir die Leichen in einen kalten Raum des Supermarktes Kipmar, wo Fleisch gelagert wird. Dann wurden die Verletzten mit Hilfe der/des Abgeordneten mit einem Auto ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gebracht.“
(10) Maşallah Edin (35)
Sie wurde erschossen, als sie mit Zeynep Taşkın und ihrem Baby das Haus der Nachbarn verließen, um nach Hause zu gehen. Niemand konnte ihr helfen, da auch die Helfer_innen beschossen wurden und sie verstarb ebenso wie Zeynep Taşkın.
(a) Ahmet Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich war in Zaxo als der Vorfall stattfand. Mit Beginn der Ausgangssperre, verkündet am 04.09.2015 in Cizre, konnten wir nicht nach Cizre und ich rief meine Schwägerin Katibe Dayan und bat sie, meiner Frau und den Kindern zu sagen, sie sollten mich anrufen. Der Grund dafür war, dass der GSM Anbieter in Cizre nicht richtig funktionierte. Ich hatte mir Sorgen um meine Familie gemacht. Später sprach ich dann mit meiner Frau Maşallah und Zeynep am Telefon. Sie sagten, es gehe ihnen gut. Als ich in Zaxo war, kommunizierte ich oft über dieses Haustelefon. Am 09.09.2015, als der Vorfall sich ereignete, erzählte mir mein Bruder Abudallatif Dayan über den Vorfall.
Als ich nach der Aufhebung der Ausgangssperre in Cizre ankam, erfuhr ich die Einzelheiten. Demnach wurden meine Frau Maşallah und meine Schwiegertochter mit einem Gewehr erschossen, unmittelbar, nachdem sie Abdullatif`s Haus, wo sie waren, um mich anrufen zu können. Zuerst fiel meine Schwiegertochter Zeynep mit ihrem Baby zu Boden und meine Frau Maşallah und unser Nachbar Ahmet Dayan wurden beschossen, während sie versuchten, Zeynep und ihr Baby ins Haus zu bringen. Meine Frau Maşallah wurde durch einen Gewehrschuss ermordet. Unser Nachbar Ekrem befindet sich aufgrund seiner Verletzungen noch in Behandlung. Er kann mehr detaillierte Beweise geben, wenn seine Behandlung in 2–3 Tagen beendet ist.“
(b) Ahmed Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber HRW:
„Ahmed Edin sagte, dass, während er weg im Nordirak war, seine Frau Maşallah Edin, 35, und die Frau seines Sohnes, Zeynep Taşkın, unmittelbar außerhalb des Hauses seines Bruders im Stadtviertel Nur gegen 22:00 Uhr am 09.09.2015 erschossen wurden, als sie gingen um in ihr nahe gelegenes eigenes Haus zurückzugehen.
Zeynep Taşkın trug ihr 6 Monate altes Baby, Berxwedan, das verletzt wurde, aber überlebte.“
(c) Ferhan Dayan, Ahmet Edin`s Cousin, gegenüber HRW:
„Ferhan Dayan, der im Haus war, als die Frauen erschossen wurden, sagte, dass die Versuche, die Körper der Frauen und das Baby zu bergen, verhindert wurden durch wiederholtes Feuer durch polizeiliche Scharfschützen auf jeden, der sich herauswagte.
Er sagte, sein Vater, Ekrem Dayan, 56, war mit den Frauen zusammen und wurden an der Tür in den Fuß geschossen und fiel rückwärts hinein, so dass die anderen ihn in Sicherheit ziehen konnten. Er sagte, dass nach einiger Zeit ein anderer Verwandter, Ayşe Kolin, 50, versuchte, die zwei Frauen zu erreichen, aber er wurde in seine Hüfte geschossen. Beide, Ekrem Dayan und Ayşe Kolin wurden operiert und befinden sich immer noch in medizinischer Behandlung, sagten die Familienmitglieder. Idris Elinc, vor Ort zur Zeit der Schüsse, sagte: „Wir konnten die Leichen von Maşallah Edin und Zeynep Taşkın nach 1 ½ oder 2 Stunden bergen. Wir dachten alle drei wären tot und waren überrascht, das Baby Berxwedan lebend, aber verletzt zwischen den Leichen der beiden Frauen zu finden“.
Diejenigen, die über die Schüsse interviewt wurden, betonten alle, dass der Ort, wo auf die fünf Menschen geschossen wurde, sich im Stadtviertel Nur an einem steil hervorgehobenen Abhang befand, der gut sichtbar von anderen Stadtvierteln von Cizre ist und dass sie glaubten, das Scharfschützen, positioniert auf hohen Gebäuden in anderen Teilen der Stadt diese Örtlichkeit beschossen haben können.“
(d) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Unser Haus ist im Stadtviertel Cudi, in der Askin Straße. Der Vorfall ereignete sich gegen 22 Uhr abends. Ich schlief zu dieser Zeit. Meine Schwägerin kam und sagte „sie haben das Feuer auf unser Haus eröffnet“. Ich schaute aus dem Fenster. Mein Onkel Ekrem Dayan schrie nach Hilfe. Ich rannte schnell, um ihm zu helfen ohne Schuhe an zu haben. Mein Bruder kam hinter mir, aber ich musste zurück gehen, weil sie das Feuer auf uns eröffneten. Mein Onkel Ekrem Dayan lag am Boden vor der Tür. Ich zog ihn hinein. Meine Schwägerin Maşallah Edin und unsere zukünftige Braut Zeynep Taşkın lagen verwundet vor der Tür auf dem Boden. Das Baby war mit ihnen während dieser Zeit und war auch verletzt. Mein Onkel war an der inneren Seite der Tür auf dem Boden und meine Schwägerin, unsere Braut und das Baby waren an der äußeren Seite der Tür.
Die bedeckten das Baby mit ihren eigenen Körpern, ansonsten hätten sie es getötet. Ich versuchte mehrfach, die Frauen hineinzuziehen, nachdem ich meinen Onkel hereingebracht hatte, aber sie feuerten jedes Mal auf uns. Mein Bruder und ich wir versuchten, ihnen ins Haus zu helfen. Ich brachte meinen Onkel in das Haus meines Bruders. Er war in seinen Fuß geschossen worden. Ich zerriss mein T-Shirt und versuchte, dass Blut zu stoppen. Ich bat um Hilfe. Ich schrie und rief den Leuten zu „Hilfe! Sie schießen auf alle“. Meine andere Schwägerin kam. Die Frauen und das Baby blieben dort für 2–3 Stunden in dieser Lage. Das Baby weinte, dann stoppten wir ein vorbeifahrendes Fahrzeug. Währenddessen beschossen sie uns weiter. Wir rannten wieder rein. Wir versuchten 15–20 Minuten später erneut herauszugehen. Als ich später wieder hinsah, sah ich, dass meine Schwägerin und unsere Braut verblutet waren. Meine Schwägerin Ayşe Kolin wurde auch angeschossen, als sie ging, um ihnen zu helfen.
Ungefähr 3 Stunden später brachten wir die beiden Verwundeten und die Leichen zum Cizre Beerdigungsinstitut. Nachdem die Leichen für eine Nacht im Beerdigungsinstitut geblieben waren, brachten wir die Leichen in einen kalten Raum des Supermarktes Kipmar, wo Fleisch gelagert wird. Dann wurden die Verletzten mit Hilfe der/des Abgeordneten mit einem Auto ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gebracht.“
(11) Özgür Taşkın (18)
Özgür Taşkın versuchte am 09.09.2015 um ca. 3:30 Uhr, zum Haus seines Onkels direkt gegenüber seines eigenen Hauses zu gehen, um etwas kaltes Wasser zu bekommen sowie einige Fernsehnachrichten zu sehen. Unmittelbar, nachdem er aus dem Haus getreten war, wurde er erschossen und verlor sein Leben.
(a) Sadun Taşkın, Vater von Özgür Taşkın, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am 09.09.2015, als die Ausgangssperre noch galt und sowohl die Elektrizität als auch die GSM`s nicht funktionierten, wollte mein Sohn Özgür, in das Haus seines Onkels gehen, etwa 4–5 Meter entfernt von unserem Haus. In Abwesenheit des Onkels. Sein Onkel Abdullah Erdin hatte einen Stromgenerator in seinem Haus und dort gab es Strom. Mein Sohn ging dahin, um Nachrichten zu verfolgen über das, was in Cizre passiert. Es war gegen 04 Uhr morgen. Eine Stunde später, gegen 05 Uhr, wurde er ein paar Meter entfernt von unserem Haus von Scharfschützen erschossen, die auf der Ringstraße im Kreis Yafes eingesetzt waren.
Ca. 20 Minuten, nachdem Özgür zu Boden gegangen war, rief mich meine Frau und sagte, Özgür sei angeschossen worden. Er war immer noch nur verwundet, als ich losrannte, um ihn nach Hause zu holen. Er bat mich und seine Mutter, für ihn zu beten. Wir riefen sofort unter 112 um Hilfe. Aber die Offiziellen sagten, 112 würde nicht kommen wegen fehlender Sicherheit.
Ich und unser Verwandter Yakup Zileas fanden ein Fahrzeug und brachten meinen Sohn unter Gewehrfeuer zum Krankenhaus. Ich hatte bereits herausgefunden, dass mein Sohn gestorben war, während wir auf dem Weg waren. Da ich dachte, dass vielleicht mit anderen Methoden wie CPR, vielleicht noch etwas zu machen sei, brachte ich ihn noch ins Krankenhaus. Das Krankenhaus war voll von Spezialeinheiten der Polizei. Drinnen waren zwei Ärzte und sie sagten mir, dass da nichts zu machen sei und mein Sohn gestorben sei. Die Polizeibeamten auf der Ringstraße im Yafes Distrikt schossen kontinuierlich weiter.
Alle Häuser waren davon schwer beschädigt. Mein Sohn war wahrscheinlich mitten in diesem Beschuss gefangen und wurde getötet. Als ich meinen Sohn sah, gab es 4 oder 5 Einschusslöcher in verschiedenen Teilen seines Körpers und sein Körper lag in einer Blutlache. Ca. 4–5 Stunden später gegen 15 Uhr erschien der Staatsanwaltschaft und teilte uns mit, wir müssten die Leiche zur Autopsie nach Şırnak bringen. Sie hatten nicht erlaubt, dass ich mitkomme.
Nach 2 Tagen begruben wir die Leiche am 13.09.2015.“
(b) Sadun Taşkın (41), Özgür Taşkın`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Mein Sohn Özgür Taşkın war 18 Jahre alt und er ging in die 3. Stufe der High School. Unser Haus ist im Stadtviertel Yafes, Sinir Straße, an der Silk Straße, was in der Nähe der syrischen Grenze ist. Er ging hinaus zum Haus seines Onkels, um Wasser zu trinken und die Nachrichten im Fernsehen anzusehen. Es ist vier Meter von unserem Haus. Am 09. September um 04 Uhr morgens, es gab weder Elektrizität noch Telefon in unserem Haus, aber mein Schwager, dessen Haus gerade gegenüber von unserem Haus war, hatte einen Generator und sie versorgten sich damit mit Strom.
Mein Sohn ging hinaus, um im Haus seines Onkels Wasser zu trinken und Fernsehen zu schauen. Er ging dort gegen 04 Uhr morgens hin und nach einer Stunde, gegen 05 Uhr, wurde er auf seinem Weg zurück nach Hause erschossen. Sie erschossen meinen Sohn. Ein Einwohner nahm seine Körper und trug ihn an einen sichereren Ort, wo die Kugeln nicht treffen konnten. Mein Sohn war durch große Geschosse getroffen worden. Sein rechter Arm war komplett zerschmettert und abgerissen. Er war in verschiedene Teile seines Körpers getroffen worden.
Mein Sohn verblieb in diesem Zustand und dann starb er. Da waren Militärpanzer und Panzer vor unserem Haus. Sie standen mit der Rückseite zur syrischen Grenze und mit der Front Richtung des Stadtviertels gerichtet. Ich habe sieben Kinder. Ich habe 6 Töchter und Özgür war mein einziger Sohn und er war der älteste meiner Kinder. Meine Frau bekam unser jüngstes Baby vor 20 Tagen. Meine Frau hörte, dass mein Sohn angeschossen worden war. Ich schlief und sie schrie auf, kam und erzählte mir, dass Özgür angeschossen worden sei.
Wir standen sofort auf und rannten zu ihm. Er sagte „Mama, Papa, lasst mich Euch küssen, gebt mir Euren Segen“ und er küsste uns, dann starb er in meinen Armen. Die Geräusche des Geschützfeuers kamen von allen Seiten, wir konnten unseren Sohn nicht ins Krankenhaus bringen. Einer unserer Freund nahm sich ein Herz und brachte ein Auto. Wir legten die Leiche meines Sohnes in das Auto und brachten ihn ins Krankenhaus und hofften, sie könnten meinen Sohn mit einer Herzmassage retten.
Der Arzt schaute nach ihm und sagte, er ist tot. Sie brachten meinen Sohn zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak für eine Autopsie. Sie ließen uns nicht mit ihm fahren. Der Ort, an dem mein Sohn erschossen wurde, ist eine offene Gegend. Es ist nahe der Kadioglu High School an der Silk Straße. Unser Haus und der Ort, an dem mein Sohn erschossen wurde, können vom Standpunkt des Panzers aus einfach eingesehen werden.
Mein Sohn wurde entweder von einem Panzer oder von einem Panzerwagen erschossen. Die Einschusslöcher in den Wänden sind zu groß. Sogar betonierte Pfeiler waren zertrümmert. Ich machte diese Aussage gegenüber dem Staatsanwalt im Krankenhaus.“
(12) Meryem Süne (45)
Meryem Süne wurde am 08.09.2015 erschossen als sie den Innenhof ihres Hauses betrat. Obwohl alle Autoritäten, eingeschlossen der Distrikt-Gouverneur, Sicherheitskräfte, Gendarmerie und Krankenwagen, gerufen wurden, verlor sie ihr Leben als sie die nächsten 2,5 Stunden keine medizinische Hilfe erhielt. Ihr Körper musste im Haus behalten werden während der Nacht, nachdem sie ihr Leben verlor. Danach wurde sie in ein Kühllager und später in die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses von Şırnak gebracht.
(a) Fevzi Süne (59), gegenüber HRW
„Fevzi Süne sagte, dass seine Frau Meryem Süne, 53 am Eingang ihres Hauses im Stadtviertel Nur erschossen wurde. Am 08. September, ich saß drinnen, und um 09 Uhr abends ging meine Frau, Meryem, hinaus um ihre Waschung vor dem Gebet durchzuführen. Als sie in der Nähe der äußeren Tür zum Hof war, fiel sie in sich zusammen.
Wir trugen sie hinein. Zuerst dachten wir, es wären nur Pellets (aus einer Jagdwaffe), aber das war es nicht. Sie hatte innere Blutungen von einer Kugel. Sie war noch am Leben, wir riefen nach einem Krankenwagen, aber sie sagten uns, sie könnten keinen schicken. Wir sagten, dass wir Papiere der Türkischen Republik haben, dass wir keine PKK`ler sind. Ich glaube, sie hätte überlebt, wenn wir sie ins Krankenhaus hätten bringen können.
Sie starb gegen 12 Uhr. Wir behielten ihren Körper die ganze Nacht bei uns und am nächsten Morgen brachten wir sie in ein Kühllager, bis 04 Uhr nachmittags am nächsten Tag, als es uns gelang, ihre Leiche in die Leichenhalle zu bringen.
Als sie unser Dorf in den 1990er Jahren niederbrannten und wir flohen, sagten wir, „Vielleicht lassen sie uns unsere Kinder ausbilden“, aber sie erlaubten das nicht. 1992 konnten wir nichts mitnehmen, außer unseren Matratzen. Wir haben unser Dorf, unser Zuhause verloren, alles. Wir sagten: „Vielleicht werden wir in der Lage sein, auf unsere Kinder aufzupassen, aber sie erlaubten auch dies nicht. Unsere Kinder wuchsen traumatisiert auf.“
(b) Salid Süne, Sohn von Meryem Süne, gegenüber HRW :
„Ich gab im Krankenhaus, wo wir die Leiche meiner Mutter hinbrachten, eine Stellungnahme ab. Die Polizei fragte mich nach Einzelheiten, wo sie erschossen wurde, wann, wie usw. Die Polizei schrieb ein handgeschriebenes Protokoll, dass ich unterzeichnete und ich gab die gleiche Stellungnahme gegenüber dem Staatsanwalt ab, der sich im nächsten Zimmer des Krankenhauses aufhielt.
Die Leiche meiner Mutter wurde für die Autopsie nach Şırnak gebracht. Uns wurde der Körper am 13. September wiedergegeben und wir begruben unsere Mutter an diesem Tag auf dem Friedhof. Wir gaben später auch noch über unseren Anwalt eine Stellungnahme gegenüber dem Staatsanwalt ab. Der Autopsiebericht stellte fest, dass meine Mutter durch eine Kugel verletzt wurde und die Kugel wurde in ihrem Körper gefunden. Niemand von einer offiziellen Stelle hat uns aufgesucht.“
(13) Mehmet Sait Nayci (16)
Mehmet Sait Nayci wurde vor seinem Haus durch eine Kugel getroffen, die in seinen Rücken eintrat und an seiner Brust wieder austrat. Für die nächsten 6 Stunden, wurden alle Anrufe beim Krankenhaus dahingehend beantwortet, dass gesagt wurde „es ist nicht möglich, dahin zu kommen“; kein Krankenwagen erschien in dem Bezirk und so verlor er aufgrund fehlender medizinischer Behandlung sein Leben.
Das Begräbnis der Leiche wurde nicht erlaubt, aber durch die Hilfe vieler Menschen war es möglich, die Leiche zu einem Kühllager des lokalen Marktes zu bringen. Nachdem seine Leiche dort für 3 Tage aufbewahrt wurde, wurde sein Körper mit Hilfe der Anwälte zu einem Leichenwagen gebracht und zum Krankenhaus zur Autopsie gefahren.
(a) Ramazan Nayci (41), Mehmet Sait Nayci`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Wir leben im Stadtviertel Cudi, Ziraat Straße. Ich werde Ihnen erzählen, was ich dem Staatsanwalt im Krankenhaus während der Autopsie erzählt habe. Es war der dritte Tag der Ausgangssperre. Vor unserem Haus am Anfang der Ziraat Straße befand sich ein Panzer.. Alle EinwohnerInnen des Viertels liefen durch die kleinen inneren Straßen des Viertels. Panzer feuerten auf das gesamte Viertel. Alle rannten, deshalb fingen wir auch an, zu rennen.
Ich, meine Frau und meine Kinder, wir hatten gerade den benachbarten Innenhof erreicht. In diesem Moment hörte ich die Stimme meines Sohnes: „Oh, Vater“. Der Beschuss stoppte als mein Sohn zu Boden fiel. Wir brachten unseren Sohn zum Tierunterstand hinter das Haus. Es war sicherer. Dieser Ort wurde nicht durch Kugeln getroffen. Mein Sohn lebte bis 03 Uhr in der Nacht. Er quälte sich bis dahin. Dann verlor er um 03 Uhr sein Leben Die Kugel war in seinen Rücken eingedrungen und am Bauch wieder ausgetreten. Mein Sohn verblutete. Sogar die Nachbarn konnten nicht zu ihren Nachbarn gehen, um Hilfe zu holen, deshalb war es unmöglich, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Da war weder Strom noch Telefonverbindung. Seiner Mutter und mir ging es schlechter und wir fielen in Ohnmacht. Unsere Nachbarn kamen am Morgen und brachten die Leiche meines Sohnes zum Bestattungsinstitut der Moschee. Die Leiche meines Sohnes wurde gemeinsam mit zwei anderen Leichen in einem kalten Raum aufbewahrt. Der Staatsanwalt suchte den Tatort nicht für eine Untersuchung auf. Bis jetzt ist keine Person der Behörden gekommen um Ermittlungen oder Untersuchung durchzuführen. Wir werden sie verklagen und wir werden bis zum Ende für unsere Rechte kämpfen. Mein Sohn ist in keiner Weise vorbestraft. Er war eine so respektvolle Person.“
(b) Ramazan Nayci, Vater von Sait Nayci, gegenüber den Schweizer Jurist_innen
„Ramazan Nayci, der Vater von Sait, habe über die Lautsprecherdurchsagen von der Ausgangssperre erfahren. Vorher habe er keine Kenntnis von der Maßnahme gehabt. Wegen der kurzen Vorankündigungszeit seien viele Leute dort geblieben, wo sie zu diesem Zeitpunkt gerade gewesen seien. Danach habe »der Krieg« begonnen: Vormarsch der Sicherheitskräfte, Panzer, Helikopter und Schüsse. In der ersten Nacht sei im Nur-Quartier alles zerstört worden, in der zweiten Nacht hätte dann der Beschuss des Cudi-Viertels – hier wohnt die Familie – begonnen. In der dritten Nacht sei auch in ihrer Straße geschossen worden. Ramazan Nayci wollte seine Familie schützen und habe deshalb entschieden, sich im Hinterhof in Sicherheit zu bringen. Da es aber keinen direkten Zugang zum Hinterhof gäbe, hätte die Familie auf die Straße treten müssen, um über den Innenhof des Nachbarhauses in den Hof zu gelangen. Hierbei sei der 16-jährige Sohn Sait von einem Scharfschützen erschossen worden. Sait wurde in den Rücken getroffen – die Autopsie habe ergeben, dass keine Organe verletzt worden seien. Der Sohn sei gestorben, weil die Familie keine Ambulanz alarmieren konnte; Sait sei nach sechs Stunden verblutet. Nachbar_innen hätten den Leichnam über die von den Anwohner_innen geschaffenen Verbindungswege weggebracht und während fünf Tagen in einem Kühlschrank gelagert, bevor Sait nach der Ausgangssperre habe beerdigt werden können. Der Vater habe gemeinsam mit den übrigen Opfer-Familien den Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi bevollmächtigt, die für den Tod seines Sohnes Verantwortlichen anzuzeigen. Zudem hat die Familie eine Treppe errichtet, die direkt vom ersten Stock des Wohnhauses in den Hinterhof hinunter führt.“
(14) Selman Ağar (10)
Selman Ağar wurde am 11.09.2015, während er in den Straßen des Viertels Cudi spielte, gegen 17 Uhr – vermutlich durch Scharfschützen – erschossen.
(a) Rahime Ağar, Mutter von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am Freitag (11.09.2015) gegen 17 Uhr, waren wir auf der Straße, in der unser Haus ist, wie jeder in unsere Nachbarschaft (Mehmet Fatih Straße in Cudi Stadtviertel). Wir gingen raus, um das HDP-Komitee zu grüßen, dass gekommen war, um gegen die Ausgangssperre in Cizre zu protestieren. Ich hatte meinen Sohn Selman mit mir dabei. Er lief weg, aber ich merkte es nicht. Ich saß auf einer leeren Tonne in der Mitte der Straße als ich sah wie Selman plötzlich zusammenbrach. Da waren keine Gewehrschüsse oder Explosionen, ich hörte keine. Die Menge auf der Straße trug Selman zu einem Trauerhaus. Ich konnte den Körper meines Jungen nicht berühren. Später wurde mir erzählt, er sei ins Leichenhaus des staatlichen Krankenhauses von Şırnak gebracht worden. Er wurde an dem Tag seiner Ermordung ins Krankenhaus gebracht. Kasim Ağar und Ekrem Ağar gingen zu seiner Autopsie“
(b) Mehmet Ağar, Vater von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich arbeite in Dicle Shopping Arcade. Ich war dort am Freitag, den 04.09.2015, als die Ausgangssperre verkündet wurde. Elektronische Transformatoren explodierten durch Gewehrfeuer. Ich suchte Unterschlupf im Catak Hotel direkt neben der Arcade. Wir blieben für 4 Tage eingeschlossen im Hotel. Da war weder Brot noch Wasser übrig. Wir riefen am 5. Tag einen Krankenwagen. Der Krankenwagen brachte mich von dem Hotel, in dem wir eingeschlossen waren, zum Krankenhaus. Wir blieben im Krankenhaus für 2 Tage. Als die Sperre am 12.09.2015 aufgehoben wurde, kam ich gegen 11 Uhr nach Hause. Unser Nachbar erzählte mir, dass mein Sohn getötet wurde. Ich wusste nichts davon. Sie sagten, er sei ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gekommen.“
(15) Mehmet Erdoğan (75)
Mehmet Erdoğan verließ am 11.09.2015 – zu seiner Schwiegertochter sagend „sie werden die Älteren nicht angreifen“ – das Haus und wurde durch Scharfschützen beschossen und getötet. Wegen der Ausgangssperre konnte seine Familie nicht raus und so blieb sein Körper während der ganzen Nacht auf der Straße liegen. Am Morgen wurde die Anwaltsdelegation und die Abgeordneten der HDP informiert und trugen seinen Körper von der Straße.
(a) Selman Erdoğan, Bruder von Mehmet Erdoğan, gegenüber der Anwaltsdelegation
„Wenige Stunden bevor die Ausgangssperre vom 04. September aufgehoben wurde, während der letzten Nachtstunden zwischen dem 11. und dem 12., erzählte mir mein älterer Bruder Mehmet Erdoğan er würde Brot aus den Mülltonen sammeln, um die Tiere zu füttern und dass die Polizei ihm nichts tun würde, da er alt sei, und verließ das Haus. Im Haus war nichts mehr zu Essen für uns oder für die Tiere übrig aufgrund der 8 Tage Ausgangssperre. Mein Bruder verließ sich auf sein Alter, um herauszugehen und die Tiere zu retten.
Aber er kam nicht zurück nach Hause in der Nacht.
Es gab keine Erreichbarkeit der Handys und wir wussten, wer immer raus geht, wird während der Ausgangssperre beschossen, deshalb konnten wir nicht raus, um nach ihm zu sehen. Am 12.09.2015 als die Ausgangssperre nach 07 Uhr aufgehoben wurde, war unser Cousin Ridvan Olca auf seinem Weg um nach uns zu sehen, als er herausfand, dass mein Bruder Mehmet Erdoğan in der Nähe der Nusaybin Avenue Idil Parkplatz erschossen wurde und dass sein Körper am Boden liegt.
Deshalb ging ich zu dem Ort, an dem mein Bruder getötet wurde. Zu dieser Zeit hatte das Komitee mit den Abgeordneten Hüda Kaya und Faysal Sariyildiz den Ort erreicht, an dem seine Leiche war. Mein Bruder lag in der Mitte der Straße, hielt Tüten mit Brot, dass er in den Mülleimern gesammelt hatte, in der Hand. Ich sah, dass sein Kopf und verschiedene Teile seines Körpers von Scharfschützen getroffen worden waren. Anschließend brachten wir die Leiche meines Bruders in das staatliche Krankenhaus von Cizre, mit einem Krankenwagen, der der Gemeinde von Silopi gehörte. Da war keinerlei Krankenhauspersonal im Krankenhaus. Wir mussten 30 Minuten am Notfalleingang warten, bis es uns möglich war, die Leiche in die Leichenhalle zu bringen. Da waren nur zwei Angestellte in der Leichenhalle. Sie sagten uns, die Leichenhalle sei voll und sie brachten meinen Bruder auf den Musalla Stein (Der Stein, wo die Leiche vor der Beerdigung gewaschen wird.).“
2. Todesfälle durch fehlende medizinische Versorgung
(1) Şahin Açik (74)
Da er unter ernstem Bluthochdruck litt, sollte Şahin Açik unter ständiger Kontrolle und Behandlung stehen, aber am 11.09.2015 wurde sein Zustand schlechter und schlechter, weswegen seine Familie den Notruf (112) rief, aber keine Antwort erhielten. Sein Sohn, Mehmet Emin Açik, versuchte hinauszugehen, um den Polizisten den Gesundheitszustand seines Vaters zu erklären, aber er wurde beschossen und musste zurück ins Haus gehen. Nachdem sein Gesundheitszustand während der Nacht schlechter geworden war, verlor er vor den Augen seiner Familie sein Leben.
(a) Mehmet Emin Açik, Sohn von Şahin Açik, gegenüber der Anwaltsdelegation
„Mein Vater, Şahin Açik, musste im Bett bleiben, weil er an Lähmung und Bluthochdruck litt. Wir ließen ihn regelmäßig im Krankenhaus behandeln. Ich brachte ihn auch am Morgen des 04.09.2015, als die Ausgangssperre begann, zum Krankenhaus. Wir verbrachten ein paar Stunden im Krankenhaus. Wir kehrten abends gegen 19 Uhr zurück nach Hause. Mit Beginn der Ausgangssperre und der Zunahme des Geschützfeuers, konnten wir nicht erneut zur Behandlung ins Krankenhaus gehen. Die Situation wurde nach ein paar Tagen wieder normal. Am 11.09.2015 gegen 19 Uhr stieg sein Blutdruck wieder an und er fiel in Ohnmacht. Ich rief 112, aber sie antworteten nicht. Alle GSM-Leitungen waren außer Betrieb. Nur „AVEA“ (eine Telekommunikationsfirma) konnte zeitweise genutzt werden. Als ich zu einem gepanzerten Fahrzeug ging, um die Situation meines Vaters zu erklären, begann die Polizei von dem Fahrzeug aus, auf mich zu schießen. Ich musste zurück ins Haus gehen. Ich wartete hoffnungslos zu Hause, aber meinem Vater ging es immer schlechter. Wir benutzten die Medikamente, die wir zu Hause hatten, aber da war kein Fortschritt. Wir maßen den Blutdruck gegen 18 Uhr und er wurde schlechter. Es ging ihm immer schlechter bis 2 Uhr nachts, dann starb er. Am nächsten Tag fuhren wir mit einem Krankenwagen der Kommune nach Aufhebung der Ausgangssperre ins Krankenhaus. Spezialeinheiten der Polizei liefen vor dem Krankenhauseingang unerbittlich umher. Sie hielten vor uns an und fragten, warum wir kommen. Sie ließen uns rein, als sie meinen Vater sahen.“
(b) Mehmet Emin Açik (41), Sohn von Şahin Açik, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Mein Vater Şahin Açik litt unter Bluthochdruck im Alter von 76 Jahren. Sein Blutdruck stieg in der Nacht vom 11. September gegen 18 Uhr wieder stark an. Er war bereits krank und in dieser Nacht ging es ihm wieder schlechter. Ich ging hinaus, um ein Auto zu finden und meinen Vater ins Krankenhaus zu bringen, aber die Polizei eröffnete das Feuer auf mich. Sie ließen uns nicht gehen. Wir riefen einen Krankenwagen aber niemand ging ran. Mein Vater wurde ein Tag vor der Ausgangssperre krank, wir brachten ihn ins Krankenhaus und es ging ihm besser. Wenn die Polizei uns an diesem Tag meinen Vater hätte ins Krankenhaus bringen lassen, hätten wir meinen Vater retten können.“
(2) Muhammed Tahir Yaramuş (35 Tage)
Der 35 Tage alte Säugling Muhammed Tahir Yaramuş fiel aus den Armen seiner Mutter, als diese wegen Beschuss des Hauses versuchte zu fliehen. Der Säugling übergab sich unmittelbar nach dem Ereignis. Der Krankenwagen, der für das Baby gerufen wurde, wurde durch die Polizei beschossen und so davon abgehalten, in das Viertel zu gelangen. Der 35 Tage alte Säugling starb, weil keine medizinische Hilfe erreicht werden konnte.
Weil alle Leute, die versucht haben auf die Straße zu gelangen, durch die Polizei unter Feuer genommen wurde, wurde sein Körper in einer Moschee von Nur für 35 Stunden behalten. Erst später konnte sein Körper durch die Versuche von HDP-Abgeordneten in die Leichenhalle des Krankenhauses transportiert werden.
(a) Abdullah Yaramuş, Vater von Muhammed Tahir Yaramuş, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Nachdem die Elektrizität und die Telefonleitungen nach 20 Uhr des ersten Tages der Ausgangssperre, dem 09.04.2015 unterbrochen waren, konnten wir wegen des heißen Wetters in Cizre nicht im Haus bleiben. Dann waren da so viele Gewehrschüsse und Geräusche von Bomben. Deshalb gingen wir zurück zu unseren Häusern, wir waren verängstigt und wollten an einem sicheren Ort bleiben. Wegen der Eile, verursacht durch die Angst, fiel das Baby, Muhammed vom Schoß seiner Mutter. Zunächst begann er, sich zu übergeben. Dann ging sein Fieber hoch. Wir wachten bei ihm und beobachteten ihn bis zum Morgen. Aber wir konnten sein Fieber nicht senken. Ich realisierte gegen 07 Uhr des 05.09.2015, dass mein Telefon wieder ein Signal bekam und ich wählte 112. Ich informierte sie und gab die Wohnadresse an. Zunächst sagten sie, sie würden kommen, aber dann erfuhr ich, dass sie am Anfang der Sultan Straße, 100 Meter entfernt von unserem Haus, warteten. Das erfuhr ist, weil ich öfter anrief. Sie verhinderten den Durchlass der Krankenwagen an der Sultan Straße mit gepanzerten Fahrzeugen des Typs Kobra, sie wollten nicht, dass die Krankenwagen uns erreichen, aufgrund von Sicherheitsgründen. Da Scharfschützen in jeder Straße waren, konnte ich mein Baby nicht zum Krankenwagen bringen, weil ich wusste, die Scharfschützen würden mich erschießen. Dann fing ich an, ständig den Krankenwagen anzurufen, weil das Baby, Muhammed noch lebte. Schließlich, aufgrund meiner ununterbrochenen Anrufe und meinem Brüllen antwortete mir am 05.09.2015, gegen 21 Uhr ein Doktor und gab mir ein paar medizinische Informationen. Der Arzt sagte mir, ich solle ihn auf den Rücken legen und seine Beine hoch legen und auf seinen Bauch drücken, um das Erbrechen zu verhindern. Ich habe das alles gemacht, aber es hat nichts geholfen. Mein Sohn, Muhammed, starb in der Nacht gegen 03 Uhr. Während all dies passierte, lief die Ausgangssperre noch. Da waren gepanzerte Fahrzeuge an jeder Straße im Stadtviertel. Am 06.09.2015 gegen 08 Uhr brachten wir ihn zur Seyh Sait Moschee mit der Hilfe von Nachbarn, um das Gejammer seiner Mutter zu beenden. Dann mussten wir 30 Stunden bei dem Körper von Muhammed warten, ohne ihn waschen zu können. Wir ließen ihn in der Moschee, die ohne jede Kühlung, Elektrizität oder Wasser war. Da war auch noch der Körper von Sait Çağdavul. Leyla Birlik und Ferhat Encü, die zwei Abgeordneten die zu der Zeit im Stadtviertel waren und ich brachten die zwei Leichen aus der Moschee und auf die Straße nach Idil. Ich trug Muhammed in meinen Armen. Auf dem Weg nach Idil sahen wir Leichenwagen der Gemeinde und wir gaben ihnen die Leichen. Wir wurden beschossen und mit Tränengas beschossen von gepanzerten Kobra Fahrzeugen. Wie flüchteten in den nächsten Platz. Am 12.09.2015, der Tag an dem die Ausgangssperre endete, suchte ich die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses von Cizre auf. Die Spezialeinheiten der Polizei, die dort standen, sagten mir, dass kein 35 Tage altes Baby sich in dem staatlichen Krankenhaus von Cizre befinde und er ins staatliche Krankenhaus von Şırnak zur Autopsie gebracht worden sei.
Dann ging ich nach Şırnak. Ich ging in die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses von Şırnak und dort erfuhr ich, dass die Leiche sich bei der Sektion befinde. In der Leichenhalle waren Staatsanwälte und Polizei und die Autopsie wurde durchgeführt. Der Staatsanwalt sagte uns, wir sollten die Leiche mitnehmen und gab uns die Todesurkunde. Wie auch immer, ich kam spät abends in Şırnak an und wollte von dem Staatsanwalt, dass die Leiche an dem Ort bis zur Beerdigung bleibt, aber er lehnte ab.
Sie handelten genauso mit den 7 weiteren Leichen. Die Leichen wurden übergeben an Leichenwagen der Kommune, die mit Hilfe der Kommune von Şırnak vorbei kamen. Um 08 Uhr morgens nahmen wir die Straße nach Cizre. Wir konnten mit viel Mühe das Baby Muhammed am 13.09.2015 gegen 14 Uhr begraben.“
(b) Sosin Yaramuş, Mutter von Muhammed Tahir Yaramuş, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Da war keine Elektrizität und Gewehrfeuer, Explosionen waren zu gleicher Zeit zu hören. Es traf die Wände und die Türen des Hauses. Da fielen auch sogar kleine Teile in den Innenhof, wo wir waren. Mit all der Panik und Angst, die dadurch entstand, versuchten wir, ins Haus zu kommen. Während dessen prallten wir aufeinander und fielen in Panik hin. Davon abgesehen ist die Stellungnahme meines Mannes Abdullah Yaramuş richtig, der Vorfall ist in der Weise passiert.“
(3) Mehmet Dökmen (70)
Mehmet Dökmen starb am 11.09.2015, im Stadtviertel Yafes, Abdülrezak Straße, nach einer Explosion in der Nähe seines Hauses an einer Herzattacke. Obwohl er krank und alt war und unter ständiger medizinischer Behandlung stand, konnte er nach dem Beginn der Ausgangssperre nicht mehr zum Krankenhaus gehen.
(a) Selim Dökmen, Bruder von Mehmet Dökmen, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich lebe in Istanbul. Mein Bruder Mehmet Dökmen lebt mit seiner Frau Ayşe Dökmen in Cizre. Mein Bruder rief mich am 30.08.2015 an und sagte, dass er ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, weil er krank war. Er bat mich zu kommen und mich um ihn zu kümmern. Ich ging am 31.08., um 13:30 Uhr nach Cizre. Und ich ging zu Krankenhaus. Wir blieben im Krankenhaus bis zum Mittwoch. Am 02.09.2015 um 14:30 Uhr entließen sie ihn aus dem Krankenhaus. Um 17 Uhr desselben Tages wurde er erneut krank. Wir brachten ihn mit dem Taxi zum Krankenhaus. Sie entließen ihn, nachdem sie ihm eine Spritze gegeben hatten. Um 3 Uhr in der Nacht auf den 10.09.2015 rief er mich an und sagte, dass er Schmerzen im Herz habe. Er war sehr kurzatmig. Von draußen waren die Geräusche von Gewehren und Waffen zu hören. Da war eine große Explosion. Ich ging raus, um zu sehen, was passiert war. Als ich zurückkam, sah ich (nahm ich wahr), dass mein Bruder tot war. Als er noch lebte und unter Schmerzen litt, rief ich einen Krankenwagen. Sie antworteten nicht. Danach rief ich einen Taxifahrer. Sie sagten, sie könnten nicht kommen. Am Morgen des 11.09.2015 brachten wir ihn in die Moschee. Der Imam kam, um seinen Körper zu waschen und zu verhüllen und wir brachten die Leiche in einen Kühlschrank in der Nachbarschaft. Die Leiche blieb dort 2 Tage. Dann kam der Krankenwagen und brachten ihn ins Krankenhaus. Mein Sohn Nezat ging mit der Leiche ins Krankenhaus. Ich blieb einen Tag in der Leichenhalle. Am nächsten Tag wurde er beerdigt. Als mein Sohn den Staatsanwalt, er hieß Nevzat, traf, sagte dieser, es bestehe keine Notwendigkeit für eine Autopsie und er war überzeugt, mein Bruder sei an einer Herzattacke gestorben.“
(4) Ibrahim Çiçek (80)
Aus dem Bericht der Anwaltsdelegation ergibt sich, dass wegen des besorgniserregenden Gesundheitszustandes von Ibrahim Çiçek ein Krankenwagen gerufen wurde, diesem aber durch die Polizei nicht erlaubt wurde, in den Stadtteil zu kommen und er sein Leben verlor.
(5) unbekannte schwangere Frau
Aus der Aussage des Zeugen Kader Gargan gegenüber der Anwaltsdelegation ergibt sich, dass seine Nachbarin Gebärschmerzen bekam und sie schließlich verstarb, da der Krankenwagen nicht kommen konnte. Hierzu ist zu sagen, dass während der Ausgangssperre auch die medizinische Versorgung für Schwangere nicht gesichert war (Siehe hierzu Bericht des Ärztebundes Teil B, 1. Teil B II 4.).
(a) Kader Gargan, Augenzeuge, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Wir litten 8 Tage lange unter Hunger und Durst, wir erfuhren einen psychologischen Zusammenbruch. Wir konnten nicht schlafen, solange dort Kanonen- und Gewehrfeuer war. Wir konnten nur erfahren was für ein Massaker passierte, wenn wir beim Nachbarn Fernsehen schauten, nur dort gab es Elektrizität. Eine schwangere Frau in unsere Nachbarschaft hatte Gebärschmerzen für 4 Tage und starb während der Krankenwagen nicht kommen konnte und sie nicht behandelt werden konnte.“
3. Tote durch Herzinfarkt aufgrund von Stress
Bei zwei Personen ist jeweils durch die Anwaltsdelegation ermittelt worden, dass sie als Konsequenz der Spannungen und der Aufregung durch das ständige Bombardement eine Herzattacke erlitten haben und verstorben sind. Nähere Informationen liegen hier derzeit nicht vor.
(1) Xetban Bülbül (65)
Anwaltsdelegation: Als Konsequenz der Spannungen und Aufregung, produziert durch intensives Bombardement, Attacken und Explosionen starb er am 04.09.2015 aufgrund einer Herzattacke.
(2) Haci Ata Borçin (70)
Anwaltsdelegation: Aufgrund intensiver Attacken am 4. September mit dem Werfen von Bomben, geworfen von militärischen Fahrzeugen aus, und aufgrund des Stresses, verursacht durch die Explosionen, starb er an einer Herzattacke.
II. detaillierte Fälle von Verletzten
Insgesamt kann hinsichtlich der Verletzten weder eine konkrete Zahl noch eine komplette Namensliste angegeben werden. Grund hierfür ist zum einen, dass, die Verletzten in verschiedenen Krankenhäusern behandelt wurden und deshalb es für die Menschenrechtler_innen und Anwält_innen nicht möglich war, alle Verletzten zu finden und zum anderen, dass viele Menschen nicht ins Krankenhaus gingen, weil sie Angst hatten, dort verhaftet zu werden. Viele Einwohner haben deshalb versucht, Verletzte selbst zu behandeln.
Hier werden nur einige Fälle von Verletzten dokumentiert, bei denen Einzelheiten bekannt sind und Zeugenaussagen existieren.
Weitere Angaben zu Verletzten, bei denen keine detaillierten Zeugenaussagen vorliegen siehe oben, Teil B, 1. Teil A I u. II.
1. Abdullah Özcan
Am 06.09.2015 wurde Abdullah Özcan als durch Polizeischüsse verletzt. Er hat sein Bein verloren und seine Behandlung in Diyarbakir dauert noch an.
(1) Abdullah Özcan`s Vater gegenüber der Anwaltsdelegation
„Nachdem mein Sohn Abdullah Özcan sein Abendgebet gegen 20 Uhr beendet hatte, während die Ausgangssperre noch anhielt, ging er durch den Garten, um sein eigenes Tor zu schließen und wurde in diesem Moment von der Kugel, wir denken der eines Scharfschützen, in sein Bein getroffen. Wir konnten ihm nicht helfen, wegen des Beschusses durch die Polizei. Deshalb musste er verwundet eine halbe Stunde warten. Wir riefen später den Krankenwagen, aber er erschien nicht und so mussten wir ihn mit einem privaten Auto zum Krankenhaus bringen. Obwohl wir die Polizei es zuvor wissen ließen, wurde unser Auto von der Polizei zerstört. Weil die Kugel sein Knie getroffen hatte, ist die Spitze seines Knies auseinandergefallen (hat er einen Teil des Knies verloren). Abdullah hat sechs Kinder
(2) Abdullah Özcan, Verletzter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarkbakir
„Mein Name ist Abdullah. Ich bin 39 Jahre alt. Ich bin verheiratet und habe 6 Kinder. Ich bin arbeitslos, habe keine Arbeit. Ich bin freiberuflich tätig. Ich arbeite meist auf dem Bau. Es war gegen 20:15 Uhr bis 20:30 Uhr am 06.09 2015. Ab und zu gab es Strom. Vor dem Vorfall gab es Strom, aber sie unterbrachen ihn 5 Minuten vor dem Vorfall, er wurde unterbrochen und intensiver Lärm von Geschützfeuer begann. Unser Haus hat drei Stockwerke. Ich bin im Erdgeschoss. Ich ging vor das Haus, zum Hof. Ich ging raus für die Waschung vor dem Gebet. Ich führte die Waschung durch und ging zum Gästezimmer, der Gebetsteppich war dort, die Türen waren offen und ich betete. Das Innere des Hauses, das Zimmer, wo ich stand zum Gebet, konnten von außen gesehen werden. Ich stand noch, um zu beten, ich hatte nicht böses geahnt und ich fühlte Wärme an meinem Fuß.
Ich berührte meinen Fuß und ich hatte mein Blut an der Hand. Ich realisierte, dass ich angeschossen worden war, dann fiel ich auf den Boden. Ich rief meine Eltern und bat um Hilfe. Meine Familie kam und zog mich von dort weg. Sie schossen immer noch auf unsere Tür. Das Geschützfeuer war sehr nahe. Da waren Panzer unter an der Straße, aber ich sah keine Panzer als ich angeschossen wurde.
Es ist offensichtlich, dass Militärangehörige das Feuer eröffnet haben, es kann niemand anders gewesen sein. Nachdem ich meine Familie gerufen hatte, sah ich mich selber im Blut und ich kann den Rest nicht erinnern. Sie brachten mich am Morgen des nächsten Tages ins Krankenhaus. Es dauerte 12 Stunden. Sie konnten mich nicht ins Krankenhaus bringen, weil das Geschützfeuer und die Explosionen zu stark waren. Da war der Lärm von Geschützfeuer und Auseinandersetzungen in den Straßen. Sie hätten uns getötet, wenn wir hinausgegangen wären. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe und Sicherheitskräften. Ich weiß nicht was oder wer diese Gruppe war. Nachdem ich angeschossen wurde, rief meine Familie den Notruf 112 und das Krankenhaus, aber es gab keine Telefonverbindung. Einmal schaffte es meine Familie, mit 112 zu sprechen und sie sagten „kommen sie zur Ecke der Straße und wir werden sie von dort abholen“. Wie ging dort hin, aber 112 kam nicht. Wir mussten zurück nach Hause gehen, weil keine Sicherheit für unser Leben bestand. Am morgen, als die Geräusche der Schüsse weniger wurden, kam der Krankenwagen und brachte uns zum staatlichen Krankenhaus von Cizre. Sie schickten uns von Cizre nach Şırnak und dann schickten sie uns in das staatliche Krankenhaus von Diyarbakır. Im Krankenhaus von Cizre machten sie nur einen Verband um meinen Fuß, abgesehen davon konnten sie keine Behandlung durchführen.
Sicherheitsbeamte schickten mich zunächst nach Şırnak, nicht nach Diyarbakır. Sie sagten, dass sie nicht die Befugnis hätten, mich nach Diyarbakır zu schicken. In Wahrheit schickten nicht sie uns von Şırnak nach Diyarbakır. Wir kontaktierten mit unseren eigenen Mitteln ein privates Krankenhaus und kamen dann hier her.“
2. Salih Çağlı
Salih Çağlı wurde angeschossen, als er einen Fuß vor seinen Laden setzte und wurde am Arm und am Bein getroffen. Die Menschen, die ihm helfen wollten, wurden beschossen und sie mussten mit ihm mehrere Häuser durch darin befindliche Löcher in der Wand durchqueren, bevor sie einen Krankenwagen erreichen konnten. Der Krankenwagen war immer wieder aufgehalten und kontrolliert worden. Schließlich wurde ihm in Mardin sein Bein amputiert.
(1) Metin Çağlı, Sohn von Salih Çağlı, gegenüber HRW :
„Metin Çağlı sagte, dass sein Vater, Salih Çağlı, außerhalb seines Hauses im Stadtviertel Nur angeschossen wurde. Mein Vater ging gegen 09:30 Uhr oder 10:00 Uhr zur Tür des Ladens in der Nacht auf den 6. September und wir hörten seine Schreie. Es gab keine Elektrizität. Er brach zusammen, nachdem er in sein linkes Bein und seinen linken Arm getroffen wurde und blutete stark. Wir nahmen die Tür aus einem Schrank heraus und nutzten sie als Bahre, um ihn zu tragen. Wir konnten nicht auf die Straße hinaus, wo wir erneut beschossen worden wären und mussten durch das Haus unsere Nachbarn, in dem wir ein Loch in unser Haus schlugen, um das nächste Haus zu erreichen. Unsere Nachbarn hatten auch Löcher in die Wände zwischen Gebäuden geschlagen und wir passierten ca. 7 Häuser, um meinen Vater zu einem Krankenwagen zu bringen. Wir erreichten die Dalmislar Tankstelle auf der Idil Straße gegen 1 Uhr morgen und bekamen einen Krankenwagen. Da gab es lange Verzögerungen und der Krankenwagen wurde immer wieder aufgehalten und durch die Polizei kontrolliert auf dem Weg zum Cizre Krankenhaus, dann wurden wir zum Mardin Krankenhaus geschickt und die Polizei kontrollierte den Krankenwagen dreimal auf der Straße nach Mardin. Sie würden in den Krankenwagen schauen und sagen: „Er ist tot. “Mein Vater hatte zweimal einen Herzstillstand und wurde wiederbelebt. Um 06 Uhr morgens wurde mein Vater in Mardin operiert und ihm sein Bein unterhalb des Knies amputiert. Sein linker Arm und Kinn sind voll mit Granatsplittern und er ist immer noch im Krankenhaus.“
(2) Veli Çağlı,Sohn von Salih Çağlı gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am 07. September sammelten sich alle in ihren Häusern wegen der Ausgangssperre. Mein Vater ging raus zur Toilette. Dann ging er zur Fronttür unseres Ladens. In dem Moment wurden wir alle durch eine gewaltige Explosion erschüttert. Wir gingen in den hinteren Raum. Wir hörten meinen Bruder und meine Mutter schreien. „Hier“ sagte jemand. Mit meinem Bruder versuchten wir ihn von innerhalb des Ladens vom Eingang hineinzuziehen. Ich und mein Bruder versuchten, ihn hoch zuheben. Wir zogen ihn in die Küche, denkend, er wäre dort sicherer. Ich bin Student an einer privaten medizinischen HighSchool. Sein Bein war verletzt. Wir versuchten sie mit einer Bandage zu stoppen. Wir verlangsamten die Blutung und riefen die Nachbarn. Wir riefen den Krankenwagen, wir riefen Faysal Sariyildiz und schickten ihm Fotos, um die Schwere des Vorfalls zu erklären. Der Krankenwagen konnte mit der Hilfe der Parlamentarier kommen. Wir kamen zur Dalmis-Ölstation indem wir uns von Haus zu Haus bewegten. Dort warten wir 30–40 Minuten auf die Ankunft des Krankenwagens. Er wurde ins staatliche Krankenhaus von Cizre gebracht. Sie machten keinen weiteren Eingriff und beschleunigten sogar die Blutung durch entfernen des Tampons im Krankenhaus. Später, am 08. September wurde er morgens ins staatliche Krankenhaus von Mardin gebracht.“
3. Abdullah Anakin
Abdullah Anakin wurde beschossen, als er Bahattin Sevinik (Siehe oben Teil B, 1. Teil C I 1. (4)) ins Krankenhaus fahren wollte. Dabei wurde er in die Hand getroffen und Splitter drangen in sein linkes Auge ein. Erst nach 6 Tagen konnte er medizinische Hilfe erreichen und er befürchtet, das Augenlicht zu verlieren.
(1) Abdulhakim Anakin (28) gegenüber HRW :
„Abdullah Anakin sagte, er war in der Botas Straße, Stadtviertel Nur, angeschossen, als er mit Suphi Sarak zusammen versuchte, Sevinik in Krankenhaus zu fahren. Unser Nachbar Bahattin Sevinik wurde in seinem Hause nach dem Beten in den Kopf geschossen. Sein Bruder Hüsamettin rannte hinaus und rief und winkte mit einem Handy mit Licht an, rufend: „Sie haben meinen Bruder getötet“. In der Straße waren 10–15 gepanzerte Fahrzeuge, vielleicht auch mehr. Wir wussten nicht, dass er tot war. Hüsamettin sagte, er wisse nicht, wie man ein Auto fährt, um ihn zum Krankenhaus zu bringen. Wir boten an, ihn ins Krankenhaus zu fahren. Das Auto war im Hof und wir legten Bahattin ins Auto. Ich fuhr das Auto ein bis zwei Meter hinaus.
Als ich fuhr, erschien unser Nachbar Suphi Sarak, und schaute durch das Fenster des Autos und fragte, was passiert sei. Er war mit der leskeri bekleidet. Die Straße war voll von gepanzerten Fahrzeugen der Spezialeinsatzkräfte der Polizei und sie eröffneten das Feuer auf uns, erschossen ihn und schossen mir in meine linke Hand, die sich um das Lenkrad des Autos befand. Er wurde durch 10 Kugeln getroffen. Ich habe einen medizinischen Bericht erhalten, der erklärt, dass „Metallteile“ in mein linkes Auge eingedrungen sind, obwohl nicht genau spezifiziert ist, was es genau ist. Ich war sechs Tage zu Hause und konnte nicht in Krankenhaus, weil wir das Haus nicht verlassen konnten. Jemand den wir kannten, die Krankenschwester war, sah mich und überzeugte mich, zu gehen. Ich hatte zwei Operationen an meiner Hand und am Auge, um die drei „Metallteile“ zu entfernen. Ich kann mit meinem linken Auge nicht sehen und habe Angst, mein Augenlicht zu verlieren. Wir wissen, wie der Staat ist. Es gibt keine Sicherheit für das Leben in Cizre. Wir fürchten uns vor den blinden Kugeln, wo immer sie her kommen. Fünf verschiedene Gruppen von Polizeibeamten sind gekommen und haben mich vernommen. Ich wurde durch keinen Staatsanwalt vernommen, aber ich habe eine Beschwerde eingelegt.“
4. Berxwedana Taşkın
Das Baby Berxwedana Taşkın wurde durch Kugeln verletzt, als ihre Mutter, Zeynep Taşkın (siehe oben.Teil B, 1. Teil C I 9) gemeinsam mit Maşallah Edin (Siehe oben.Teil B, 1. Teil, C I 10) das Haus der Nachbarn verließ, um nach Hause zu gehen. Zeynep Taşkın und Maşallah Edin starben, das Baby überlebte.
(1) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Unser Haus ist im Stadtviertel Cudi, in der Askin Straße. Der Vorfall ereignete sich gegen 22 Uhr abends. Ich schlief zu dieser Zeit. Meine Schwägerin kam und sagte „sie haben das Feuer auf unser Haus eröffnet“. Ich schaute aus dem Fenster. Mein Onkel Ekrem Dayan schrie nach Hilfe. Ich rannte schnell, um ihm zu helfen ohne Schuhe an zu haben. Mein Bruder kam hinter mir, aber ich musste zurück gehen, weil sie das Feuer auf uns eröffneten. Mein Onkel Ekrem Dayan lag am Boden vor der Tür. Ich zog ihn hinein. Meine Schwägerin Maşallah Edin und unsere zukünftige Braut Zeynep Taşkın lagen verwundet vor der Tür auf dem Boden. Das Baby war mit ihnen während dieser Zeit und war auch verletzt. Mein Onkel war an der inneren Seite der Tür auf dem Boden und meine Schwägerin, unsere Braut und das Baby waren an der äußeren Seite der Tür. Die bedeckten das Baby mit ihren eigenen Körpern, ansonsten hätten sie es getötet. Ich versuchte mehrfach, die Frauen hineinzuziehen, nachdem ich meinen Onkel hereingebracht hatte, aber sie feuerten jedes Mal auf uns. Mein Bruder und ich wir versuchten, ihnen ins Haus zu helfen. Ich brachte meinen Onkel in das Haus meines Bruders. Erwar in einen Fuß geschossen worden. Ich zerriss mein T-Shirt und versuchte, dass Blut zu stoppen. Ich bat um Hilfe. Ich schrie und rief den Leuten zu „Hilfe! Sie schießen auf alle“. Meine andere Schwägerin kam. Die Frauen und das Baby blieben dort für 2–3 Stunden in dieser Lage. Das Baby weinte, dann stoppten wir ein vorbeifahrendes Fahrzeug. Währenddessen beschossen sie uns weiter. Wir rannten wieder rein. Wir versuchten 15–20 Minuten später erneut herauszugehen. Als ich später wieder hinsah, sah ich, dass meine Schwägerin und unsere Braut verblutet waren. Meine Schwägerin Ayşe Kolin wurde auch angeschossen, als sie ging, um ihnen zu helfen. Ungefähr 3 Stunden später brachten wir die beiden Verwundeten und die Leichen zum Cizre-Beerdigungsinstitut. Nachdem die Leichen für eine Nacht im Beerdigungsinstitut geblieben waren, brachten wir die Leichen in einen kalten Raum des Supermarktes Kipmar, wo Fleisch gelagert wird. Dann wurden die Verletzten mit Hilfe der/des Abgeordneten mit einem Auto ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gebracht.“
(2) Ferhan Dayan, Ahmet Edin`s Cousin, gegenüber HRW
„Ferhan Dayan, der im Haus war, als die Frauen erschossen wurden, sagte, dass die Versuche, die Körper der Frauen und das Baby zu bergen, verhindert wurden durch wiederholtes Feuer durch polizeiliche Scharfschützen auf jeden, der sich herauswagte.
Er sagte, sein Vater, Ekrem Dayan, 56, war mit den Frauen zusammen und wurden an der Tür in den Fuß geschossen und fiel rückwärts hinein, so dass die anderen ihn in Sicherheit ziehen konnten. Er sagte, dass noch einiger Zeit ein anderer Verwandter, Ayşe Kolin, 50, versuchte, die zwei Frauen zu erreichen, aber er wurde in seine Hüfte geschossen. Beide, Ekrem Dayan und Ayşe Kolin wurden operiert und befinden sich immer noch in medizinischer Behandlung, sagten die Familienmitglieder. Idris Elinc, vor Ort zur Zeit der Schüsse, sagte: „Wir konnten die Leichen von Maşallah Edin und Zeynep Taşkın nach 1 ½ oder 2 Stunden bergen. Wir dachten alle drei wären tot und waren überrascht, das Baby Berxwedan lebend, aber verletzt zwischen den Leichen der beiden Frauen zu finden“.
Diejenigen, die über die Schüsse interviewt wurden, betonten alle, dass der Ort, wo auf die fünf Menschen geschossen wurde, sich im Stadtviertel Nur an einem steil hervorgehobenen Abhang befand, der gut sichtbar von anderen Stadtvierteln von Cizre ist und dass sie glaubten, das Scharfschützen, positioniert auf hohen Gebäuden in anderen Teilen der Stadt diese Örtlichkeit beschossen haben können.“
5. Ein anonymer Imam
Ein Imam der anonym bleiben wollte, äußerte sich gegenüber der Anwaltsdelegation. In deren Bericht heißt es dazu:
„Er sagte, dass er, solange er öffentlich angestellt, sei, anonym bleiben wolle. Er gab an, dass er, als er vom Nachtgebet in der Moschee zurückkehrte, eine Kugel seine rechte Schulter traf und er denkt, sie stammt von einem Scharfschützen. Er sagte, dass während der Ausgangssperre, sie sogar das Wasser auf dem Dach ihres Hauses nicht tauschen konnten, da sie, wenn sie versuchten, zu wechseln, durch Scharfschützen ins Visier genommen wurden. Das machte es unmöglich. Er sagte, dass er zu Hause behandelt worden sei, der Arzt sei zu ihm nach Hause gekommen, habe die Kugel mit seinen eigenen Mitteln herausgeholt und die Kugel habe von einem Sturmgewehr gestammt. Als der Doktor erfahren habe, dass dort ernsthaft verletzte Personen gewesen seien, musste er gehen, ohne dass er die Wunde richtig schließen konnte und kam stattdessen einige Stunden später wieder, um die Wunde zu schließen. Der Arzt habe gesagt, es konnte niemand herausgehen, die Einwohner wurden durch Kanister mit Wasser aus den Brunnen versorgt . Er ergänzte, dass sie die Gebete nicht rezitieren konnten während der Waffenruhe und dass die Minarette die ganze Zeit durch von Scharfschützen besetzt waren. (Die Person, die diesen Bericht gab, versuchte keine Namen bekannt zu geben während des Interviews)“
2. Teil: Ekin Van
Die Guerillakämpferin Kader Kevser Ertürk (Ekin Wan), geboren 1985 in Caldiran, Bezirk Van, schloss sich 2008 der PKK an und war die drei Jahre bis zu ihrem Tod am 10. August 2015 in den ländlichen Gebieten rund um Varto aktiv.
Sie verlor ihr Leben während einer Auseinandersetzung in Varto, bei der sich keine Zivilist_innen in der Umgebung der Auseinandersetzung aufhielten.
Auf der Basis ihre Gespräche mit Zeug_innen, sagte die Anwältin der Familie, Eren Keskin, Eltürk sei von einem Schuss in ihre linke Hüfte getroffen worden.
Bis heute kann nicht gesagt werden, ob ihr Tod durch diesen Schuss verursacht wurde. Familienmitglieder bemerkten, als sie ihren Leichnam vor der Beerdigung wuschen, Spuren eines Stricks und von Folter an ihrem Hals und Körper, so dass nicht auszuschließen ist, dass sie vielleicht über den Boden geschleift oder gefoltert wurde.
An dem Ort, wo sie erschossen wurde, wurden zwei Bilder von Eltürk gemacht, eines bekleidet und eines nackt. Auf den Bildern sind drei Männer mit blauen Handschuhen zu sehen, allerdings sind nur ihre Beine auf den Fotos erkennbar.
Das Foto, auf dem sie nackt zu sehen ist,
-Anlage 3-
wurde über die sozialen Medien (Twitter) verbreitet. Es zeigt ihren nackten Leichnam auf einer staubigen Straße. Ihr linke Arm ist wie schützend unter dem Körper verborgen, eine breite Blutspur verläuft über ihre Hüfte und ihr Gesäß. Die verrenkten Beine sind schmutzig und wund.
Auf Nachfrage der Anwältin, wer die Fotos gemacht habe, teilte der Polizeichef von Varto ihr mit, dass das Tatortuntersuchungsteam das Foto gemacht haben könnte. Er ergänzte, dass er aber nicht wisse, von wo dieses Team gekommen sei.
Einige Tage nach der Veröffentlichung der Fotos hatte der Gouverneur von Mus, Vedat Büyükersoy, verkündet, dass Ermittlungen eingeleitet worden seien, um herauszufinden, wer die Fotos gemacht und wer sie in den sozialen Medien veröffentlicht hatte.
Bisher sind die Ermittlungen dennoch nicht voran gegangen.
Der Staatsanwalt erklärte Keskin gegenüber, die Ermittlungen würden fortgeführt werden, aber bisher sei kein Obduktionsbericht verfügbar.
Die Familie von Eltürk hat am 17. August 2015 eine Strafanzeige wegen Verletzung der Totenehre eingereicht.

3. Teil Lokman Birlik
Am 04. Oktober 2015 tauchten bei Twitter Bilder auf, die zeigen, wie in der Stadt Şırnak ein Polizeifahrzeug, die Leiche eines getöteten Kurden durch die Stadt schleift.
-Anlage 4-
Auf einer Videoaufnahme ist zu hören, wie die Polizisten in dem Fahrzeug den Getöteten während der Fahrt verflucht und verhöhnt haben. Ein Beamter gratuliert einem Kollegen auch noch zu der erfolgreichen Tötung.
Bei dem Toten handelt es sich um den 24-jährigen Hadschi Lokman Birlik, einen Schwager der kurdischen Parlamentsabgeordneten Leyla Birlik aus Şırnak.
Laut türkischen Medienberichten wurde Lokman Birlik während einer Schießerei zwischen der Polizei und der PKK-Jugendorganisation am 02.Oktober 2015 erschossen.
Nachdem AKP-Sprecher zuerst behauptet hatten, die Fotos seien gefälscht, erklärte das Innenministerium laut der Zeitung Hürriyet nach ersten Angaben sei die Leiche vorübergehend hinter dem Fahrzeug her geschleift worden, weil der Verdacht bestanden habe, dass sie mit einer Sprengfalle versehen war .
Auch diese Version wurde dann aber wieder revidiert, als die Videoaufnahmen mit den verhöhnenden Worten der Polizeibeamten auftauchten und der damalige türkische Ministerpräsident Ahmte Davutoğlu die Leichenschändung als „nicht hinnehmbar“ bezeichnete und damit diesen Berichten widersprach.
Inzwischen hat das Innenministerium zwei Ermittler nach Şırnak geschickt, um die Leichenschändung zu untersuchen – nicht aber die bisher ungeklärten dubiosen Umstände des Todes von Lokman Birlik. Dem Autopsiebericht zufolge wies seine Leiche 28 Schussverletzungen auf.
Lokman Birlik wurde am 10. Oktober 2015 in Şırnak beigesetzt.
4. Teil: Keller Cizre
A. Allgemeines
Während einer weiteren Ausgangssperre (vom 14. Dezember 2015 bis zum 02. März 2016) kamen in drei Häuserkellern in Cizre zwischen dem 23. Januar und wahrscheinlich dem 11. Februar 2016 nach bisherigen Erkenntnissen mindestens 167 Menschen ums Leben. Die genaue Zahl der Opfer ist noch unbekannt, ebenso sind viele der 167 Leichen noch nicht identifiziert. Einige starben, weil sie trotz einstweiliger Verfügungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keine medizinische Hilfe erhalten konnten, viele weitere sind nach allen Erkenntnissen bei lebendigem Leibe verbrannt bzw. teilweise vermutlich auch verbrannt worden, nachdem sie bereits tot waren. Derzeit deutet alles darauf hin, dass die Gebäude teilweise durch die Sicherheitskräfte mit Benzin in Brand gesetzt wurden und die Menschen bei lebendigem Leibe verbrannten, teilweise die Gebäude mit den verletzten Menschen durch Granatbeschuss und weiteren Beschuss mit schweren Waffen weiter beschossen wurden und die Menschen unter nicht näher geklärten Umständen ums Leben kamen, ihre Leichen jedoch verbrannt waren. Menschen die die Keller verließen, um zu Krankenwagen zu kommen, wurden erschossen, wie der 16jährige Abdullah Gün (Hierzu näheres weiter unten).
Der exakte Ablauf und die Todesursache hinsichtlich jeder Einzelperson ist unklar. Dies hat seine Ursache zum einen darin, dass aufgrund der Ausgangssperre niemand zum Ort des Geschehens gelangen konnte, zum anderen wurde auch nach dem Ende der Ausgangssperre keine ordnungsgemäße Spurensicherung durchgeführt (und erst recht keine, die internationalen Standards für die Untersuchung von Vorfällen, bei denen Menschenrechtsverletzungen im Raume stehen, entsprechen würde). Vielmehr besteht nach allem, was bisher bekannt ist, die Sorge bzw. drängt sich der Eindruck auf, dass teilweise Spuren, inklusive Leichen bzw. Leichenteile, vorsätzlich vernichtet worden sind.
Auch wenn die Ereignisse hier, aber auch derzeit wohl überhaupt, nicht lückenlos dokumentiert werden können, sind die zur Verfügung stehenden Informationen jedoch ausreichend, um einen Anfangsverdacht für schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu begründen.
Im Sinne der fehlenden Transparenz und der Sorge um fehlende Aufklärung der Vorfälle äußerten sich am 10. Mai 2016 auch die Vereinten Nationen. In Ihrer Pressemitteilung heißt es :

„(…) Verstörend sind vor allem,“ sagte der Hochkommissar, „die Berichte über Angaben von Zeug_innen und Verwandten aus Cizre, die darauf hindeuten, dass mehr als 100 Menschen verbrannt sind, als sie in drei verschiedenen Kellern Schutz gesucht haben, die durch Sicherheitskräfte umzingelt waren.“
„Alle diese Anschuldigungen, einschließlich jener, die die gegen die Sicherheitskräfte kämpfenden Gruppen betreffen, sind extrem ernst und sollten sorgfältig untersucht werden, aber scheinen es bisher nicht geworden zu sein. Die türkische Regierung hat bisher nicht positiv auf die Anfragen meines Büros und anderer Teile der Vereinten Nationen, die Region zu besuchen, um aus erster Hand Informationen zu sammeln, reagiert“.
Der UN-Menschenrechtskommissar Prinz Zeid Ra’ad Zeid al Hussein merkt an, dass im Vergleich zu anderen Bezirken, Städten und Dörfern im Mittleren Osten – einschließlich Silopi, Nusaybin und dem Stadteil Sur von Diyarbakir, der Hauptstadt der Region –, die über Wochen unbefristet abgeriegelt wurden und zu denen der Zugang aufgrund der schweren Sicherheitspräsenz immer noch fast unmöglich ist, mehr Informationen aus Cizre bekannt geworden sind.
„In 2016 ein derartiges Informationsdefizit darüber zu haben, was in einem solch großen und geographisch zugänglichen Gebiet passiert, ist außerordentlich und tiefst beunruhigend“, sagte Zeid al Hussein. „Dieser Totalausfall befeuert den Argwohn über das, was passiert. Ich erneuere deshalb meinen Ruf nach Zugang für Angehörige der Vereinten Nationen und andere objektive Beobachter und Ermittler, einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen und Journalisten.“
Bevor im Weiteren näher auf die Ereignisse in den drei Kellern eingegangen wird, soll hier zur Beschreibung der allgemeinen Lage während und nach dieser Ausgangssperre in Cizre zunächst ein Bericht der Menschenrechtsorganisation IPPNW (Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) wiedergegeben werden. Diese hat im März 2016 Cizre aufgesucht. In dem Bericht heißt es :

„Auf unserem Weg in die Kleinstadt Cizre nahe der türkisch-irakischen Grenze erklärt uns an einer Straßensperre ein schwer bewaffneter Polizist, Cizre sei jetzt gesäubert.
Die HDP-Bürgermeisterin der 135.000 Einwohner zählenden Stadt, Leyla Imret, berichtet uns von der dortigen Ausgangssperre. Leyla Imret wurde 2014 mit 84 Prozent der Stimmen gewählt, im September 2015 aber von der Regierung ihres Amtes enthoben, nachdem sie ihre Sorge vor einer Gewalteskalation in einer Rede geäußert hatte und ihr dies als Terror-Propaganda ausgelegt wurde. Gegen sie laufen drei Klagen. Sie darf die Türkei nicht verlassen. Dennoch arbeitet sie als Bürgermeisterin mit ihrer Stadtverwaltung weiter – auch unter schwierigsten Bedingungen.
Die erste von drei Ausgangssperren in Cizre dauerte neun Tage, vom 4. bis 12. September 2015. Sie traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet. In ihrer Folge sind 60 Menschen gestorben. Eine Ausgangssperre hatte es in Cizre zuletzt 1991 für 12 Stunden gegeben. Wirklich niemand habe am 4. September 2015 damit gerechnet, dass sofort Wasser, Strom, Lebensmittelnachschub, Telefon und Internet abgestellt würden. Danach seien 25.000 Einsatzkräfte mit Panzern und Vorratslagern stationiert worden.
Unmittelbar vor der dritten, großen Ausgangssperre vom 14. Dezember 2015 bis zum 2. März 2016 wurden alle Staatsbediensteten (LehrerInnen, Beamte) für ein Seminar – das es nicht gab – abgeordert und verließen überstürzt die Stadt. Jugendliche aus den Vierteln und Militante bauten erste Barrikaden. Danach stand Cizre 84 Tage ununterbrochen unter Belagerung. Während der Vorankündigungsfrist von 12 Stunden verließen ca. 30 % der Bevölkerung die Stadt. Viele blieben, in der Hoffnung, ihre Häuser zu retten. Alle Lebensadern wurden gekappt.
Dreihundert Menschen starben in den ersten 35 Tagen der Ausgangssperre. Einzelne oder Familien verließen mit weißen Fahnen ihre Häuser in dem am stärksten betroffenen Gebiet. Manche wurden trotzdem beschossen. Verletzte oder Schwangere wurden von der Klinik abgewiesen, die jetzt dem Militär diente. Nach vierzig Tagen waren die abgeriegelten Viertel leer bis auf jugendliche Militante und wenige Bewohner, die nicht gehen wollten oder konnten. Die Leiche einer PKK-Kämpferin hat das Militär auf der Straße zur Schau gestellt.

In den Trümmern eines zerstörten Viertels in Cizre. Foto: privat
Ein städtischer Angestellter zeigt uns bei einem anschließenden Rundgang durch die Ruinenlandschaft der am stärksten betroffenen Viertel die Bergstraße, von der aus der Artilleriebeschuss anfangs erfolgte. Erst später seien Panzer und Militäreinheiten eingerückt und hätten einen inneren Belagerungsring um vier Straßenzüge gezogen. Haus für Haus seien sie in die Wohnungen eingedrungen und hätten alles zerstört, was sie noch vorfanden. An den Wänden hinterließen sie Parolen wie „Ihr habt die Kraft der Türken zu spüren bekommen“ oder „Ihr seid alle Huren“.
Es herrscht beklemmende Stille, die Gesichter der Menschen sind leer. Auch wir, die wir Fotos der zerstörten Gebiete in Cizre schon in Deutschland gesehen haben, sind angesichts dieser offenen Brutalität sprachlos.
Unser Begleiter zeigt uns, wo ein sechsstöckiges Haus von Soldaten gesprengt wurde und 70 Menschen starben. In ein anderes Haus wurde Benzin eingeleitet, um die im Keller versteckten Menschen zu verbrennen. Viele Leichen sind bis heute nicht zu identifizieren. Unter ihnen sind auch Studenten aus der Westtürkei, die den Eingeschlossenen zu Hilfe kommen wollten. Von diesen AktivistInnen gab es Namenslisten; ihre Eltern reisten an. Mütter versuchten ihre Kinder zu retten, die aus den Kellern schrien. Die Mütter wurden festgenommen und mit Geldstrafen belegt. Abgeordnete traten in Hungerstreik, Ambulanzen wurden beschossen, Sanitäter bedroht, ein Journalist bei seiner Arbeit angeschossen. 30 Abgeordnete versuchten erfolglos, in die Häuser zu gelangen. Alle Vermittlungsversuche scheiterten.
Leyla Imret sagt, dass die Stadtverwaltung an den Planungen für den Wiederaufbau nicht beteiligt werde. Sie befürchtet massive Enteignungen und Umsiedlungen. Trotzdem versucht die Verwaltung alles zu tun, um betroffenen Menschen zu helfen. Für besonders notleidende Familien suchen sie Patenschaften, das heißt Menschen, die sich bereit erklären, je eine Familie mit einem monatlichen Betrag zu unterstützen.“
B. Konkrete Erkenntnisse
Nun soll ausgeführt werden, welche Erkenntnisse, über die konkreten Ereignisse in den drei Kellern vorliegen.
Wie bereits oben erwähnt, die Ereignisse hier, aber derzeit wohl auch überhaupt, nicht lückenlos dokumentiert werden können, reiche die im Folgenden dargelegten Informationen aus, um einen Anfangsverdacht für schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu begründen.
Der erste der drei Kellergeschosse, um die es hier geht, befindet sich in der Bostanci Straße Nr. 23 im Stadtviertel Nur, der zweite in der Narin Straße Nr. 6 und der dritte zwischen der Beyazit und der Akdeniz Straße.
Zur besseren Orientierung hier nun ein Ausschnitt des Stadtplans von Cizre:

Es sollen nun die Ereignisse, soweit wie möglich, chronologisch dargestellt werden. Dabei wird zum weiteren Verständnis zunächst etwas zu den Ereignissen in den Tagen dargestellt, bevor die eigentlichen hier angezeigten Straftaten erfolgt sind (I.). Anschließend wird wiedergegeben, welche Erkenntnisse hinsichtlich der Ereignisse im sog. 1. Keller bestehen (II.), schließlich diejenigen betreffend den 2. Keller (III.) dann die betreffend den 3. Keller (IV.) und schließlich diejenigen, betreffend das, was nach dem Ende der eigentlichen Ereignisse für Ermittlungen etc. stattgefunden haben (V.).

I.Vorgeschichte:
Wie bereits im Bericht von IPPNW erwähnt, herrschte in der Zeit vom 14. Dezember 2015 bis zum 02. März 2016 eine 84tägige, Ausgangssperre. Es war die dritte, aber die längste Ausgangssperre innerhalb kurzer Zeit. Auch diese war angeordnet worden durch den Gouverneur von Şirnak, den Beschuldigen Ali Ihsan Su. Im Gegensatz zu der Ausgangssperre vom September, bei der als deren Folge einige Stadtviertel unter ständigem Beschuss standen, war bei dieser Ausgangssperre nahezu die gesamte Stadt von dem ständigen Beschuss betroffen und in der Folge dann auch zerstört.
Wie bereits bei der Ausgangssperre im September 2015 war es auch diesmal während der Ausgangssperre in der Regel nicht möglich, dass Krankenwagen die Verletzten erreichen. Auch Leichen konnten nicht geborgen werden und lagen in den Straßen.
Der Parlamentsabgeordnete der HDP, Faysal Sariyildiz, versuchte alles, um ein Durchkommen von Krankenwagen zu den Verletzten, aber auch das Bergen der Leichen zu ermöglichen, so etwa Kontakt mit Sicherheitskräften, Gouvereur und Staatsanwaltschaft. Die meisten seiner Bemühungen scheiterten. Immer wieder meldeten sich Menschen, die – teilweise verletzt – in ihren Häusern oder den Kellern ihrer Häuser eingeschlossen waren, bei ihm oder bei Verwandten und baten verzweifelt um Hilfe. Sie erklärten dem Abgeordneten oder ihren Verwandten, der Presse oder auch Anwält_innen, dass sie die Häuser aufgrund des Beschusses durch die Sicherheitskräfte nicht verlassen könnten.
Schließlich wurde an Faysal Sariyildiz die Information herangetragen, dass sich zwischen fünf und zehn verletzte Personen sowie mehrere Leichen in einem Viertel in Cizre befänden, die keine Hilfe erhielten bzw. wo die Leichen nicht geborgen werden könnten .
Am 18. Januar 2016 wurden daraufhin die ersten Anträge beim EGMR für fünf verletzte Personen gestellt, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten hatten. Dabei handelte es sich um Serhat Altun, Hüseyin Paksoy, Cihan Karaman, Helin Öncü und Orhan Tunc .
In Bezug auf diese Personen hatte der EGMR vorläufige Maßnahmen erlassen, mit denen die türkische Regierung aufgefordert wurde, alle ihnen möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller_innen zu schützen .
Nach Angaben von Amnesty-International waren am 26. Januar 2016 drei der Antragsteller_innen, Serhat Altun, Hüseyin Paksoy und Cihan Karaman, bereits ihren Verletzungen erlegen, weil sie trotz der vorläufigen Maßnahmen keine Notfallversorgung erhalten hatten. Helin Öncü konnte in ein Krankenhaus gelangen. Von Orhan Tunc fehlte am 26. Januar 2016 jede Spur. Mittlerweile ist klar, dass er tot ist. Am 28. Februar 2016 wurde bekannt, dass seine Leiche anhand von DNA identifiziert wurde . Aus der Aussage der Zeugin Taybet (Siehe unten unter Teil B, 4. Teil B IV 3) ist davon auszugehen, dass er im sog. Dritten Keller getötet wurde .
Immer mehr Mütter sorgten sich um ihre verletzten Kinder oder wussten, dass die Leichen ihrer Kinder in den Straßen von Cizre liegen, so dass die die Situation für die Menschen immer unerträglicher wurde.
Deshalb geschah am 20. Januar Folgendes, das später unter Teil B, 5. Teil noch detaillierter dargestellt werden wird und als eigenständige weitere Tat zur Anzeige gebracht wird:
An diesem Tag machte sich eine nach Angaben des Parlamentsabgeordneten Faysal Sariyildiz gegenüber der Unterzeichnerin eine Gruppe von ca. 35-40 Zivilist_innen, zu der auch der Parlamentsabgeordnete Faysal Sariyildiz gehörte, und die durch den Journalisten Refik Tekin begleitet wurde, mit einer gut sichtbaren weißen Fahne auf, um Verletzte und Leichen einzusammeln. Faysal Sariyildiz hatte zuvor die Polizei informiert . Dann betraten sie das Stadtviertel Nur/Cudi, und überquerten die Nusaybin Straße. Es gab auch zunächst keine Probleme. Von einem gepanzerten Fahrzeug, das in der Nähe stand, wurde in diesem Moment nicht gegen die Gruppe vorgegangen, es erfolgte auch keine Ansprache an die Gruppe. Als die Gruppe schließlich vier verletzte Personen und drei Leichen eingesammelten hatten, wollten sie mit ihnen zurückkehren. Die weiße Fahne trugen sie weiter bei sich.
Faysal Sariyildiz hatte, bevor sie sich auf den Rückweg machten, den Notruf 112 angerufen und mitgeteilt, dass sie zurück kämen und sie einen Krankenwagen schicken sollten. Der Notruf sagte, sie könnten keine Wagen schicken, weil die Polizei nicht die Erlaubnis gebe .
Als die Personengruppe mit den Leichen, den Verletzten und der weißen Fahne dann wieder zur Nusaybin Straße kam, wurde von einem gepanzerten Fahrzeuge aus das Feuer auf sie eröffnet. Es hatte zuvor keine Vorwarnung gegeben .
Der Journalist Refik Tekin wurde getroffen und sein rechtes Schienbein zerschmettert. Hamid Pocal, ein Mitglied des Stadtrates, wurde in den Kopf geschossen. Er war tödlich verletzt. Selman Erdoğan wurde in die Brust geschossen und verstarb ebenfalls später im Krankenhaus . Es gab mindestens 10 weitere Verletzte .

II. Erster Keller
Am 23. Januar 2016 schließlich gab es Hilferufe von mindestens 28 Personen, die in einem Keller, dem als 1. Keller benannten Gebäude in der Bostanci Straße Schutz gesucht hatten und teilweise schwer verletzt waren. Amnesty International wurde durch eine Person im Keller mitgeteilt, dass es mindestens zehn Schwerverletzte gäbe. Den Rettungswagen wurde nicht die Erlaubnis erteilt, dorthin zu gelangen .
Am 25. Januar 2016 wurden deshalb für 13 Personen (Frau Asiye Yüksel, Herr Mehmet Tunc, Herr Mahmut Duymak, Herr Mehmet Yavuzel, Herr Rohat Aktas, Herr Sercan Ugur, Herr Murat Aslan, Herr Muharrem Erbek, Herr Azad Yilmaz, Herr Abullah Zileyaz, Frau Feride Yildiz, Herr Islam Kalkan, Herr Faik Özkan) Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestellt .
Am 26. Januar 2016 forderte der EGMR die türkische Regierung dazu auf, geeignete Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Kläger_innen zu treffen. Weiterhin forderte er weitere Informationen und drängte auf Einlegung einer Beschwerde am türkischen Verfassungsgericht. Eine Entscheidung traf der Gerichtshof zunächst nicht . Im Endeffekt starben die Menschen, während das Verfahren noch anhängig war. Amnesty-International startete am 26. Januar 2016 aufgrund dieser Informationen eine sog. „Urgent Action“ .
Am 28. Januar 2016 teilte Amnesty-International in einer Pressemitteilung mit, dass sie mit einer der Personen im Keller gesprochen hätten, die mitteilte, dass vier Personen bereits verstorben und zwölf schwer verletzt seien. Seitdem war die Kommunikation von Amnesty-International zu den Personen im Keller abgebrochen.
Als von staatlicher Seite behauptet wurde, es seien keine Zivilist_innen, sondern PKKler_innen, die sich dort in den Kellern befinden, rief Faysal Sariyildiz die Eingeschlossenen an und bat sie, ihm ihre Identitäten mitzuteilen . Dies geschah und Faysal Sariyildiz veröffentlichte am 31. Januar 2016 darauf hin über Twitter die Namen der Toten, Verletzten und Geschwächten:
Dies waren zu diesem Zeitpunkt :
1. Verstorben: Cihan Karaman, Rüzgar Yıldızgörer (21), Selami Yılmaz, Nusret Bayar, Sultan Irmak und zwei namentlich nicht bekannte Personen.
2. Verletzt: Mehmet Yavuzel (DBP Funktionär), Rohat Aktaş (Chefredakteur von Azadiya Welat), Feride Yıldız, Ferhat Saltıkak, Ali Fırat Kalkan, Mustafa Vartiyak, Mustafa Aslan, Tahir Çiçek, Rıdvan Ekinci, Dersim Aksay, İslam Bahıkesir, Serdar Pişkin, Ferhat Karaduman und Fehmi Dinç
3. Am Ende ihrer Kräfte: Hacer Aslan, Gülistan Üstün, Sakine Şiray, Berjin Demirkaya, Ramazan İşçi, Mahmut Duymak, Kasım Yana, Osman Gökhan und İzzet Gündüz
Faysal Sariyildiz hatte bis zum 30. Januar 2016 Kontakt, danach brach die Kommunikation in diesen Keller endgültig ab. Von diesem letzten Kontakt existiert ein Tonmitschnitt,
-Anlage 5-
Faysal Sariyildiz gibt dazu Folgendes an :

„Unsere Freunde (Parlamentsabgeordnete der HDP) waren im Büro des stellvertretenden Premierministers Numan Kurtulmus. Es gab ein Telefongespräch mit denen, die in dem Keller gefangen waren. Wir sprachen mit ihnen am Telefon und sie entschieden, herauszukommen, egal was passieren würde. Jeder in Kurtulmus`s Büro hatte unsere Unterhaltung über Telefonkonferenz mitgehört.
Während des Telefongesprächs war das Geräusch von einer Explosion zu hören und die Kommunikation war unterbrochen. Jeder hörte diese Geräusche. Es gibt Tonaufnahmen davon. Seit dem 30. Januar war unsere Kommunikation mit den Personen in dem Keller komplett abgebrochen.“
Die Familie von Berjin Demirkaya, deren Bruder Deutscher ist und in Deutschland lebt, geht davon aus, dass man auf dieser Tonaufnahme hört, wie Berjin „Ihr Ehrlosen“ ruft und dann Schüsse zu hören sind (Siehe Artikel Schwäbisches Tageblatt)
– Anlage 6-
Die in Deutschland lebende Familie von Berjin Demirkaya hatte sich am 31. Januar 2016 aufgrund der dramatischen Entwicklung an einen Rechtsanwalt in Deutschland gewandt. Dieser kontaktierte daraufhin am 01. Februar 2016 Amnesty-International, die sich der Sache annahmen und mitteilten, dass ihnen die dramatische Lage bereits bekannt sei. Gleichzeitig wandte sich der Anwalt für die Familie unmittelbar an das Auswärtige Amt. Am 04. Februar wurde ihm von dort telefonisch mitgeteilt, dass der zuständige Fachleiter des Ministers mit der Sache befasst sei.
In einer Mail an den Anwalt vom 03. Februar 2016 teilte Amnesty-International mit:

„Ihr Appell wegen Berjin Demirkaya wurde an mich weitergeleitet. Vielen Dank für Ihre Information. AI ist der Fall der Eingeschlossenen bekannt und wir sind sehr besorgt über die Lage…
Amnesty International hat schon vor einigen Tagen eine Eilbriefaktion (UA) wegen dringender Behandlungsbedürftigkeit der in dem Keller in Cizre eingeschlossenen Menschen herausgegeben (Anlage). Da nicht die Namen von allen bekannt war, konnten nur 13 namentlich in der UA genannt werden. Ich habe das Internationale Sekretariat von AI in London über den Fall von Berjin Demirkaya informiert.
Ich hoffe sehr, dass bald medizinische Behandlung ermöglicht wird!“
-Anlage 7 –
Dem Anwalt wurde vom Auswärtigen Amt später weiterhin mitgeteilt, dass die deutsche Botschaft den Tod von Berjin Demirkaya aufklären wolle. Den dafür notwendigen Deutschlandbezug hatte das Auswärtige Amt anerkannt, da Berjins Bruder Hasan deutscher Staatsangehöriger ist. Mehr Informationen wurde ihm nicht gegeben. (Siehe auch hierzu Artikel Schwäbisches Tageblatt).
Auch in der Türkei waren viele Mütter, Ehefrauen und andere Verwandte der Eingeschlossenen sehr besorgt und verzweifelt. Faysal Sariyildiz und andere mussten ihnen sagen, dass es mit den Krankenwagen nicht klappt und dass die Versuche, Verletzte und Tote einzusammeln, gescheitert waren, weil sie beschossen wurden (Siehe oben zu den Ereignissen am 20. Januar 2016). Daraufhin machte sich eine Gruppe von Frauen, deren Kinder und Verwandte sich in dem ersten Keller befanden, zu dem Keller auf, um ihre Kinder zu holen. Sie informierten zuvor niemanden darüber .
Die Mütter gelangten bis 200 Meter an das Gebäude heran, dort wurden sie jedoch mit Waffengewalt in Form von Kalaschnikows, die auf die Köpfe zielten, aufgehalten, alle verhaftet und zur Polizeistation gebracht, wo sich sämtliche Frauen bis auf die Unterwäsche entkleiden mussten.
Später wurden sie entlassen.
Lütfiye Duymak, die Frau von Mahmut Duymak, der sich wohl zunächst im ersten Keller aufhielt und dann im zweiten Keller starb , gab dazu folgendes an :

„Wir waren 10 Frauen, die versuchten, zu dem Keller zu gehen, um unsere verletzten Verwandten einzusammeln. Wir näherten uns aus Richtung Cafer Sadik Straße. Wir waren komplett durch Polizei umzingelt. Wir waren zwei oder drei Meter entfernt vom Keller. Zwischen uns und der Polizei waren vielleicht 10 Meter. Die Polizeibeamten fragten uns, was wir da machen. Wir sagten Ihnen, dass wir gekommen sind, um die Verletzten einzusammeln.
Sie sagten: „Wisst ihr nicht, dass hier Minen sind.“ Wir sagten, dass wenn sie, die Verletzten, sterben, dann wollen wir auch sterben. Wir versuchten ihnen zu erklären, was wir vorhatten zu machen. Dann kam einer von der gegenüberliegenden Seite. Er sah nicht wie ein Mensch aus, er war wie ein grausames Ungeheuer. Er zielte mit seiner Kalaschnikow auf unsere Köpfe, als wenn wir bewaffnet währen und gekommen währen, um mit ihnen zu kämpfen.
Sie brachten uns alle zur Polizeistation, mit 4 Polizeipanzern hinter uns. Dort durchsuchten sie uns dort alle, danach brachten sie uns zur Polizeistation auf der anderen Seite der Brücke (nach Banixani). Sie vernahmen uns eine nach der anderen.
Die Polizeibeamt_innen, die sich dort mit uns befassten, waren Frauen, aber sie zogen uns bis auf die Unterwäsche aus. Das ist, wie sie uns behandelt haben. Dann wurden wir zum Bezirk`s Gouverneursamt gebracht, wo sie Fotos von uns machten, unsere Größe und Gewicht feststellten und unser Augenfarbe notierten. Von dort aus, brachten sie uns ins Krankenhaus.
Es war gegen 21:30. Der Arzt fragte uns in Anwesenheit der Polizei, ob die Polizeibeamt_innen Gewalt gegen uns angewendet hatten. Wir sagten, sie hätten uns nichts getan, damit sie uns schnell entlassen.“
Insgesamt gab es seit dem 30. Januar 2016 keine Nachrichten mehr von den Eingeschlossenen im sog. ersten. Keller.
Alle Versuche von Krankenwagen der Kommune oder freiwilligen Helfer_innen, dorthin zu gelangen, scheiterten.
Laut Radikal vom 31. Januar 2016 wurde ein von der Türk Tabipleri Birliği (TTB, Ärztekammer der Türkei) und der Gewerkschaft für Bedienstete im Gesundheitswesen (SES) zusammen gestelltes Team von 14 freiwilligen Helfer_innen, die den Verletzten helfen wollten, zehn Kilometer von der Kreisstadt İdil in der Provinz Şırnak von Soldaten an der Weiterreise gehindert. Sie kehrten unverrichteter Dinge nach Midyat in der Provinz Mardin zurück.
Onur Naci Karancı, Vorstandsmitglied der Ärztekammer Ankara sagte gegenüber der Zeitschrift Radikal diesbezüglich, dass drei Ärzt_innen und zwei Bedienstete aus dem Gesundheitswesen so lange vor Ort bleiben würden, bis ihnen ein Besuch bei den Verletzten gestattet würde. Am Vortage seien sie in Midyat angehalten worden. Polizisten hätten ihnen ein Schreiben des Gouverneurs gezeigt, dass „Gruppen aus dem Westen keine Erlaubnis hätten (in die umkämpften Gebiete zu fahren).“
Dr. Vahhac Alp kritisierte die Entscheidung der Sicherheitskräfte, den Zutritt in die Zone rund um das Gebäude mit der Begründung zu verhindern, dass die Gruppe über kein offizielles Dokument verfüge. Er wies darauf hin, dass Fahrzeugen, die das Symbol des Roten Kreuzes tragen, gemäß der Genfer Konvention stets die Erlaubnis haben sollten, Konfliktzonen zu betreten .
Auch am 04. und am 06. Februar 2016 gab es Meldungen, dass Krankenwagen nicht durchgelassen wurden. Am 06. Februar wurde gemeldet, dass ein Krankenwagen einer Gruppe von Freiwilligen, die sich erneut bemühten, zu den Verletzten in Cizre vorzudringen, von der Polizei stillgelegt und auf einen Treuhänder-Parkplatz gebracht wurde. Die Begründung der Polizei in Midyat war, dass die Versicherung des Fahrzeugs abgelaufen war. Obwohl die Delegation umgehend den Versicherungsbeitrag zahlte, wurde ihr gesagt, dass sie das Fahrzeug erst an einem Werktag der neuen Woche erhalten könnte.
Der Gouverneur von Şırnak wiederum behauptete, dass zehn Krankenwagen in der Nähe des betreffenden Hauses gewartet hätten, aber niemand von den Verletzten erschienen sei, obwohl sie wie am Vortage schon stundenlang gewartet hätten.
Laut Hürriyet vom 3. Februar 2016 zweifelte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu die Verletzungen der betroffenen Personen an und behauptete, dass zehn Krankenwagen mit 30 Bediensteten und sogar ein Hubschrauber in das Gebiet geschickt worden seien, aber keiner der Verletzten zur Behandlung gekommen sei. Vielleicht gebe es sie gar nicht. Es gehe um den Kampf gegen Terrorismus. In Silopi sei er, beendet worden. Dort gebe es keine Gräben mehr. In Cizre und Sur nähere man sich dem Ende.
Zu diesen Verlautbarungen staatlicher Kräfte gab Faysal Sariyildiz Folgendes an:

„Vertreter des Staates sagen, sie haben Aufrufe an die Menschen gemacht, aus den Kellern herauszukommen, sie sagen, sie hätten Krankenwagen für die Verletzten geschickt, aber niemand sei raus gekommen. Dieses Reden über die Krankenwagen war von Anfang an ein schmutziger Komplott, vom Anfang bis zum Ende. Krankenwagen hatten niemals die Nusaybin Straße betreten/befahren, weil die Straße mit gepanzerten Fahrzeugen voll war. Die Krankenwagen wurde alle nach Dörtyol gesandt. Dörtyol ist 700 Meter entfernt von der Nusaybin Straße/Ecke Bostanci.
Dort machten sie dann Ansagen und gaben damit einen bestimmten Eindruck hinsichtlich der Ereignisse an die Medien. Dort eröffneten sie das Feuer und gaben dann bekannt, dass ‚Mitglieder der Organisation (PKK) die Krankenwagen nicht hereinlassen‘.“
Lütfiye Duymak, die Frau von Mahmut Duymak, der sich wohl zunächst im ersten Keller aufhielt und dann im zweiten Keller starb , gab dazu folgendes an

Der erste Krankenwagen kam überhaupt nicht dahin, er fuhr nach Banixani (das Viertel auf der anderen Seite der Brücke). Der zweite Krankenwagen wurde nach Dörtyol geschickt, bei dem Günes Hotel. Es war zwei Kilometer entfernt (vom Keller). Er hätte dorthin fahren können. Die Entfernung hätte 250 Meter sein können.
Als wir zu dem Keller aufbrachen, sahen wir keine Bomben auf der Straßen. Da waren keine Bomben oder Minen, da waren nur zerstörte Stromleitungen. Der Staat lügt ständig. Die staatlichen Kräfte eröffneten das Feuer auf die Krankenwagen und dann sagten sie, dass da Gefechte rund um den Keller sind.
Als wir dorthin gingen, waren dort keine Gefechte. Es gab keine Schüsse aus dem Keller heraus.
III. Zweiter Keller
Dass im zweiten Keller in der Narin Straße Personen Schutz gesucht haben, wurde am 04. Februar bekannt. An diesem Tag rief einer der dort Eingeschlossenen, der Co-Vorsitzende des Volksrats von Cizre, Mehmet Tunc, der aus dem 1. Keller in der Bostanci Straße entkommen konnte, Faysal Sariyildiz an und teilte mit, dass sie 62 Personen seien, Tote gab es zu dem Zeitpunkt dort noch nicht. Er, Mehmet Tunc, sagte:

„Herr Abgeordneter, wird sind in einem der Häuser, vier oder fünf Häuser hinter der Straße, wo das Alize Kunefe (Cafe) ist. Wir sind hier gefangen. Mörsergranaten werden hier gerade auf uns abgefeuert. Die meisten der Menschen hier sind Zivilist_innen. Wir möchten, dass diese Menschen ins Krankenhaus kommen.“
Danach brach die Kommunikation zunächst ab.
Mehmet Tunc hatte zudem am Abend des 04. Februars Kontakt mit dem Fernsehsender Özgür Gün aufgenommen und erklärt, dass im Erdgeschoss des zweiten Gebäudes 37 Menschen eingeschlossen sind, darunter auch viele Verwundete .
Tunç gab dabei des Weiteren an, dass bei den schweren Artillerieangriffen der türkischen Armee auch dieses Gebäude getroffen wurde, indem viele Menschen Schutz suchten, dabei brach durch ein Artilleriegeschoss ein Feuer im Dachstuhl aus, infolge dessen seien neun schwer verwundete Menschen in den Flammen gestorben.
Er gab weiter an :

„Die anderen 28 Personen leben, allerdings haben einige von ihnen schwere Verbrennungen. Unter den aktuellen Bedingungen schaffen sie keinen weiteren Tag. Wir geben Zahnpasta auf die Wunden. 9 schwer verwundete Menschen sind in einem Raum bei lebendigem Leib verbrannt. Wir hatten etwas Wasser, wir haben versucht sie zu löschen, sie zu retten, aber wie haben es nicht geschafft. In dem Gebäude gibt es zwei Wohnungen, wir sind nun in die andere Wohnung geflüchtet. Die Mörserangriffe gehen weiter, gepanzerte Militärfahrzeuge fahren draußen Patrouille. Falls wir hier sterben sollten, dann war es eindeutig Mord“.
Am nächsten Tag rief Tunc erneut bei Faysal Sariyildiz an und sagte, neun Menschen seien in dem Keller verbrannt. Einige der Menschen seien schwer verletzt. Faysal Sariyildiz versuchte, den Transport ins Krankenhaus zu organisieren, scheiterte jedoch .
Gleichzeitig wurden einige Namen von verwundeten sowie getöteten Personen aus diesem Keller bekannt . Danach waren sechs der in dem Haus verbrannten Personen Şervan Adıgüzel, Ercan Pişkin, Muhammet Özkül, Nizar Isırgan, Cengiz Sansak und Ramazan Çömlek. Die drei anderen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht identifiziert werden .
Unter den zu diesem Zeitpunkt Verwundeten befanden sich: Fidan Dadak, Fedek Çağdavul, Servet Çörek, Yasemin Çıkmaz, Serdar Özbek, Mehmet Atlan, Hasan Ayaz (13), Ekrem Çevirgen (14) und Abdulkerim Oruç.“
Als schließlich Medien die Gerüchte verbreiteten, dass Rettungswagen zu den Verwundeten geschickt worden seien, aber PKK Mitglieder den Krankenwagen nicht erlauben würden, dorthin zu fahren, teilte Faysal Sariyildiz dies den Personen im Keller mit und sagte, dass die Krankenwagen vielleicht gezwungen waren, am Beginn der Straße zu warten .
Nach einer Weile wurde ihm aus dem Keller jedoch Folgendes mitgeteilt :

„Herr Abgeordneter, Sie sagten uns, wir sollten hier herausgehen. Ein 16-jähriger Junge namens Ibrahim (Anmerkung der Unterzeichnerin: vermutlich soll es Abdullah heißen) Gün ging aus dem Keller raus, aber er wurde erschossen. Ich sah ihn vom Fenster des Kellers aus und Waffen feuerten weiterhin auf ihn“.
Dies ereignete sich am 05. Februar 2016. Der Vater von Abdullah Gün, Ibrahim Gün, gibt dazu Folgendes an :

„Abdullah verließ das Haus am 29. Tag der Ausgangssperre. Er blieb in dem Keller, weil er bei seinen Freunden sein wollte. Am 5. Februar verließ er den Keller, um zu schauen, ob ein Krankenwagen gekommen war, um die Verletzten mitzunehmen. Ein Scharfschütze erschoss ihn in dem Moment, als er raus ging.
Diejenigen im Keller, die wollten, dass er hinaus geht, dachten, dass sie (die Sicherheitskräfte) ihm nichts tun würden, da er ein Minderjähriger war. Wenn ein Krankenwagen angekommen wäre, wären alle von Ihnen herausgekommen. Nachdem er erschossen worden war, blieb seine Leiche auf der Straße liegen, da die, die im Keller waren, seine Leiche nicht herein holen konnten. Wir wissen nicht, was mit seiner Leiche passiert ist.
Wir haben seine Leiche immer noch nicht finden können. Abdullah starb unmittelbar nachdem er erschossen wurde. Wie wir erfuhren, überlebte er keine Stunde. Der Krankenwagen kam nie in dieses Gebiet, aber im Umfeld waren Polizeipanzer. Die Krankenwagen wurde gezwungen zu warten und den Menschen wurde gesagt, sie sollen heraus kommen und zu den Krankenwagen hingehen.“
Danach gab es keine weiteren Lebenszeichen aus diesem Keller.
Was genau danach passiert ist, bleibt unklar. Klar ist nur, dass später zahlreiche Tote auch aus diesem Keller geborgen wurden.
In den Tagen nach dem 05. Februar 2016 tauchten widersprüchliche Angaben zu einem Großeinsatz des türkischen Militärs auf. Die Frankfurter Rundschau (FR) vom 8. Februar 2016 berichtete , dass es in der Nacht zu Montag, also vom 07. Februar auf den 08. Februar, zwischen zehn und 60 Todesopfer gegeben habe. Der staatliche Sender TRT berichtete zunächst, dass 60 Kämpfer der Terrororganisation PKK getötet worden seien, während die Armee mitteilte, sie habe am Vortag zehn Kämpfer „eliminiert“.
Zu beiden Kellern wurden Leichenwagen der Kommune geschickt, um Leichen abzuholen. Die Nachrichtenagentur Dicle gab am 11. Februar 2016 an, dass aus dem Keller in der Narin Straße am 09. Februar 29 Leichen und am 10. Februar zwölf Leichen geholt worden seien. Alle Leichen hätten Verbrennung aufgewiesen .
IV. Dritter Keller
Am 10. Februar 2016 schließlich gelangten Informationen über weitere Menschen an die Öffentlichkeit, die in einem dritten Keller Zuflucht gesucht hatten, Dies wurde bekannt, weil sich die ehemalige HDP-Bezirks-Co-Vorsitzende, Derya Koc; telefonisch meldete. Sie teilte mit, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 20–25 Personen vorsätzlich durch Sicherheitskräfte bei lebendigem Leibe verbrannt und von den noch Lebenden viele verletzt worden waren, als sie versuchten, den Keller zu verlassen . Die Scharfschützen schossen wohl auf die verzweifelten Menschen. (Siehe hierzu auch die Aussage von Taybet.Teil B, 4. Teil B IV 3)
Am 10. Februar wurden folgende Namen von sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen bekannt :
Derya Koç, Lokman Bilgiç, Murat Kekin, Sinan Kaya, İbrahim İvrendi, Fırat Malgaz, Orhan Tunç, Meryem Akyol, Mürsel Dalmış, Star Öztürk, Murat Tunç, Abdülselam Turgut, Fatma Demir, Emel Ayhan, Mesut Özer, Abdullah Özgür, Agit Aydın, Barış Gasir, Sahip Edip, Ferhat (Nachname wurde noch nicht verifiziert).
Im Weiteren sollen nun hinsichtlich der Ereignisse im sog. 3 Keller zunächst die Meldung in den Kurdistan Nachrichten vom 10.02.2016 wiedergegeben werden und sodann drei Aussagen von Augenzeugen, von denen es sich bei Zweien um Überlebende des 3. Kellers handelt. Gerade die beiden Aussagen der Überlebenden zeigen eindrücklich die Lage in den Kellern, die Verzweiflung der Menschen und widersprechen auch eindeutig den Angaben der Sicherheitskräfte und auch der Beschuldigten, dass die Menschen bei Gefechten ums Leben gekommen sein.
In den Kurdistan Nachrichten vom 10.02.2016 heißt es:

„In den heutigen frühen Stunden wurde noch ein Fall von Verletzten in Cizîr (Cizre) bekannt, die in einem Keller eingesperrt sind. Laut Angaben der im besagten Kellerraum festsitzenden ehemaligen HDP Bezirks-Co-Vorsitzenden, Derya Koç, sind mindestens 20 der 50 Personen getötet worden. Im kurzen Telefonat mit ihrem Vater erklärte Koç, dass sie einem Massaker gegenüber stehen würden. „Sie [die türkischen Sicherheitskräfte] haben 20 bis 25 unserer FreundInnen massakriert, indem sie diese in Brand setzten. Und auch die restlichen von uns versuchen sie zu massakrieren.“ Im ersten Gespräch mit ihrem Vater am Montag erklärte Koç, sie wären, wie die am Sonntag getöteten Personen, die in einem Keller in Cizîr wochenlang umkesselt waren und denen die medizinische Versorgung von Seiten des türkischen Militärs verwehrt wurde, umzingelt und würden in einem Kellerraum festsitzen. Die verzweifelte Frau bat ihren Vater um eine Guthabenüberweisung und meldete sich erst am heutigen Tag wieder. In einem kurzen Gespräch und mit leiser Stimme hätte Koç laut DIHA ihrem Vater erklärt, dass sie in einer sehr kritischen Situation seien. „In dem Kellerraum unter uns haben sie mindestens 20 unserer FreundInnen getötet, indem sie sie in Brand setzten. Wir sind von Panzern umzingelt, auf uns wird geschossen. Auch wir könnten jederzeit in Flammen aufgehen. Das Volk muss sich dringend auf den Weg hierher machen. Ungefähr vor einer Stunde haben sie begonnen, auf uns zu schießen. Die verletzten FreundInnen haben sie massakriert. Wir sind wohl nur noch 20-25 Personen und wir sind alle verletzt. Wir sind im Viertel Sur (Anmerk. Stadtteil von Cizîr), umgeben von Panzern. Die Netzverbindung ist sehr schlecht, die Verbindung kann jederzeit kappen. Ich muss jetzt auflegen, sie sind überall.“ Im Laufe des Tages sprach Derya Koç auch mit dem TV-Sender IMC. In diesem Gespräch bestätigte sie nochmals die Angaben ihres Vaters und erklärte zudem, dass die meisten der Eingesperrten verletzt wurden, weil sie versuchten, den Keller zu verlassen. Die Scharfschützen hätten auf die verzweifelten Menschen geschossen.“
1. Aussage von Serhildan
Zunächst wurde am 09. März 2016 die Aussage eines Überlebenden, der Serhildan genannt wird, veröffentlicht. Die Übersetzung der Veröffentlichung auf der Seite der Informationsstelle Kurdistan lautet :

„BestaNûçe hat den Bericht eines Augenzeugen des Massakers von Cizîr (Cizre) veröffentlicht. BestaNûçe betont, dass aus Sicherheitsgründen der Name des Zeugen verändert wurde. Im Bericht wird er nun Serhildan genannt. Mit der Veröffentlichung des Interviews wird er die Stadt verlassen. Serhildan war vor Verhängung der Ausgangssperre als Besucher nach Cizîr gekommen. Als die bewaffneten Kräfte des Staates in den Stadtteil Cudi eindrangen, haben er und sechs weitere Freunde sich in den Stadtteil Sur von Cizîr zurückgezogen. Sie waren zum weiter obenliegendem Cafer Sadık Hügel gegangen. Die Umgebung war in dieser Zeit ununterbrochen aus allen Richtungen unter Beschuss mit Granaten gewesen. Er erklärte: „Wir wurden pausenlos aus der Luft von einer Heron-Drohne beobachtet. Sie wussten, dass wir Zivilisten waren. Trotzdem wurden wir bei jeder Straße die wir passierten und jedem Haus in das wir gingen mit Granaten beschossen. Zwischen Granatsplittern, Staub und Rauch suchten wir uns unseren Weg.“
Da die bewaffneten Kräfte des Staates die Straße Kobanê blockierten, konnten sie nicht ins Stadtzentrum, sondern blieben tagelang in einem Haus unterhalb des Cafer Sadık genannten Hügel. Dort warteten sie bis sich die Kräfte des Staates näherten. Serhildan erzählte: „Eines Morgens erwachten wir vom Lärm des Militärs. Sie versuchten in das Haus einzudringen indem sie mit Äxten die Wände des Hauses durchschlugen. Wir haben sofort alles zusammen gerafft und versuchten das Haus zu verlassen. Bis wir alles draußen kontrollieren konnten hatten die Soldaten es geschafft ein Loch in eine Wand zu schlagen. Als wir daraufhin durch die Hintertür das Haus verlassen wollten, warfen die Soldaten Handgranaten durch das Loch.“ Daraufhin habe es eine starke Explosion gegeben. Durch den aufgewirbelten Staub der Explosion haben sie das Haus verlassen können. Als sie von dort wegrannten, seien sie von einem Militärhubschrauber des Typs Kobra, der den Eingang der Straße kontrollierte, beschossen worden. „Der Kobra bemerkte uns nicht sofort. Als er dann das Feuer eröffnete, stürzte einer unserer Freunde zu Boden, ein anderer wurde verletzt. Gemeinsam mit dem verletzten Freund flüchteten wir in ein Haus. Kaum waren wir in dem Haus, da näherte sich der Kobra. Wir verschlossen die Tür und gerieten in Panik. Genau in dem Moment hörten wir den Schrei unseres Freundes der auf der Straße gestürzt war und eine Salve aus dem Hubschrauber. Da wussten wir, sie hatten ihn ermordet.“
Erst hätten sie angenommen, dass sie jetzt in dem Haus festsäßen und nicht mehr heraus könnten. Einer habe dann eine Leiter in dem Haus gefunden. „Mit unserem am Arm verletzten Freund sind wir dann über die Leiter in ein anderes Haus gestiegen. Die Tür des Hauses ging auf eine andere Straße. Ohne auch nur einmal zu pausieren rannten wir raus – und dann immer weiter. Als wir so liefen hörten wir eine starke Explosion. Sie kam von dem Haus, dass wir gerade verlassen hatten. Wir liefen 3 bis 5 Straßen weiter, dort stießen wir auf Angehörige der zivilen Selbstverteidigungseinheiten YPS (Yekîneyên Parastina Sivîl). Sie haben uns sofort in den Keller eines Hauses gebracht.“
Eine Woche blieben er und seine Freunde in diesem Keller. Sie versuchten mit dem wenigen was da war die Verletzten zu versorgen. „Unser Freund hat einen Durchschuss am Arm erlitten. Wir haben die Watte aus Kopfkissen, die es im Keller gab, gezogen und mit Hilfe eines Pullovers den Arm unseres Freundes versorgt“, so Serhildan. Er erzählte, dass sie im Keller auch Brot gebacken haben. „Obwohl ich nicht wusste wie man das macht, habe ich dort Brot gebacken. Im Haus selber haben wir Käse, Tahin (Sesammus), Oliven und ähnliches gefunden. Tagelang haben wir so zu überstehen versucht. Im Garten des Hauses gab es einen Brunnen. Von dort holten wir das Wasser das wir benötigten.“
Als das Brot zu Ende ging, bat ich die YPS um Erlaubnis Brot holen zu dürfen. „Alle waren sehr hungrig. Um Brot zu finden verließ ich den Keller. Genau in dem Moment als ich mit dem Brot, dass ich gefunden hatte, wieder zurück in den Keller wollte, wurde ich beschossen und am Bein verletzt. Zuerst bemerkte ich gar nicht das ich getroffen worden bin, erst als ich ins Straucheln geriet erfasste ich was passiert war.“
Damit war Serhildan nun einer der Verletzten. Er berichtet, das 1 -2 Tage später einige Mitglieder der YPS zu ihnen stießen. „Die Mitglieder der YPS berichteten uns, dass die Angriffe des Staates sehr stark seien und sie nur noch über sehr wenig Munition verfügen würden. Sie warnten uns, sagten sie würden Aktionen durchführen bei denen sie sich selbst Opfern würden, deshalb wäre die Straße hier jetzt nicht mehr sicher. Wir sollten vorsichtshalber ein paar Straßen tiefer gehen.“
Eine Nacht lang blieb Serhildan dann in einem weiteren Haus in einer anderen Straße. Danach versuchten sie erneut vom Inneren von Sur 2-3 Straßen tiefer Richtung Kobanê Straße zu gelangen. Nachdem sie schon ein Stück des Weges zurückgelegt hatten, stießen sie auf eine Gruppe der YPS. „Sie fragten uns nach ihren Freunden dort und wir erzählten es ihnen. Sie brachten uns zu einem Keller. Der Keller, zu dem sie uns brachten, wird nun in der Öffentlichkeit als der dritte Keller bekannt. Es gab dort mehr als 10 Verletzte und mit der Zeit wurden weitere gebracht. Die Freunde, denen es gut ging, kümmerten sich um uns – die Verletzten.“
Nachdem sie eine Woche in dem Keller zugebracht hatten kamen die bewaffneten Kräfte des Staates bis an die Straße, wo sich der Keller befand. Serhildan berichtete: „Der Staat nahm das Gebäude, in dem sich der Keller in dem wir waren, und die Gebäude drum herum unter starken Granatbeschuss. Vor allem in den Morgenstunden war der Beschuss immer sehr heftig. Alle Gebäude um den Keller herum sind zerstört worden.“
Serhildan erzählte über das Leben im Keller: „Einige Verletzte verloren wegen der fehlenden Versorgung ihr Leben. Wir waren dort mit denen, die ihr Leben verloren hatten, zusammen. Der Keller, in dem wir uns befanden, war sehr groß. Diejenigen, die noch Unverletzt waren, fanden über den Tag etwas zu essen für uns. Es gab Tage, an denen wir uns mit einem einzelnen Keks aushelfen mussten. Wasser war sehr knapp. In dem Keller gab es nur unsere Betten. Weil das Gebäude noch in Bau war gab es noch einige Bretter und ähnliches.“
Serhildan berichtete, dass durch den Granatenbeschuss Löcher in die Decke des Kellers gerissen worden sind: „Sehr viel später hat der Staat mit schweren Maschinengewehren, die auf Panzern montiert waren, durch diese Löcher geschossen. Es war sehr starker Beschuss. Durch diesen schweren Beschuss sind die meisten der Verletzten ermordet worden. Fortwährend hörte man die Schreie und das Stöhnen der Verletzten.“
Als keine Salven mehr aus den Maschinengewehren kamen und die Schreie der Verletzten verstummten, habe Serhildan zu den Verletzten hinübergesehen: „In der Hand zweier Mitglieder der YPS waren Revolver, sie lagen im Sterben. In dem Moment erfasste ich, dass die beiden von der YPS nicht darauf gewartet haben bis der Staat sie ermordet, sondern die letzte Kugel auf sich selbst abgefeuert hatten.“
Eine längere Zeit verging bis der Lärm von gepanzerten Wagen zu vernehmen war. „Ich hörte das Geräusch von Schritten die sich näherten. Dann habe ich bemerkt, dass sie durch die Löcher in der Decke der Keller etwas hineingeworfen haben. Eines dieser Dinger, die sie hineingeworfen hatten, fiel ganz in meine Nähe. Es waren mit Benzin gefüllte Flaschen. Nachdem sie viele mit Benzin gefüllte Plastikflaschen hereingeworfen hatten, warfen sie etwas Entzündliches hinterher, so dass der Keller in Brand geriet“, so Serhildan.
Wie Serhildan berichtete, seien die Keller sehr groß gewesen. „Damit man uns aus den gepanzerten Fahrzeugen nicht sehen konnte, hatten wir einige der Bauhölzer übereinander gestapelt. Durch das Feuer sind einige Bauhölzer in Brand geraten. In dem Moment sind zwei, die uns zur Seite standen und die noch unverletzt waren, nach oben gegangen. Als Rauch entstand, begannen die Soldaten aus den gepanzerten Fahrzeugen heraus den Mehter-Marsch zu spielen.“
Serhildan berichtete, dass er, verletzt wie er war, versuchte den Brand zu löschen. „Ich entfernte die Bauhölzer aus der Nähe der Stelle wo es brannte. Ich entfernte auch die Leichname der vom Brand Ermordeten. Ich bekam den Brand unter Kontrolle, aber es gelang mir nicht, ihn ganz zu löschen. Ich schaffte, dass der Rauch aus dem Raum abzog. Wenn der Brand ganz verlöscht worden wäre, wären die Soldaten vielleicht darauf gekommen, dass hier drinnen noch welche am Leben sein könnten.“
Nach dem Brand haben die Soldaten viele Gasgranaten in den Keller geworfen. „Wir mussten viele Stunden im Gas ausharren. Einige Verletzte, die den heftigen Beschuss überlebt hatten, verloren jetzt durch das Gas ihr Leben. Die Soldaten erschossen einen der beiden Freunde, die nach oben gegangen waren, um den anderen Bescheid zu sagen.“
Serhildan erzählt, dass er zu nächtlicher Stunde den Keller verlassen habe und zusammen mit einem Unverletzten durch einen zuvor geöffneten Durchgang in ein anderes Haus, das sich direkt am Gebäude befand, gewechselt sei. „Als ich das Haus betrat, waren da so um die 25 Menschen. Sie gingen hinunter und holten einige Verletzte. Später erzählten mir die Freunde dort, dass sie an einem TV-(Programm) teilgenommen und die Situation geschildert hätten. Sie sagten, dass die Abgeordneten der HDP sich eingeschaltet hätten, es kämen Rettungswagen, die uns abholen würden. Ja, einige der Freunde dort haben zu der Stunde sogar ihre Familien angerufen. Es gab auch einige, die so von ihrer Familie Abschied genommen haben.“
Serhildan berichtete, dass sie bis in die Nacht hinein miteinander diskutiert hätten, wie die weiteren Entwicklungen sein würden: „Eine Freundin, später habe ich erfahren das ihr Name Derya war, hat erzählt, dass sie am Morgen ihre Familie, die Presse und Verantwortliche der HDP angerufen habe. Ja, dass sogar das Geschehene live in verschiedenen Kanälen von Fernsehsendern und auch in der Presse berichtet wurde. Sie und ein weiterer Freund haben noch einmal eine Verbindung zum TV gehabt. Danach hat dann jeder gewusst, zu was der Staat, der ein Massaker verübt, in der Lage ist. Die meisten da drinnen waren Studenten und Zivilisten. Deshalb haben wir gemeinsam den Beschluss gefasst, dass wenn am Morgen der Rettungswagen kommt, wir zu ihm gehen werden.“
Sie sagten sogar, dass der Rettungswagen noch am Abend käme, erinnert sich Serhildan. „Sie sagten, am Abend um 19.00 Uhr kommt der Rettungswagen, aber sie haben keinen gesandt. Als er am Abend nicht kam, sagten sie, dass er am nächsten Morgen um 9.00 Uhr kommt.“
„Sie sagten uns, dass Freiwillige aus dem Gesundheitsbereich sich eingeschaltet hätten,“ erinnert sich Serhildan „Sie erklärten uns, am Morgen kommt der Rettungswagen und ihr geht ihm entgegen. Ohnehin war das ganze Haus von Soldaten umstellt worden. Als der Morgen begann, sammelten wir uns und begannen damit herauszugehen. Wir stiegen vom zweiten Stock in den ersten, durch die Eingangstür dort wendeten wir uns Richtung Straße. Um den ersten Stock herum waren Löcher geöffnet worden. Durch diese Löcher sah man uns von den gepanzerten Fahrzeugen aus. Wir ließen jeweils einen kleinen Abstand zueinander und verließen das Haus. Ich und einige andere Verletzte warteten im ersten Stock. Nachdem die Freunde zum Rettungswagen gegangen waren sollten ich und die anderen Verletzten geholt werden. Die Freunde gingen laut rufend voran. Alle riefen den Soldaten nacheinander zu: „Nicht schießen“, „Wir sind Zivilisten“, „Hier sind Verletzte“, „Keiner hat eine Waffe“. Ohnehin waren die gepanzerten Fahrzeuge der Soldaten sehr nah. Dann wurde die Stille des Tages von einer sehr langen Salve zerrissen. Sie hatten das Feuer auf die, die auf die Straße wollten und an der Tür waren, eröffnet. Wir bemerkten, dass Bewegung unter die Soldaten gekommen war. Wir erkannten, dass sie ins Haus kommen werden. Zu der Zeit befand ich mich im ersten Stock.
Um in den zweiten Stock zu gelangen, benutzte ich den Lüftungsschacht des Bades. Zwei weitere Freunde folgten mir. Wir versteckten uns unter Steppdecken. Der Raum war sehr unordentlich. Ein Freund versteckte sich in einer Truhe. Kaum dass wir uns versteckt konnten, hörten wir die Schritte der Soldaten.“
Sie konnten die Meldungen aus den Funkgeräten der Soldaten hören. „Sie haben alle Verletzten ermordet. Danach haben sie in die Räume geschaut. In jeden Raum, den sie betreten wollen, warfen sie eine Handgranate, anschließend feuerten sie noch eine Salve hinterher. Wir hatten uns in einem Raum im zweiten Stock versteckt. Die Soldaten betraten den Raum, schossen um sich. Wir hatten Glück, sie bemerkten uns nicht, uns traf auch keine Kugel. Sie blieben nur ganz kurz und gingen dann.“ Als der unverletzte Freund an seiner Seite – nachdem kein Laut mehr aus der Truhe gekommen war – nachsehen wollte und die Truhe öffnete, sahen sie, dass ihr Freund ermordet worden war.
Drei Tage nachdem die Soldaten das Haus verlassen hätten, kam ein Bagger zu dem Gebäude. Der Bagger kam in Begleitung der Polizei und hat die Häuser um das Gebäude herum abgerissen. Der Bagger hat dort 1 ein oder 2 Tage lang gearbeitet. Als Serhildan irgendwann aufwachte, kam der Bagger mit der Schaufel voran auf das Haus zu.
Aber der Bagger riss das Haus in dem sie waren nicht ab. „In dem Haus herrschte ein heilloses Durcheinander. In einem Eisschrank fanden wir gefrorenes Brot. Zwischen den verstreuten Sachen fanden wir etwas Tahin. Wegen des Tahin, das wir aßen, wurden wir dauernd durstig. Also aßen wir nichts mehr davon. Aus den Leitungen kam kein Wasser. Wir öffneten ganz vorsichtig zwei Wasserboiler im Bad und holten fast zwei Liter Wasser aus ihnen. Tage lang ernährten wir uns von diesem Wasser und diesem Brot. Der Reihe nach schoben wir Wache. 2-3 Stunden konnten wir am Tag schlafen. Denn wir mussten ja ständig damit rechnen, dass jemand kommt.“
„An einem Morgen hörten wir dann jemanden Kurdisch sprechen. Aber wir wussten natürlich nicht, ob da jemand von uns spricht oder nicht. Wir überlegten, ob das Ausgangssperre wohl aufgehoben worden sei. Der Freund meinte, dass dann das Volk in Massen hierher strömen würde. Als wir am Tag darauf erneut kurdisch Sprechende hörten, gingen wir davon aus, dass sich die Menschen wieder bewegen konnten, oder dass das Verbot aufgehoben worden sei. Wir haben mit einer Frau, die auf der Straße war, Kontakt aufgenommen, die hat uns dann über die Situation aufgeklärt. Daraufhin haben wir das Haus verlassen.“
Als Serhildan und sein Freund durch die Tür des Hauses nach draußen kamen, sahen sie die Spuren der Barbarei. Er erklärt: „An der Tür lag die Kleidung der Freunde, die Ermordet worden waren. Allen war die Kleidung ausgezogen worden. Überall war Blut.“ Als sie auf der Straße waren, fuhren gepanzerte Fahrzeuge Patrouille, warfen auch Gasgranaten. Wir sahen sie, aber sie sahen uns nicht.“
BestaNûçe, 09.03.2016, ISKU
2. Aussage von Taybet
Am 12. März wurde schließlich die Aussage einer weiteren Augenzeugin, die Taybet genannt wird, veröffentlicht. Es heißt insoweit :

„Eine weitere Augenzeugin des Massakers von Cizîr (Cizre) meldete sich zu Wort. Während vor dem Menschenrechtsgerichtshof ein Antrag auf einstweilige Verfügung gestellt wurde, hat die Türkei zu ihrer Verteidigung angegeben, die betreffenden Personen hätten „bei einem Gefecht ihr Leben verloren“, eine Augenzeugin des Massakers bestätigt jetzt, was zuvor schon ein anderer Zeuge (siehe entsprechenden Bericht von Serhildan) berichtet hat. Die Ermordeten sind nicht bewaffnet gewesen und bei einem Gefecht zu Tode gekommen. Nein, es waren Zivilisten, es waren Wehrlose, die einer Übermacht von Soldaten gegenüber standen und von diesen abgeschlachtet wurden.
Auch bei dieser Zeugin wird aus Sicherheitsgründen ihr wahrer Name nicht genannt. Sie wird hier Taybet genannt. Taybet ist eine ältere Frau. Sie lebt im Viertel Sur von Cizîr (Cizre). Sie sagt, sie habe am 37. Tag der Angriffe des türkischen Staates auf Cizîr ihre Wohnung verlassen müssen. Ab und an wäre sie aber heimlich zu ihrer Wohnung zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. „Als ich in die Wohnung kam, hörte ich von draußen Stimmen. Hörte wie Personen sagten: ‚Wir kommen raus. Wir sind unbewaffnet.‘ Ich sah heimlich aus dem Fenster.“ Sie sieht von dort aus in den Garten des zweistöckigen Hauses, das neben dem ihren liegt und das im Volksmund als der Dritte Keller des Grauens von Cizîr bezeichnet wird. „Aus dem Innern des Hauses kamen Menschen in den Garten, alles junge Leute. Kann sein, dass auch Verletzte darunter waren, einige hinkten. Ich zählte sie, genau 9 Personen, sie hatten keine Waffen. Ihnen gegenüber Soldaten, die Waffe auf sie gerichtet, wartend bis alle draußen waren. Plötzlich begannen die Soldaten zu schießen. Dort haben sie die jungen Leute hingerichtet. Das habe ich mit meinen eigenen Augen mit ansehen müssen. Der Garten wurde zu einer Blutlache. Als das Ausgangsverbot aufgehoben wurde bin ich noch mal hin und habe nachgesehen, die Spuren des Blutes sind noch dort.“
Taybet erklärt, dass sie nach den Ermordungen, dessen Zeugin sie wurde, zwei Tage lang nicht die Wohnung verlassen habe. „Die Leichname der jungen Leute blieben den Tag über dort liegen. Am nächsten Tag habe ich gesehen wie sie sie hinters Haus geschleift haben. Später stieg Rauch auf, der Geruch von Verbranntem war zu riechen. Da begriff ich, dass sie die Leichname verbrannten“, so Taybet, „Ich bin eine alte Frau. Was ich in meinem Leben erleben musste, ist geschehen und nicht zu ändern. In dem bisschen was mir noch bleibt wurde ich nun Zeugin des Todes so junger Menschen.“
BestaNûçe, 12.03.2016, ISKU
3. Aussage einer weiteren Überlebenden
Am 23. April wurde die Aussage einer weiteren Zeugin veröffentlicht. Es heißt in der Veröffentlichung :

„Es gibt eine weitere Zeugin des Massakers von Cizîr (Cizre). Nachdem im Dezember 2015 die Ausgangssperre über Cizîr, einem Landkreis von Şirnex (Şırnak), verhängt worden war, begann auch die Blockade durch türkisches Militär und Spezialeinheiten. Hunderte Einwohner von Cizîr wurden während der Monate langanhaltenden Ausgangssperre getötet und verletzt. Die Militäroperation gipfelte in Massakern in drei Gebäuden, in dessen Kellerräume dutzende z.T. auch verletzte Zivilist*innen sich vor der Bombardierung ihrer Stadtviertel durch türkisches Militär geflüchtet hatten.
Es handelt sich bei der Zeugin um eine 22-jährige Frau. Sie ist Augenzeugin des Massakers des dritten Kellers. Dieser lag im Stadtteil Sûr von Cizîr. In dem betreffenden Gebäude hatten 45 Menschen Schutz gesucht. Die meisten von ihnen waren verletzt. Das Gebäude wurde von der türkischen Armee mit Panzern beschossen, wodurch das obere Stockwerk des Gebäudes zerstört wurde. Am ersten Tag des Angriffs leiteten staatliche Kräfte Benzin in einen Teil des Kellers und entzündeten es. 20 Verletzte konnten sich nicht in Sicherheit bringen und verbrannten dort. Die verbliebenen 25 Menschen warteten, bedroht davon, jede Minute ermordet zu werden, tagelang auf ihr Rettung. Trotz großen Bemühens einiger Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker HDP, alles für ihre Rettung nur Mögliche zu tun, setzte der türkische Staat sein Vorhaben um und richtete ein weiteres Massaker an den in dem Gebäude verbliebenen Menschen an.
Die Zeugin erklärte, dass auch Orhan Tunç sich bei ihnen befand. Das wenige Essen war schnell aufgebraucht. Alle seien Zivilist*innen gewesen, Studierende von der Uni und auch Aktivist*innen. „Wir waren seit einer Woche hungrig und durstig. Es gab Wasser in der Nähe. Sie hatten es zerstört, aber die Quelle lag zwei Häuser weiter. Wenn die Wärmebildkamera nicht an war, konnten wir hingehen und Wasser holen. Wir trugen das Wasser in kleinen Plastikkanistern. Es gab keinen Proviant. Wir versuchten, woanders etwas zu finden. Als letztes verblieb nur noch das Gebäude, in dem wir Zuflucht gesucht hatten. Die Lage der Verletzten war sehr schlecht. Wir hatten ein wenig Mullbinden und Jod-Tinktur. Unsere Kopftücher, alles was wir nur finden konnten, benutzten wir zur Versorgung der Verletzten. Es war kalt. Auf der Straße Verletzte konnten wegen der Blockade durch den Staat nicht abgeholt werden, andere kamen noch dazu“, so die Zeugin.
Zu den Ereignissen am Tage des Massakers sagte sie: „Am Mittwoch sind im dritten Keller die Freund*innen verbrannt worden. Wir konnten nicht in den Keller runter. Wir hatten schon alle Hoffnung verloren, sie konnten nicht aus dem Keller hochkommen. Die Kräfte des türkischen Staates schütten Benzin in den Keller und entzündeten es. Mittwoch gegen 7–8 Uhr waren die Schutzgräben beseitigt worden. Die Soldaten standen genau vor dem Keller, sie warfen Feuergeschosse in den Keller, schossen mit schweren Maschinengewehren. Wir wünschten uns, dass Orhan Tunç gerettet würde, weil er ein 15 Tage altes Baby hatte. Wir wünschten, dass er gerettet würde, auch wenn wir sterben sollten. Weil die Freund*innen verletzt waren, konnten sie nicht intervenieren.
Nach dem Brand warfen sie etwa 10 Gasgranaten hinein. Wir hörten nur die Geräusche, sobald wir den Kopf hoben, schossen sie.“
Die Zeugin erklärte, dass die Soldaten während des Angriffs ihre Fahrzeuge nicht verlassen hätten: „Am Abend so gegen 20/21 Uhr kamen 6 Personen in das Stockwerk hoch, in dem wir waren. Jetzt waren wir insgesamt 25 Personen. Wir waren alles Zivilist*innen. Einer war Adil Kücük, er hat ein Kind und auch der 14-jährige Mesut war hier. Von 25 Personen waren 20 verletzt. Die Verletzung von Derya Koç war nicht schwer. Der Jüngste unter uns war 14 Jahre alt. Er hatte Angst, es gab keinen Dialog, wir konnten nicht sprechen. Wir waren Tag und Nacht sehr still, da die Soldaten sehr nah waren. Wir sagten uns, dass die verbliebenen 25 Menschen zumindest gerettet werden sollten. Gegen Abend sollte ein Rettungswagen kommen. Wir erklärten den Sanitätern des Rettungswagens unsere Situation. Trotz der Angst vor Folter, Gefängnis, Liquidierung riefen wir an, um am Leben zu bleiben. Ungefähr zehnmal haben wir den Rettungswagen angerufen. ‚Nennt die Adresse, wir kommen‘, sagten sie. 10–11 Mal riefen wir an, erneut sagten sie, dass sie kämen. Dann sahen wir, dass wir von Spezialeinsatzkräften umzingelt worden waren. Am Abend kam dann der Rettungswagen. Aus dem Wagen erfolgte der Aufruf, dass wir uns ergeben sollen. Wir erklärten, dass wir kommen werden, wir aber, wenn das Feuer auf uns eröffnet würde, sofort umkehren werden. Die staatlichen Kräfte eröffneten dann das Feuer auf uns. Einer von uns verlor sein Leben.
Morgens um 6 Uhr riefen wir wieder den Rettungswagen an. Um 7 Uhr kamen die Soldaten und umzingelten uns komplett. Sie führten zwei gepanzerte Fahrzeuge mit sich. Eins stellten sie vor dem Bauplatz ab, möglicherweise stand eins auch auf der Rückseite des Gebäudes. Im Gebäude neben uns nahmen sie Stellung. Sie riefen zu uns rüber, dass wir uns ergeben sollen. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Wir riefen den Soldaten zu: „Orhan Tunç ist bei uns, er hat ein kleines Kind. Emel Ayhan war an unserer Seite. Er war 20 Jahre alt. Seine Haare waren komplett versengt, aber sein Körper war unverletzt. Da erfolgte ein erneuter Angriff auf uns. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich während des Angriffs den Ort, zu dem ich flüchtete, erreicht habe.“
Die Zeugin berichtet, dass sie sich in dem Moment in den Keller einer Moschee geflüchtet hatte: „Es gab einen kleinen Garten, dort habe ich den Kontakt zu den anderen verloren. Ich ging in den Keller der Moschee. Es gab dort ein Fahrrad, Müll und Pappkartons. Ich zog mir einen Sack über, um mich zu verstecken. Es war ein großer Sack, gewebtes Plastik. Es war viel Müll dort. Es drang das Geräusch automatischer Waffen zu mir. Ich hörte wie die Soldaten sagten ‚Bringt die Kleidung‘. Im Nachhinein denke ich, dass sie damit die Bekleidung der nackt ausgezogen Freund*innen meinten. Ich hörte, wie sie sagten: ‚Binde die Bombe an seine Füße‘. Anschließend hörte ich das Geräusch einer explodierenden Bombe. Danach hörte ich Geräusche von denen ich annahm, dass sie vom Leichenwagen stammten. Soldaten und Spezialeinheiten sagten: ‚Lasst uns ein Selfi machen und dann die Leichen auf den Wagen heben.‘ Sie beschimpften einander. Sie schimpften sehr sexistisch. Ekelhaft war das. Sie verhöhnten auch unsere ermordeten Freund*innen. Sie sagten: ‚Cizîr ist jetzt gesäubert worden‘ und ähnliches. Sie sahen auch in den Keller in dem ich war. Ein Lichtstrahl fiel in meine Richtung. Mich sahen sie nicht.“
Die junge Frau erzählt: „Drei Tage lang habe ich den Sack nicht verlassen. Dann verließen die Soldaten den Ort. Das Geräusch der Fahrzeuge war zu hören. Ein Tag später drang der Lärm von Personenwagen zu mir. Ich setzte mich auf, öffnete meine Augen. Seit einer Woche war ich hungrig und durstig. Zu mir drangen die kurdischsprachigen Worte der Bevölkerung, die in das Viertel zurückkehrte. Nach dem Angriff auf den Keller gab es keine Schüsse mehr. Stimmen drangen aus der Ferne zu mir. Ich hörte die Lautsprecherdurchsagen des Militärs: ‚Die Ausgangssperre dauert an. Wer auf die Straße geht, muss mit unserer Intervention rechnen.‘ Es wurde Nacht, gegen 3 Uhr ging ich an den Ort, an dem das Massaker verübt worden war. Ich sagte mir, morgen werde ich jemanden erreichen und hier rauskommen. Ich hörte nur das Geräusch von Autos, tags zuvor hatte mich das Geräusch der Bevölkerung erreicht. Da begriff ich, dass alles in Ordnung war. In dem Keller war etwas Wasser, das sich gesammelt hatte, es war stark verschmutzt. Ich trank es. Ich ging wieder hinauf. Ging zu dem Ort, wo das Massaker geschah. Ich tat nichts dort. Ging auf die andere Seite der Tür. Wenn jemand kommen sollte, konnte ich ihn erreichen und auf die andere Seite kommen. Ich ging von oben wieder herunter. Dort sah ich eine Frau. Es war 7 Uhr. Ich erklärte ihr meine Lage, danach ging ich zu ihr nach Hause.“
BestaNûçe, 23.04.2016, ISKU
V. Ermittlungen und Erkenntnisse der Zeit nach den Angriffen
Am 11. Februar 2016 erklärt schließlich der Beschuldigte, Innenminister Efkan Ala, den Militäreinsatz in Cizre für beendet mit den Worten: “Die Operationen gegen die Terrororganisation sind heute mit großem Erfolg beendet worden“ . Die Ausgangssperre bleibe aber weiter in Kraft .
Gleichzeitig tauchten unmittelbar danach unterschiedliche Meldungen zu den Todesopfern auf.
Nach einer Nachricht bei T24 vom 11. Februar 2016 unter DİHA wurden bis zum diesem Tag 82 Todesopfer aus drei Häusern in Cizre geborgen. Die Nachrichtenagentur Dicle sprach von 31 Toten, die in das Staatskrankenhaus in Cizre gebracht wurden. Aus einem Haus in der Narin Straße im Stadtteil Cudi, in dem sich zuvor zehn Leichname und 52 Verletzte befanden, seien vor zwei Tagen 29 Leichname und am Vortage weitere zwölf Leichname geholt worden. Alle Leichname sollen Verbrennungen aufgewiesen haben. In einer Nachricht bei Bianet vom 11. Februar 2016 wird berichtet, dass ein „Krisenstab“ vom Abtransport von 39 Leichnamen gesprochen habe, die nach Mardin, Şırnak und Urfa für einen DNA-Test geschickt wurden und dann wieder nach Cizre kommen sollen. Der Krisenstab sprach von weiteren Leichnamen in Häusern in Cizre.
Bei T24 war am 12. Februar 2016 zu lesen, dass der Menschenrechtsverein İnsan Hakları Derneği (İHD) in Şırnak mittlerweile von mehr als 100 Todesopfern in Cizre ausgehe. Der Vorsitzende des İHD Şırnak, Emirhan Uysal, sagte, dass acht Leichen nach Mardin, zwölf nach Şırnak, 36 nach Silopi und 38 nach Şanlıurfa geschickt wurden, um sie zu identifizieren. Eine nicht bekannte Zahl von Leichen sei nach Malatya geschickt worden. Die Nachrichtenagentur Dicle ließ verlauten, dass von insgesamt 149 Leichen 110 geborgen wurden.
Insgesamt drängt sich nach allen – unten weiter aufgeführten – Erkenntnissen der Eindruck auf, dass die Zeit zwischen der Beendigung des Militäreinsatzes am 11. Februar 2016 und der Aufhebung der Ausgangssperre am 02. März 2016 wohl von staatlicher Seite u.a. dafür verwendet wurden, Leichen oder Teile der Leichen ohne Anwesenheit der Familienangehörigen oder Anwält_innen oder Beobachter_innen von bspw. Menschenrechtsorganisationen oder auch der UNO zu bergen. Ebenso ergibt sich der Eindruck, dass keine ordnungsgemäße Spurensicherung erfolgt ist, sondern vielmehr Beweise sogar vernichtet wurde, bis hin dazu, dass Leichenteile gemeinsam mit Schutt aus den Häusern auf einer Müllkippe am Fluss Dicle landeten. Aus der Aussage der Zeugin Taybet ergibt sich zudem der Verdacht, dass Leichen sogar nach ihrem Tod absichtlich verbrannt wurden.
Unmittelbar nach den Ereignissen bildete sich ein sog. Krisenstab, gegründet von DBP, MEYA-DER und dem Mesopotamischen Anwaltsverein (MHD) zum Zwecke der Identifizierung der Opfer der Massaker von Cizre.
Auf einer Pressekonferenz vom 26. Februar wurde von ihnen folgender Sachstand mitgeteilt : Das DBP-Parteiversammlungsmitglied Aysegül Colan erklärte, dass bisher 178 Menschen aus den Kellern in Cizre geborgen worden sind und von diesen bisher nur 41 anhand von DNA-Abgleich identifiziert werden konnten. Wörtlich gab er an:

„Nach den in Cizre verübten grausamen Massakern, ist nun beabsichtigt, den Familien eine weitere Grausamkeit durch die Leichen zuzufügen. Familien sind während des Prozederes, bei dem es darum geht, die Leichen zu erhalten und das Tage dauert, ständigen Schikanen und Drohungen ausgesetzt“
Im Weiteren bat Coban die Familien, es zu vermeiden, sich auf jemand anderen zu verlassen als den Krisenstab, und durch diesen den DNA-Test und die Identifizierung zu beantragen. Coban betonte, dass 13 unidentifizierte Opfer, die nach Şirnak gebracht wurden, durch staatliche Kräfte quasi gekidnappt und später auf dem Friedhof der Unbekannten begraben worden seien.
Nach Angaben von Herrn Sariyildiz gegenüber der Unterzeichnerin am 21. Juni 2016 hat sich die Zahl der auf dem Friedhof der Unbekannten begrabenen Leichen noch erheblich erhöht.
Was diese Vorgehensweise für die Familien bedeutet ergibt sich auch aus den Angaben der Mutter von Abdullah Gün. Sie sagt:

„Wir gingen nach Mardin und gaben dort Blutproben für einen DNA-Test ab, aber seine Leiche wurde bis jetzt nicht gefunden. Wir gingen nach Şırnak, da waren zwölf Leichen und drei waren identifiziert. Der Rest von Ihnen wurde in Tüten gelagert, die aussahen wie Mülltüten. Da waren nur 4-5 Kilo Knochen in den Tüten, nichts weiter.
Von wem auch immer die Behörden sagen, dass die Knochen stammen, die wie Kohle geworden sind, wir müssen es ihnen glauben. Wie können wir wissen, ob diese Knochen zu dieser oder zu jener Person gehören? Vielleicht ist die Leiche meines Sohnes verbrannt oder am Ufer des Flusses als Müll abgeladen. Wir wissen nicht, wo sie ist.“
Beispielhaft dafür ist ebenso, was das Schwäbische Tageblatt über die Suche der Familie Demirkaya nach den Überresten von Berjin Demirkaya berichtet. Es heißt dort:

„Am 24. Februar erhielt die Familie die Nachricht, dass Berjin getötet wurde – 16 Tage nachdem der Keller in Cizre verschüttet worden war. Meshut erzählt, wie er und weitere Angehörige nach der Leiche Berjins suchten. Von dem im Nordosten gelegenen Erzurum, wo Berjins Eltern leben, mussten sie nach Süden bis ins 500 Kilometer entfernte Gaziantep fahren. „Dort hat man uns am 25. Februar einige wenige Teile der völlig verkohlten Leiche übergeben – in kleinen Beuteln.“ Die Identität war durch eine DNA-Analyse festgestellt worden. Über die genauen Umstände von Berjins Tod erhielt die Familie keine Informationen.“
Ebenfalls am 26. Februar 2016 veröffentlichte der Krisenstab die damals aktuellen Zahlen. Diese lauteten : Bisher wurden 178 Leichen aus dem Gebiet der Keller geborgen. 78 wurden zum vorübergehend am Khabur Grenzübergang eingerichteten forensisch-medizinischen Institut gebracht, 13 nach Şirnak, 28 nach Urfa, 20 nach Antep, 17 nach Mardin, 16 nach Cizre und 6 nach Malatya.
Von den bisher geborgenen Leichen wurden 65 begraben, zwölf wurden identifiziert, aber noch nicht begraben, während 101 noch identifiziert werden müssen, darin enthalten sind 13, die in Urfa aufbewahrt werden, 53 am Khabur Grenzübergang, neun in Antep, sechs in Mardin, vierzehn in Cizre und sechs in Malatya.
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei gab Anfang März 2016 zu den Identifzierungen der Opfer aus den Kellern folgendes an :

„Von den Menschen, die in den Kellern der drei Häuser gefangen und durch Angriffen von Sicherheitskräften getötet wurden, wurde die Leiche von Mehmet Yavuzer, Mitglied der Partei der demokratischen Regionen, am 24. Februar 2016 identifiziert. Die Leiche von Cihan Karaman, der trotz einstweiliger Anordnung des EGMR starb, weil er nicht in ins Krankenhaus kam, wurde in Mardin am 24. Februar 2016 identifiziert. Zusätzlich wurden die Leichen von Ridvan Ekinci, Kenan Adigüzel und Besenk Kolanc in Mardin identifiziert und ihren Familien am 25. Februar 2016 übergeben.
Am 24. Februar 2016 wurde bekannt, dass 10 Leichen, die zum zeitweisen forensisch-medizinischen Institut an der Harbur Grenzstation des Bezirks Silopi gebracht worden waren, identifziert sind. Die Namen der 10 Menschen sind: Tuğba Eminoğlu, Erdal Şahin, Rohat Aktaş, editor-in-chief of the newspaper Azadiya Welat, Adil Küçük, Selim Turay, Mahmut Duymak, Umut Ürek, Mahsun Erdoğan, Ramazan İşçi and Metin Karane.
Am 25. Februar 2016 wurde bekannt, dass 10 Menschen, die in der Leichenhalle des Yeşilkent Friedhofes aufbewahrt worden waren, idenitifiziert sind: Die Namen der 9 Menschen, die von ihren Familien identifiziert wurden, sind: Dersim Aksoy, İslam Balıkesir, Ömer Baran, Nusreddin Bayar, Mustafa Gasyak, Ali Fırat Kalkan, Kasım Yana, İzzet Gündüz, member of YPS, Berjin Demirkaya and Sakine Siray.
Am 25. Februar 2016 wurde bekannt, dass Güler Eroğlu, bei dem vermutet wurde, dass er von Polizeibeamten in Diyarbakir getötet wurde, aber später als jemand anders identifziert wurde, tatsächlich gefangen war in einem der Keller in Cizre. Schließlich wurde die Leiche des YPS Mitglieds Velat Zal, der in Cizre getötet wurde, begraben, nachdem er in der Nähe der Habur Grenzstation identifiziert wurde.
Von den Leichen, die aus den Kellern in Cizre geborgen wurden und nach Şanlıurfa gebracht wurden, wurden Star Özkül und Hasan Ayaz (15) ihren Familien am 25. Februar 2016 übergeben. Am 25. Februar wurde aufgedeckt, dass drei Leichen, die im staatlichen Krankenhaus von Şırnak zwecks Identifizierung aufbewahrt worden waren, auf Anordnung des Gouverneurs von Şırnak in das Dorf Özveren, in der Nähe der Stadt Balveren gebracht wurden und dort begraben wurden.
Mit diesen Begräbnissen der letzten drei Leichen, die im staatlichen Krankenhaus von Şırnak aufbewahrt wurden, sind dort keine Leichen mehr.
Murat Şimşek (16), der im Keller des dritten Hauses im Viertel Sur getötet wurde, wurde durch seine Familie identifiziert und ihnen zur Beerdigung in Nusaybin am 25. Februar 2016 übergeben. Von den Leichen in Gaziantep ist der DNA-Test für Dersim Aksoy abgeschlossen und die Familie hat die Leiche am 26. Februar erhalten. Am 27. Februar haben die Familien von Murat Tunç, Yılmaz Geçim, Mesut Özer und Cengiz Gerem die Leichen an der Habur Grenzstation identifziert, wo sie festgehalten worden waren.
Am 28. Februar 2016 wurde stand fest, dass DNA-Tests die Identitäten von Mehmet Tunç und seinem Bruder Orhan Tunç erbracht haben.
Teile der Überreste von Veysi Bademkıran, der in Cizre getötet wurde, wurden zu zwei verschiedenen Krankenhäusern geschickt. Am 27. Februar wurden die Teile, die in Mardin waren, in seine Heimatstadt Diyarbakir gebracht. Am 27. Februar 2016 wurden die Leichen von Yasemin Çıkmaz und weiteren zwölf Personen, die in den Kellern verbrannten, in Cizre begraben.
Während des Massakers in Cizre wurde die Leiche von Hülya Aksay versehentlich mit der von Derya Koç vertauscht und im Erzurum-Karayazi Bezirk begraben. Am 27. Februar wurde ihre Leiche von dem Friedhof entfernt und ihrer Famlie übergeben. Die Leiche von Derya Koc wurde an der Harbur Grenzstation identifiziert und ihrer Familie übergeben.“
Der Menschenrechtsverein Mazlum Der gab mit dem Stand vom 06. März 2016 folgende 78 Namen von in den Kellern Getöteten bekannt :

„Mehmet Yavuzel, Feride Yıldız, Ferhat Saltıkat, Ali Fırat Kalkan, Mustafa Vartiyak, Mustafa Aslan, Tahir Çiçek, Rıdvan Ekinci, Dersim Aksay, İslam Balıkesir, Serdar Pişkin, Ferhat Karaduman, Sercan Uğur, Rohat Aktaş, Fehmi Dinç, Hacer Aslan, Gülistan Üstün, Sakine Şiray, Berjin Demirkaya, Ramazan İşçi, Mahmut Duymak, Kasım Yana, Osman Gökhan, İzzet Gündüz, Emek Aydın, Derya Koç, Fatma Demir, Lokman Bilgiç, Murat Keskin, Sinan Kaya, İbrahim İverendi, Fırat Malgaz, Orhan Tunç, Meryem Akyol, Mürsel Dalmış, Star Öztürk, Murat Tunç, Abdülselam Turgut, Mesut Özer, Abdullah Özgür, Agit Aydın, Barış Ağatır, Sahip Edip, Hasan Ayat, Fidan Dadak, Servet Çorak, Ekrem Sevilgen, İsmail Çetin, Yakup Dadak, Yasemin Çıkmaz, Erdal Kar, Cengiz Ceren, Ömer Baran, Mehmet Akın, Mahsum Erdoğan, Hakkı Külten, Abdülkadir Kaya, Mahmut Merse, Mehmet Benzer, Ferhal Balcal, Veysi Bademkıran, Serdar Özbek, Harun Baran, Çimen Pankan, Zeliha Şahin, Mahmut Görer, Fırat Çağlı, Abdullah Erboğan, Sabri Sezgin, Umut Ürek, Azad Yılmaz, Fadıl Küçük, Yakup Yalçın, İbrahim Temel, Doğan Çalış, Halil Çelik, Mehmet Tunç and Müjde Tonga.“
Nach Aufhebung der Ausgangssperre am 02. März 2016 begab sich schließlich eine Delegation aus Vertretern des IHD, der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), der Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitswesen (SES), der Anwaltskammer von Diyarbakir und der Vereinigung für die Rechte der Kinder nach Cizre. Sie waren in der Zeit vom 06. bis zum 08. März dort, unternahmen Ermittlungen und führten Interviews in den Stadtteilen Yafes, Cudi und Nur .
Als Kurzusammenfassung dessen, was die Ereignisse in den Kellern für die Menschen in der Region bedeuten stellt die Delegation folgendes fest :

Anwält_innen, kommunale Angestellte und andere Zivilist_innen sagten, dass die Menschen, die in den Kellern gefangen waren und später getötet wurden, eine klares Signal seien, dass „dies das Ende des Vertrauens in die Justiz“ ist und dass dieser Vorfall als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden sollte.
Im Weiteren suchte die Delegation alle drei Keller auf und unternahmen Ermittlungen. Dabei hielten sie zu dem sog. ersten Keller in der Bostanci Straße hinsichtlich ihrer eigenen Wahrnehmungen Folgendes in ihrem Bericht fest:

„Das Haus Nr. 23 im Stadtviertel Nur, in der Bostanici Straße wurde durchsucht. Die Delegation ging über die Nusaybin Straße zu diesem Haus. Schäden, verursacht durch schwere Waffen, wurden beobachtet und fotografiert.
Es befand sich keine Absperrung vor dem Gebäude. Das Gebäude Nr. 23 hatte 4 Stockwerke. Alle, außer dem 1. Stock, waren eingestürzt.
Der Eingang war Richtung Keller eingebrochen, aber war noch zu erreichen. Der Teil des Gebäudes, das an der Nusaybin Straße liegt, war nur noch ein Haufen Schutt.(….)
Der Eingang des Gebäudes und der Keller waren nicht verschlossen. Maßnahmen zur Beweissicherung waren nicht vorgenommen worden. Es gibt an der Rückseite des Kellers eine Tür.
Die (Anmerkung der Unterzeichnerin: bei den Häusern versammelten) Menschen wurden am 06.03.2016 gebeten, die Gegend rund um den Keller zu verlassen und gegen 13:30 Uhr begannen die Untersuchungen.
Es befinden sich WC, Dusche und Küchenräume im Keller. Der Geruch von Feuer ist immer noch da, die Decke der Dielenwand und Wände sind verbrannt und es gibt einen großen Haufen Schutt.
Wir begannen die Ermittlungen in dem großen Raum, links vom Eingang gelegen und mit Blick in Richtung der Bostanci Straße.
Beweise wie Reste von Armen und Teile von menschlichen Körpern wurden fotografiert und aufgezeichnet, dabei wurden in den Räumen Blitzlichter verwendet.
In dem Raum wurden verbrannte Teile gefunden, von den anzunehmen ist, dass es sich um menschliche Körper handelt. Sie sind total verbrannt und können morphologisch nicht unterschieden werden:
▪ Gebrochenes rechtes Handgelenk und eine verbrannte Hand mit Fingern
▪ Knochenfragment eines gebrochenen Genicks, Schulterkopf, von dem wir denken, dass er Teile eines Knochens ist
▪ 4 Rippen mit Brustbein
▪ Kleine Knochenfragmente
▪ Im zweiten Zimmer wurde ca. 7–8 cm langes braun-gelbes gefärbtes Material, vermutlich Haare gefunden.
Folgende weitere Beweismittel wurden gefunden:
• Viele Kugelhülsen (0,9 cm Durchmesser, MKE beschrieben und ca. 4 cm Länge) und Kugelhülsen (Marke nicht aufgezählt, Durchmesser über 4 cm, Länge 1 cm). Sie wurden fotografiert und haben biologisch nicht abbaubare Außenteile
• In den Räumen unter Haufen von Schutt war verbranntes Material
• In der Ecke des Raumes wurden Aschehaufen festgestellt. Es wurde gesichert und aufgezeichnet. Die Gegend unmittelbar gegenüber vom Eingang, der Teil entsprechend dem Anfang der Treppe und das Badezimmer konnten aufgrund der großen Menge an Geröll nicht untersucht oder analysiert werden.
• In dem Raum, der neben der Küche ist, befinden sich ähnliche Dinge. Waren sind verbrannt und Ziel physikalischer Einwirkung geworden.“
• Der Leichenwagenfahrer der Stadtverwaltung von Cizre sagte, er kann das Datum nicht erinnern, aber vor dem Gebäude seien 26 Säcke mit Leichen gewesen.
• Die Sicherheitskräfte öffneten jeden Sack, um zu kontrollieren, welches Geschlecht die Leichen hatten. Da waren nur zwei Körper die ganz, aber verbrannt waren, der Rest der Leichen war nackt und es waren nur Teile menschlicher Körper.
• Jeder Sack habe ein Gewicht von 5–10 kg gehabt. Sicherheitskräfte hätten die Säcke genommen und zum Krankenhaus oder an andere Orte gebracht. Der Leichenbeamte sagte, dass die Gebäude in einem anderen Zustand waren als er sie am 06. März sah. Er fügte hinzu, dass die Gebäude aufgrund Beschusses und Artillerie eingestürzt waren. Es wurde beobachtet, dass das Gebäude durch schwere Waffen beschädigt worden war (Raketenwerfer, Mörsergranaten und so weiter).
Hinsichtlich dessen, was der Delegation von Verwandten der in den Häusern Getöteten, von Anwält_innen der Anwaltskammer von Şirnak und von um das Gebäude wartenden Personen berichtet wurde, heißt es in dem Bericht, dass folgendes mitgeteilt worden sei:

– mehrere Leichen von Personen, die in dem Gebäude getötet wurden, wurden durch Sicherheitskräfte aus dem Gebäude weggeschafft.
– Betreffend folgender Punkte liegen keine Informationen vor:
Haben Ermittlungen am Tatort stattgefunden? Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen (Fotos, Videos und Textdokumente)? Wie wurden die Leichen weggeschafft? Auf welchem Weg und wann und durch wen wurden sie ins Krankenhaus gebracht? Einige Leichen wurden ohne Kleidung weggebracht, fanden irgendwelche Untersuchungen an deren Kleidung statt?
– Es existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen oder sonstige Dokumentationen der Vorgänge, die gesetzlichen Vertretern in Bezug auf irgendwelche Ermittlungen überlassen wurden; wenn es Ermittlungen gegeben hat, wer hat sie veranlasst und durchgeführt?
– Die Vorgaben des Minnesota Autopsie Protokolls wurden während des Autopsie-Prozesses nicht eingehalten.
– Das Leichenprozedere/Beerdigung wurde gemäß der Bitte des Justizministeriums durchgeführt. Es gibt keine Informationen betreffend die Todesursache oder der Identitäten, die den Familien der Toten mitgeteilt worden wären.
– Nach dem Ende der Ausgangssperre wurde die Sicherheitsabsperrung rund um das Gebäude durch Sicherheitskräfte entfernt, die Sicherung des Gebäudes ist verhindert worden.
– Nach dem Ende der Ausgangssperre reinigten Sicherheitskräfte das Gebäude und warfen verschiedene Teile aus dem Objekt in den Tigris,
– am 02.03.2016 besuchte der Staatsanwalt von Cizre den Tatort, aber er sagte, das Gebäude sei nicht sicher (Einsturzgefahr) und betrat deshalb das Gebäude nicht. Zwei Anwälte aus der Delegation gingen in den Keller und mithilfe von Lichtern der Handys sammelten sie Leichenteile und übergaben sie dem Staatsanwalt
– Am 03.03.2016 ging eine Delegation von Menschenrechtsaktivisten nach Cizre. Am Tatort gab es immer noch keine Sicherungsmaßnahmen betreffend das Gebäude. Die Delegation ging in den Keller und sammelte Teile von menschlichen Leichen.
Die Angaben eines Leichenwagenfahrers der Stadtverwaltung von Cizre wurden wie folgt wiedergegeben:

• Der Leichenwagenfahrer der Stadtverwaltung von Cizre sagte, er kann das Datum nicht erinnern, aber vor dem Gebäude seien 26 Säcke mit Leichen gewesen.
• Die Sicherheitskräfte öffneten jeden Sack, um zu kontrollieren, welches Geschlecht die Leichen hatten. Da waren nur zwei Körper die ganz, aber verbrannt waren, der Rest der Leichen war nackt und es waren nur Teile menschlicher Körper.
• Jeder Sack habe ein Gewicht von 5–10 kg gehabt. Sicherheitskräfte hätten die Säcke genommen und zum Krankenhaus oder an andere Orte gebracht. Der Leichenbeamte sagte, dass die Gebäude in einem anderen Zustand waren als er sie am 06. März sah. Er fügte hinzu, dass die Gebäude aufgrund Beschusses und Artillerie eingestürzt waren. Es wurde beobachtet, dass das Gebäude durch schwere Waffen beschädigt worden war (Raketenwerfer, Mörsergranaten und so weiter).

Hinsichtlich des sog. zweiten Kellers in der Narin Straße 6 hat die Delegation folgendes festgehalten:

„Ein Leichenwagenfahrer der Kommune Cizre und ein weiterer Kommunaler Angestellter wurden interviewt.
Das Haus Narin Straße Nr. 6 ist ein Gebäude mit 7 Stockwerken. Als die Leichen weggebracht wurden, war es total zerstört. Seitdem wurde alles Betonmaterial, Steine etc. vom Tatort entfernt. Die Leichen, die aus dem Gebäude weggeschafft wurden, waren nackt und verbrannt, sie waren in Säcken.
Sie wurden an Bedienstete der Kommune übergeben, die gebeten wurden, sie ins Krankenhaus zu bringen. Mehr als ein Mal wurden Säcke mit Leichen transportiert. Es waren über 60 Leichen. Das Gebäude mit dem zweiten Keller ist auch schwer beschädigt.
Es muss untersucht werden, ob Leichenteile unter dem Geröll zwischen den Trümmern sind.“
Hinsichtlich des sog. Dritten Kellers an der Ecke Beyazi und Akdeniz Straße heißt es in dem Bericht wie folgt:

„Für die Untersuchungsarbeiten im dritten Keller am 6. März war der Beamte der Kommune nicht anwesend.
Wir wurden informiert, dass viele Leichen von den Straßen Akdeniz und Beyazit eingesammelt worden sind.
Vor allem der erste Teil zur Akdeniz Straße hin ist vollkommen zerstört. Das Gebäude ist kurz davor einzustürzen. Deshalb konnten hier keine Ermittlungen durchgeführt werden. Kugelhülsen, Hülsen von Panzergranaten und andere Munitionsteile wurden sichergestellt.
Die Straße von Beyazit ist gelegen in der Parallelstraße, direkt rechts von der Akdenizstraße. Hier sind einige Gebäude an der Straße, die komplett mit Schutt bedeckt sind. Der dritte Keller ist nur 100 Meter von der Nusaybin Straße entfernt und in diesem Bereich ist der größte Teil der Gebäude schwer beschädigt.
An eingestürzte Wände sind rassistische und Hassparolen angebracht.“
Schließlich begab sich die Delegation noch zum Fluss Dicle und hielt folgende Erkenntnisse fest:

Es gibt Berichte, dass in der Nähe des Flusses Teile menschlicher Körper aufgefunden wurden. Der Abgeordnete Faysal Sariyildiz hat uns ein Foto gezeigt mit dem Teil eines Armes. Deshalb wollten wir den Fluss Dicle untersuchen und gingen am 06.03.2016 zum Gericht von Cizre. Es war uns nicht möglich, ein kurzes Treffen mit dem Generalstaatsanwalt zu bekommen.
Die Delegation ging daraufhin am selben Tage gegen 14 Uhr zum Ort am Fluß.
Der Fluß Dicle wird in einem großen Bereich am Rand als Müllabladeplatz genutzt. Die Stadtverwaltung von Cizre benutzt diesen Platz als Ort für Müll. Ein Traktorfahrer sagte, er habe Müllberge und Schutt, den er aus den Vierteln gesammelt habe in diesem Gebiet abgeladen.
Zusätzlich zu dem Hausmüll konnten Tierkadaver und Baumaterialen wahrgenommen werden. Wir durchsuchten den Müll, um festzustellen, ob neben dem zuvor erwähnten Leichenteil weitere Leichenteile aufzufinden sind.
Während eines Treffens mit Kindern erfuhren die Anwälte der Anwaltskammer von Diyarbakir von den Kindern, dass in der Nähe der Brücke, ca. 10–15 Meter, ein Teil eines Arms vergraben und gefunden wurde.
Um die Koordinaten des Gebietes zu bestimmen, wurden Fotos gefertigt. Ca. 40–50 cm tief wurde ein Objekt gefunden, eingewickelt in einen schwarzen Nylon Sack, ein grün-blauer Arm wie ein Leichenteil. Nachdem die Fotos gefertigt wurden, informierten die Anwälte den Staatsanwalt über den Tatort. Die Delegation verließ das Gebiet gegen 15 Uhr.
Es wurde berichtet, dass nach dem Antrag der Anwälte, Körperteile mitgenommen wurden, um weitere Ermittlungen vorzunehmen.
Die Auswertung und Bewertung der Delegation lautet wie folgt:

„Die Massaker in den Kellern fanden trotz der Anträge beim Verfassungsgericht und beim Menschenrechtsgerichtshof statt. Es ist verhindert worden, dass diese schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert wurden.
Bei Ereignissen, in denen der Verdacht von Menschenrechtsverletzung besteht, sollte normalerweise das Folgende passieren (Anmerkung der Unterzeichnerin: was aber nicht passiert ist):
• Es war erwartet worden, dass Sicherheitskräfte so schnell wie möglich am Tatort erscheinen, Sicherungsmaßnahmen vornehmen, um die Beweissicherung zu koordinieren und Beweise zu sammeln. Eine Woche nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist noch keine vollständige Auswertung erfolgt. Es wurden Kinder am Tatort beobachtet, Zivilist_innen, die in der Nähe der Vorfälle waren, wurden bedroht.
• Der Zweck der Arbeit am Tatort ist es, schnell Beweise zu sichern, die Verantwortlichen für den Fall zu ermitteln, weitere Vorfälle zu verhindern, alle Zeugen in einer objektiven Art und Weise zu dokumentieren.
• Es ist unbekannt, ob irgendwelche Fotos des Tatortes, Videoaufzeichnungen oder irgendeine andere Dokumentation erfolgt ist. Während der hiesigen Untersuchungen waren keine Verwandten von Verletzten oder Toten oder gesetzliche Vertreter anwesend.
• Um die Wahrheit herauszufinden und Gerechtigkeit zu erlangen, ist es sehr wichtig, dass alle Daten wie auch alle Bilder gesammelt und dokumentiert werden. Es wurde festgestellt, dass bisher keine Anstrengungen in diese Richtung unternommen wurden.
• Der Staatsanwalt ging zum Tatort, wollte das Gebäude aber aus Sicherheitsgründen nicht betreten. Er erteilte auch keine Erlaubnis für andere Teams, Ermittlungen vorzunehmen.
• Der Staatsanwalt hätte den Anwälten sagen können, dass sie Beweise in den Kellern sammeln sollen
• Es ist nicht verständlich, dass keine effektiven Ermittlungen durchgeführt wurden, bis zum Ende der Beobachtung wurden keine Sicherungsmaßnahmen ergriffen. Während Menschen die ganze Zeit den Ort aufsuchten.
• Es wurde festgestellt, dass Beweise und biologische Proben zum Ort hin und weg transportiert wurden. Auch dies sollte nicht der Fall sein.
• Nach dem Entdecken von Beweisen wurden sie nicht gesichert. Somit besteht bei jeder Nachprüfung die Gefahr, eine abweichende Spurenlage vorzufinden, was zu falschen Ergebnissen führen kann.
Schließlich weist die Delegation noch auf die Problematik hin, dass während der Ausgangssperre die Gesetze über die forensischen Institute zweimal geändert wurden, um damit einen Beweismittelverlust betreffend Leichen sowie eine anonyme Beerdigung ohne Beteiligung von Familienangehörigen zu ermöglichen. Insofern weist die Delegation darauf hin, dass es

1.: im Amtsblatt Nr. 29586 vom 7. Januar 2016 heißt:
Die Durchführungsanordnung des dritten Absatzes von Artikel 10 (c), in dem es heißt „Lieferung an die Kommune“ wurde geändert ins „Lieferung an die Kommune oder lokale Behörden“ Die Leichen, die identifiziert sind und sich die Familien nicht innerhalb von drei Tagen gemeldet haben, werden der Kommune oder lokalen Behörden übergeben. Und nach den Worten „Keine Antwort“ wird „obwohl Antwort gegeben wurde, haben die Verwandten oder Behörden nicht innerhalb von 3 Tagen in Empfang genommen“ eingefügt.
2. Im Amtsblatt vom 16. Januar 2016, Nr. 29593 heißt es:
„Wenn die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung während einer Beerdigung besteht, kann die Leiche den Verwaltungsbehörden übergeben werden“.
Dadurch, so die Delegation, würden die lokalen Behörden, (Anmerkung der Unterzeichnerin: die im Gegensatz zu den Verwaltungsbehörden nicht der Zentralregierung in Ankara unterstehen) aus dem gesamten Verfahren herausgehalten.
Zusätzlich seien die „Regulierungen betreffend Friedhöfe, Bestattungen, Beerdigungen und Transporte“ geändert worden. Diese Regulierungen werden in der Kommune als „Vorsätzlicher Beweisverlust, Stehlen der Leichen und deren Beerdigung ohne Wissen der Angehörigen“ verstanden. Anwälte und unabhängige Experten werden daran gehindert, am Autopsieprozedere teilzunehmen, viele Leichen werden ohne Abschluss des Identifikationsverfahrens beerdigt.
Es bestehe die ständige Angst, dass die Identitäten der Leichen vermischt werden.
Hinsichtlich der Ereignisse in den Kellern werden als
-Anlage 8-
noch einige Fotos eingereicht, die teilweise Verletzte in den Kellern zeigen, eine der verbrannten Leichen, Teile von vermutlich menschlichen Knochen und Weiteres.
5. Teil: Refik Tekin u. a.
Während der Ausgangssperre vom 14. Dezember 2015 bis zum 02. März 2016 geschah auch die hier im weiteren angezeigte Tat.
Wie sich bereits aus der Darstellung im 8. Teil zu den Ereignissen in den Kellern ergibt, gab es immer wieder Versuche, Verletzte und Leichen aus Cizre zu bergen.
Am 20. Januar 2016 machte sich schließlich eine größere Gruppe, zu der auch der Parlamentsabgeordnete Faysal Sariyildiz gehörte, und die durch den Journalisten Refik Tekin begleitet wurde, auf, um Verletzte und Leichen einzusammeln. Als sie vier verletzte Personen und drei Leichen eingesammelten hatten, wollten sie zurückkehren. Sie hatten eine weiße Fahne bei sich.
Faysal Sariyildiz hatte zuvor den Notruf 112 angerufen und mitgeteilt, dass sie zurückkämen und sie einen Krankenwagen schicken sollten. Der Notruf sagte, sie könnten keine Wagen schicken, weil die Polizei nicht die Erlaubnis gebe.
Als die Personengruppe mit den Leichen, den Verletzten und der weißen Fahne dann zur Nusaybin Straße kamen, wurde von einem gepanzerten Fahrzeuge aus das Feuer auf sie eröffnet. Es hat zuvor keine Vorwarnung gegeben.
Der Journalist Refik Tekin wurde getroffen und sein rechtes Schienbein zerschmettert. Hamid Pocal, ein Mitglied des Stadtrates, wurde in den Kopf geschossen. Er war tödlich verletzt; Faysal Sariyildiz war sich nicht sicher, ob er noch dort oder später auf dem Weg ins Krankenhaus starb. Selman Erdoğan wurde in die Brust geschossen. Es gab weitere Verletzte.
Refik Tekin hat die Situation gefilmt.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra‘ad Al Hussein, hat aufgrund des Videos am gesagt: „Ich fordere die türkischen Behörden auf, bei Sicherheitseinsätzen die fundamentalen Rechte der Zivilbevölkerung zu respektieren und den mutmaßlichen Beschuss einer Gruppe unbewaffneter Personen in der südöstlichen Stadt Cizre zu untersuchen.“
Das von Refik Tekin aufgenommene Video ist, ebenso wie der Kommentar des UN-Hochkommissars abrufbar unter http://de.euronews.com/2016/02/01/un-tuerkei-soll-beschuss-von-zivilisten-in-cizre-untersuchen/.
Ansonsten schildert Faysal Sariyildiz die Situation wie folgt:

„(…) Zu dieser Zeit trafen wir uns mit ca. 30 Müttern, informierten die Polizei und betraten dann das Stadtviertel (sie betraten Sur/Cudi, überquerten die Nusaybin Straße). Wir waren mit keinen Problemen konfrontiert. Da befand sich uns gegenüber ein gepanzertes Fahrzeug, es intervenierte nicht gegen uns.
Wir nahmen 4 verletzte Personen und drei Leichen aus dem Viertel mit und kehrten zurück. Ich rief den Notruf 112, dass wir zurückkommen. Ich sagte ihnen, sie sollen einen Krankenwagen schicken, weil wir mit den Verletzten kommen. Sie sagten mir, sie könnten keinen Krankenwagen schicken, weil die Polizei ihnen nicht die Erlaubnis geben würde. Wir kamen zur Nusaybin Straße und überquerten zur Sicherheit die Straße.
In diesem Moment eröffnete ein gepanzertes Fahrzeug das Feuer. Es feuerte 40–50 Kugeln auf einmal. Die Hälfte der Menschen fiel zu Boden und ca. 15 Personen blieben übrig. Wir betraten eine Seitenstraße, aber ließen die Leichen liegen. Wir gingen dann zurück und holten unter dem Risiko, unser Leben zu verlieren, die Leichen. Wir baten die Kommune Leichenwagen zu schicken und als diese eintrafen, brachten wir ca. 15 Menschen in die Fahrzeuge und sagten, sie sollten sie ins Krankenhaus bringen.
Hamid Pocal, ein Mitglied des Stadtrates, wurde in den Kopf geschossen. Er war tödlich verletzt; vielleicht starb er noch dort. Selman Erdoğan wurde in die Brust geschossen. Die verletzten Menschen wurden trotz der Dringlichkeit hinsichtlich ihrer Gesundheitssituation nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern auf die Polizeistation. Sie wurden einen Tag später ins Krankenhaus gebracht.“
Im Deutschlandfunk heißt es dazu am 19. Februar 2016 (Anmerkung der Unterzeichnerin: soweit in dem Artikel vom 21. Februar gesprochen wird, muss es sich bei der Angabe des Datums um ein Versehen gehandelt haben, da der Zeuge Faysal Sariyildiz der Unterzeichnerin gegenüber angab, es handelte sich um den 20. Januar, da er dort auch bei Twitter sowohl die Verletzung von Refik Tekin als auch den Tod von Selman Erdogan und Hamid Pocal twitterte und diesen Tweet der Unterzeichnerin auch zeigte) :

„Es ist ein Job wie viele dieser Tage, denkt Refik Tekin am 21. Januar. Doch dieser Tage im Südosten der Türkei als Journalist zu arbeiten, ist alles andere als Routine. Refik Tekin arbeitet für die kurdische Medienagentur IMC TV. Er schnappt sich seine Kamera und zieht los. Eine kleine Gruppe von Aktivisten wartet in Cizre bereits auf ihn. Tekin ist Teil einer heiklen Mission und soll diese mit seiner Kamera dokumentieren.
„Wir sind zu dem betroffenen Stadtteil gegangen. Vorneweg zogen Leute mit einer weißen Fahne. Verletzte und Tote wurden eingesammelt und dann haben wir uns auf den Rückweg gemacht.“
Seit 37 Tagen galt da bereits ein verschärfter Ausnahmezustand in Cizre – eine Stadt mit gut 100.000 Einwohnern unweit der irakischen Grenze. Es hatte wieder Tote und Verletzte gegeben. Die Sicherheitskräfte sprachen von Terroristen. Die Aktivisten wollten sie bergen.
„Beim Rückweg sind wir zur Nusaybin-Straße gekommen, die Cizre zweiteilt. Da waren mit bloßem Auge erkennbar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu sehen. Die Leute mit der weißen Fahne gingen wieder voraus. Dann wurde das Feuer auf uns eröffnet.“
Es habe keine Vorwarnung gegeben, sagt der 36-Jährige. Niemand habe aufgrund der weißen Fahne damit gerechnet, beschossen zu werden.
„Um mich herum sind Leute gestürzt. Ich habe dann gespürt, dass mein Bein heiß wird und das einen Schmerz im ganzen Körper auslöst, wenn ich es berühre. Da habe ich gemerkt, dass ich verletzt war. Ich habe mich auf den Boden gelegt und mich dann in Richtung eines Ladens geschleppt, wo ich sicherer war.“
Refik Tekins rechtes Schienbein wird von einer Kugel zerschmettert. In den türkischen Mainstream-Medien ist über diesen blutigen Zwischenfall in Cizre nichts zu erfahren. Das Schweigen hat Methode, erklärt Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
„Im Südosten (der Türkei) hast du eine neblige Situation. Oft wird das als Kriegsnebel beschrieben. Du kannst die Umstände nicht kennen, unter denen in den Stadtzentren gekämpft wird.“
Der von Ankara sogenannte Krieg gegen den Terrorismus findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zehntausende sind geflohen, Hunderte Tote soll es gegeben haben. In den weitgehend regierungstreuen Medien ist selten von zivilen Opfern die Rede. Getötete Sicherheitskräfte werden Şehitler genannt – Märtyrer. Die anderen Toten werden als Terroristen bezeichnet.
„Was wir hier in der Türkei oft sehen, sind Knebelverordnungen. Wenn Grausamkeiten geschehen, dann werden Nachrichtensperren verhängt. Über die Untersuchungen darf dann auch nicht berichtet werden. Wer solche Untersuchungen öffentlich diskutiert, wird häufig kriminalisiert.“
Refik Tekin wird ins Krankenhaus gebracht. Eigenen Angaben zufolge wird er auf dem Weg dorthin von Sicherheitskräften beschimpft, beleidigt, geschlagen. Sein rechtes Bein wird jetzt durch Schrauben und eine Platinplatte zusammengehalten. Zwei Monate kann Tekin nicht arbeiten. Dann will er trotz aller Widrigkeiten weitermachen.
„Vonseiten des Staates – ob Polizei, Gendarmerie oder der Sonderpolizei – wird jede Form von Behinderung an den Tag gelegt. Wir werden beleidigt, beschimpft, bedroht. Wir werden wie Terroristen behandelt. Gegen mich haben sie auch einen Prozess wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation eingeleitet.“
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer. Im Südosten der Türkei führt Ankara nach eigenem Bekunden Krieg gegen Terroristen. Wer Terrorist ist, bestimmen der Staat und die Sicherheitskräfte, meint Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch.
„Die politischen Führer der Türkei und insbesondere der Präsident haben im vergangenen Jahr eine beispiellose Bereitschaft an den Tag gelegt, ein Klima der Angst für ihre Kritiker zu schaffen und ihre Gegner zu dämonisieren.“
Zu den Gegnern gehören offenkundig auch kritische Journalisten wie Refik Tekin.
Teil C Rechtliche Bewertung
1. Teil: Verstoß der Ausgangssperre gegen türkisches Recht
Das Ausrufen der Ausgangssperren durch den Gouverneur von Şırnak, den Beschuldigten Ali Ihsan Su, und damit auch das gesamte Vorgehen der Sicherheitskräfte im Rahmen der Ausgangssperren (sowohl der im September 2015 als der von Dezember 2015 bis März 2016) sowie die Tötungen und Verletzungen der Zivilist_innen ist bereits deshalb rechtswidrig und willkürlich, weil es im türkischen Recht keine Rechtsgrundlage dafür gibt, dass Ausgangssperren durch die Gouverneure erlassen werden dürfen.
Insbesondere stellt § 11/c des Bezirksverwaltungsgesetzes Nr. 5442, die Rechtsgrundlage, auf die der Gouverneur die Ausrufung der Ausgangssperre gestützt hat, keine Ermächtigung für die Ausrufung einer Ausgangssperre durch einen Gouverneur dar.
Für das bessere Verständnis seien zunächst die entscheidenden Gesetze in deutscher Übersetzung vorangestellt:
Im 2. Teil der türkischen Verfassung, dessen 1. Abschnitt „Allgemeine Vorschriften“ heißt es:
II. Beschränkung der Grundrechte und -freiheiten
Art: 13:
“Die Grundrechte und -freiheiten können mit der Maßgabe, dass ihr Wesenskern unberührt bleibt, nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetz eingeschränkt werden. Die Beschränkungen dürfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der laizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.“
…..
IV. Aussetzung des Gebrauchs der Grundrechte und -freiheiten
Art. 15:
“In den Fällen des Krieges, der Mobilmachung, der Ausnahmezustandsverwaltung oder des Notstandes kann unter der Voraussetzung, dass die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen nicht verletzt werden, in dem der Lage entsprechend erforderlichen Maße der Gebrauch der Grundrechte und -freiheiten teilweise oder vollständig ausgesetzt oder können Maßnahmen getroffen werden, die den für jene in der Verfassung vorgesehenen Garantien entgegenstehen.“

Im 3. Teil der Verfassung, dessen 2. Abschnitt, in dem es um die vollziehende Gewalt geht, heißt es:

III. Verfahren der Notstandsverwaltung
A. Fälle des Notstandes
1. Ausrufung des Notstandes wegen einer Naturkatastrophe oder schweren Wirtschaftskrise
Artikel 119
In Fällen einer Naturkatastrophe, gefährlicher Seuchen oder einer schweren Wirtschaftskrise kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat in einem Teil oder mehreren Teilen des Landes oder im ganzen Land für eine Dauer von nicht mehr als sechs Monaten den Notstand ausrufen.
2. Ausrufung des Notstandes wegen Ausbreitung von gewalttätigen Vorkommnissen und ernster Störung der öffentlichen Ordnung
Artikel 120
Ergeben sich ernsthafte Anzeichen für sich ausbreitende Gewalthandlungen, die auf eine Aufhebung der durch die Verfassung begründeten freiheitlichen demokratischen Ordnung oder der Grundrechte und Freiheiten gerichtet sind, oder wird die öffentliche Ordnung ernsthaft gestört, so kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat nach Einholung der Ansicht des Nationalen Sicherheitsrates in einem Teil oder mehreren Teilen des Landes oder im ganzen Land für eine Dauer von nicht mehr als sechs Monaten den Notstand ausrufen.
3. Regelung zu den Fällen des Notstandes
Artikel 121
Wird gemäß Artikel 119 und 120 der Verfassung die Ausrufung des Notstandes beschlossen, so wird dieser Beschluss im Amtsblatt verkündet und sofort der Zustimmung der Großen Nationalversammlung der Türkei unterbreitet.
Befindet sich die Große Nationalversammlung der Türkei in den Ferien, wird sie unverzüglich einberufen. Die Nationalversammlung kann die Dauer des Notstandes ändern, auf Verlangen des Ministerrats für jeweils nicht mehr als vier Monate die Dauer verlängern oder den Notstand aufheben.
Die für die gemäß Artikel 119 ausgerufenen Fälle des Notstandes auf die Staatsbürger zu übertragenden Verpflichtungen in Geld, Sachen und Arbeit und, jeweils getrennt für jede Art der Fälle des Notstands geltend, die Art und Weise der Beschränkung oder Aussetzung der Grundrechte und Freiheiten im Sinne des Artikels 15 der Verfassung, die Art und Weise der Ergreifung der durch den Notstandsfall erforderten Maßnahmen, die Art der den Angehörigen des öffentlichen Dienstes zuzuweisenden Kompetenzen, die Art der Änderungen im Status der Bediensteten sowie die Verfahren der Notstandsverwaltung werden durch das Notstandsgesetz geregelt.
Während der Dauer des Notstandes kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat hinsichtlich von durch den Notstand geforderten Gegenständen Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Rechtsverordnungen werden im Amtsblatt verkündet und am selben Tag der Großen Nationalversammlung der Türkei zur Zustimmung unterbreitet; Frist und Verfahren im Zusammenhang mit der Zustimmung durch die Nationalversammlung werden durch die Geschäftsordnung bestimmt.
B. Ausnahmezustandsverwaltung, Mobilmachung und Kriegsfall
Artikel 122
Aus Gründen der Ausbreitung von Gewalthandlungen, welche auf die Aufhebung der durch die Verfassung anerkannten freiheitlichen demokratischen Ordnung oder der Grundrechte und Freiheiten gerichtet und ernster sind als die die Ausrufung des Notstandes erfordernden Fälle, oder des Auftretens des Kriegsfalles oder einer einen Krieg erfordernden Lage, eines Aufstandes oder einer Unternehmung von gewaltsamen Aktionen gegen das Vaterland oder die Republik oder der Ausbreitung von Gewalthandlungen, welche von innen oder außen die Unteilbarkeit des Landes und der Nation in Gefahr bringen, kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten zusammentretende Ministerrat nach Einholung der Ansicht des Nationalen Sicherheitsrates in einem Teil oder in mehreren Teilen des Landes oder im ganzen Land für eine Dauer von nicht mehr als sechs Monaten die Ausnahmezustandsverwaltung ausrufen. Dieser Beschluss wird unverzüglich im Amtsblatt verkündet und am selben Tag der Zustimmung der Großen Nationalversammlung der Türkei unterbreitet. Ist die Große Nationalversammlung der Türkei nicht zusammengetreten, wird sie sofort einberufen. Die Große Nationalversammlung der Türkei kann, wenn sie es für nötig hält, die Dauer der Ausnahmezustandsverwaltung abkürzen, verlängern oder die Ausnahmezustandsverwaltung aufheben. Während der Dauer der Ausnahmezustandsverwaltung kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat hinsichtlich von durch die Ausnahmezustandsverwaltung erforderten Gegenständen Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen.
Diese Rechtsverordnungen werden im Amtsblatt verkündet und am selben Tage der Zustimmung der Großen Nationalversammlung der Türkei unterbreitet. Frist und Verfahren im Zusammenhang mit deren Zustimmung durch die Große Nationalversammlung der Türkei werden durch die Geschäftsordnung bestimmt.
Die Verlängerung der Ausnahmezustandsverwaltung um jeweils nicht mehr als vier Monate ist von dem Beschluss der Großen Nationalversammlung der Türkei abhängig. In Fällen des Krieges bedarf es dieser Frist von vier Monaten nicht.
Welche Vorschriften in den Fällen der Ausnahmezustandsverwaltung, der Mobilmachung und des Krieges Anwendung finden und auf welche Art und Weise die Geschäfte geführt werden, die Beziehungen zur Verwaltung, die Art und Weise der Beschränkung oder Aussetzung der Freiheiten und im Falle des Auftretens eines Krieges oder einer einen Krieg erfordernden Lage die den Staatsbürgern aufzuerlegenden Verpflichtungen werden durch Gesetz geregelt.Die Kommandeure der Ausnahmezustandsverwaltung versehen ihren Dienst in Anbindung an das Amt des Generalstabschefs.
Die Vorschrift aus dem Provinzverwaltungsgesetz, auf das der Gouverneur die Ausgangssperren gestützt hat, lautet:
Art. 11 (c) des Provinzverwaltungsgesetzes:
A) A) Die Gouverneure sind die Vorgesetzten aller generellen und speziellen Sicherheitskräfte und -organisationen. Er trifft die notwendigen Maßnahmen zur Vorbeugung von Straftaten und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Zu diesem Zweck darf er die allgemeinen und speziellen Sicherheitskräfte des Staates einsetzen, die Vorgesetzten und Offiziere von solchen Organisation sind verpflichtet, die Anordnungen des Gouverneurs unverzüglich auszuführen.
B) B) Die Gouverneure sichern die Grenzen und Küsten des Bezirks und führen alle Angelegenheit betreffend die Grenzsicherheit und die Küstensicherheit entsprechend den gültigen Vorschriften.
C) C) Die Gouverneure haben die Pflicht, inter alia, den Frieden und die Sicherheit, die Unversehrtheit der Person, Sicherheit des Privateigentums, das öffentliche Wohlbefinden und die vorbeugende polizeiliche Autorität zu sichern. Die Gouverneure nehmen die dafür notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen zu diesem Zweck vor. Artikel 66 des Provinzverwaltungsgesetzes gilt für diejenigen, die diese Entscheidungen und Maßnahmen nicht erfüllen.“
Artikel 11 des Gesetzes Nr. 2935 über den Ausnahmezustand lautet ausschnittsweise:
Maßnahmen, die im Fall von Gewalt durchgeführt werden dürfen.
Artikel 11: Wann immer ein Ausnahmezustand in Übereinstimmung mit Art. 3 (1) (b) ausgerufen worden ist, um die Sicherheit die Allgemeinheit, die Sicherheit und die öffentliche Ordnung zu schützen und die Ausbreitung von Gewaltakten zu verhindern, können zusätzlich zu den nach Art. 9 vorgenommen Maßnahmen, folgende Maßnahmen unternommen werden:
a) Auferlegung einer eingeschränkten oder vollständigen Ausgangssperre
Artikel 3, Absatz 1 des Gesetzes 1402 über Ausnahmezustandsgesetze und Regulierungen lautet:
I. Einführung von Einschränkungen der Bewegung der Menschen, Einführung von Ausgangssperren, und, wenn erforderliche, die Einführung geeigneter Maßnahmen der zivilen Verteidigung.
Der gemeinsame Art. 3 der durch die Vereinten Nationen 1949 erklärten Genfer Konventionen lautet:
Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden:
1. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache außer Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde. Zu diesem Zwecke sind und bleiben in Bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten:
a. Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmlung, grausame Behandlung und Folterung;
b. Gefangennahme von Geiseln;
c. Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung;
d. Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmäßig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.
2. Die Verwundeten und Kranken sollen geborgen und gepflegt werden.
Eine unparteiische humanitäre Organisation, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, kann den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten.
Die am Konflikt beteiligten Parteien werden sich anderseits bemühen, durch besondere Vereinbarungen auch die anderen Bestimmungen des vorliegenden Abkommens ganz oder teilweise in Kraft zu setzen. Die Anwendung der vorstehenden Bestimmungen hat auf die Rechtsstellung der am Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss.
Nun zunächst einige grundsätzliche Vorbemerkungen zum System der türkischen Verfassung. Die Verfassung der Republik Türkei (1982) sieht ein spezifisches Zwei-Ebenen-Schutzsystem für die Grundrechte vor, um willkürliche Eingriffe in die Grundrechte zu unterbinden. Zwei unterschiedliche Systeme machen die betreffenden verfassungsrechtlichen Regelungen aus: Auf der einen Seite gibt es das “Beschränkungssystem“, das für normale Situationen vorgesehen ist, auf der anderen Seite gibt es das “Aussetzungssystem“ für den Notstand, das als eine Art Grundrechtsregime im Ausnahmezustand definiert werden kann. Wie in anderen liberalen Verfassungen in Europa gilt auch für die türkische Verfassung (TV) das Motto “Freiheit ist die Regel, jede Beschränkung ist die Ausnahme.” Folglich gibt es im türkischen Verfassungssystem die sog. “Schranken-Schranken” (Grenzen, die bei der Einschränkung von Grundrechten beachtet werden müssen), ähnlich dem deutschen Verfassungssystem. Ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts ist verfassungsrechtlich nur dann gerechtfertigt, wenn er eine zulässige Schranke dieses Grundrechts darstellt und seine Schranken-Schranken einhält.
Die wesentlichen Schranken-Schranken werden nach Art. 13 TV geregelt.
Diese Schranken-Schranken gelten nur in den dort genannten Fällen nicht, d.h eine Aussetzung der Grundrechte durch Maßnahmen der Staatsgewalt ist nach Art. 15 TV nur im Falle des Krieges, der Mobilmachung, der Ausnahmezustandsverwaltung oder des Notstandes möglich. Abgesehen von diesen in der Verfassung normierten Ausnahmefällen ist eine Aussetzung der Grundrechte ausgeschlossen. Sevtap Yokuş stellte hierzu bereits fest: “Das auf Grundlage des Art. 15 der Verfassung von 1982 entstandene Ausnahme-Regime erscheint hinsichtlich der Rechte und Freiheiten wie ein die Verfassung überschreitendes, von ihr unabhängiges Regime. Unter dem Ausnahme-Regime nimmt Art. 15 TV bei der Suspendierung von Rechten und Freiheiten eine essenzielle Rolle ein. “
Außer diesen Bestimmungen gibt es im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz keine Verwirkungsklausel in der TV.
In der türkischen Verfassung gibt es insoweit eine Differenz zwischen “Normalität“ und “Notstand“.
Die Regelungen für den Normalzustand sind in der türkischen Verfassung festgehalten. Allerdings ließ die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant) eine mögliche Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung nicht außer Betracht und verankerte für diese Möglichkeit ein Notstandsystem in der Verfassung. Das Notstandsystem kann als eine Art “verfassungsmäßige Diktatur“ bezeichnet werden. In diesem System sind die temporären „diktatorischen Vollmachten“ jedoch nicht absolut, da bereits in der Verfassung und Gesetzen die Orte, die Fristen, die Berechtigten und der Inhalt der Berechtigung im Notstand geregelt sind. Somit besteht eine gewissen prozedurale Legitimität des Systems.
Die Artikel 119 bis 122 der Verfassung legen diese Bedingungen und Standards fest. Demnach kann “der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat nach Einholung der Ansicht des Nationalen Sicherheitsrates“ in einem oder mehreren Teilen des Landes oder im ganzen Land für eine Dauer von nicht mehr als sechs Monaten den Notstand ausrufen. Die Ausübung dieser Vollmacht ist allerdings an Voraussetzungen geknüpft. Vorausgesetzt ist, dass ernsthafte Anzeichen für sich ausbreitende Gewalthandlungen gegeben sind, die auf eine Aufhebung der durch die Verfassung begründeten freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Grundrechte gerichtet sind, oder die die öffentliche Ordnung ernsthaft stören.
Wenn der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat den Notstand ausruft, tritt das in der Normalität ruhende Notstandsgesetz wieder in Kraft. Mit der Etablierung des Notstandsgesetzes können die Grundrechte umfassender eingeschränkt und sogar vollständig ausgesetzt werden. Dieser außergewöhnliche Umstand ergibt sich aus den Art. 15 und 121 TV. Die verfassungsgebende Gewalt stellte darin Grundsätze für die verfasste Staatsgewalt, also die Exekutive, auf, die festsetzen, wann, wie, für wie lange und unter welchen Bedingungen und mit welchen Fristen Maßnahmen verhängt werden können, die den in der Verfassung vorgesehenen Garantien entgegenstehen.
Im türkischen Recht gibt es entsprechend dieser verfassungsrechtlichen Systematik auch Bestimmungen für die Verhängung von Ausgangssperren. Diese sind explizit zum einen im Gesetz über den Kriegszustand sowie andererseits im Ausnahmezustandsgesetz geregelt. Darin ist auch ausdrücklich bestimmt, dass im Kriegszustand gem. dem Kriegszustandsgesetz mit der Nummer 1402 die Befugnis zur Verhängung von Ausgangssperren dem sog. „Kommandanten im Kriegszustand“ zugeschrieben ist und im Ausnahmezustandsgesetz Nr. 2935 Abs. a und b wird diese Befugnis dem Ministerrat zugeschrieben.
§ 11/c des Bezirksverwaltungsgesetzes Nr. 5442, auf den der Gouverneur die Ausrufung der Ausgangssperre gestützt hat, hingegen stellt keine Ermächtigung für die Ausrufung einer Ausgangssperre durch einen Gouverneur dar.
Zunächst bestehen bereits grundsätzliche Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, da es ihm an Bestimmtheit und insbesondere Rechtsklarheit fehlt. Die Rechtsklarheit erfordert, dass der Regelungsinhalt der Rechtsnormen für deren Adressaten und den Rechtsanwender verständlich und eindeutig ist. Die Bestimmtheit erfordert, dass staatliches Handeln messbar und vorhersehbar ist und die Adressaten die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ausrichten können.
Art. 11(c) besagt, dass die Gouverneure die notwendigen Maßnahmen treffen können. Nur anhand des Wortlauts der Norm lässt sich nicht hinreichend bestimmen, ob davon auch Ausgangssperren umfasst werden können.
Zumindest aber ist eine Auslegung dieser Norm durch die Gouverneure dahingehend, dass sie auch die Anordnung sog. unbefristeter rund um die Uhr geltender Ausgangssperren – mit den oben (Teil B, 1. Teil, A) dargestellten –
Folgen für die Betroffenen, nicht verfassungskonform.
Eine systematische Auslegung der Verfassung zeigt eindeutig, dass die Art. 13 bis 15 und 119 bis 121 der Verfassung berücksichtigt werden müssen.
Maßnahmen in Form von Ausgangssperren sind ein kategorischer Eingriff in die Grundrechte. In dieser Hinsicht können die Ausgangssperren nicht bloß als “Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 der Verfassung gelten, vielmehr stellt ein solch kategorischer Eingriff eine Aussetzung der Grundrechte dar.
Dass auch der türkische Gesetzgeber selbst davon ausgeht, dass eine Ausgangssperre einen derart massiven Eingriff in fundamentale Rechte und damit eine Aussetzung der Grundrechte darstellt, der zum einen nur im Bereich des Notstandes bzw. des Kriegszustandes möglich ist und zum anderen einer expliziten gesetzlichen Regelung bedarf, zeigt sich daran, dass er den Erlass einer Ausgangssperre im Gesetz über den Notstand bzw. den Kriegszustand explizit geregelt hat.
So schreibt Art. 11(a) des Notstandsgesetzes mit dem Titel “Maßnahmen, die im Fall von gewalttätigen Auseinandersetzungen ergriffen werden“ vor, dass Ausgangssperren während des Notstands verhängt werden können, um die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung zu schützen sowie die Ausbreitung von Gewalttaten zu verhindern. Dieses Gesetz regelt die Administration des Notstandsrechts, die Aufteilung der Zuständigkeiten, andere Mechanismen und weitere, usw. Infolgedessen bedeutet die Vollziehung einer Notstandsmaßnahme ohne Verhängung des Notstands de facto eine Verhängung des Notstands durch die Gouverneure. Die kann nur als Willkür bezeichnet werden.
Für solche Maßnahmen fordert Art. 15 der Verfassung, dass eine der Numerus-Clausus-Bedingungen (der Kriegsfall, die Mobilmachung, die Ausnahmezustandsverwaltung oder der Notstand) vorliegen muss. Art. 121 der Verfassung setzt voraus, dass die Entscheidung in Bezug auf die Existenz dieser Bedingungen einen politischen Charakter hat und eben diese politische Entscheidung nur der vom Präsidenten der Republik einberufene Ministerrat treffen kann. Solange der Notstand nicht durch die besagte Instanz erklärt worden ist, kann eine Maßnahme dieser Größenordnung nicht legal ergriffen werden.
Die Gouverneure und Landräte haben somit ihre Befugnisse überschritten und alle von der Verfassung geschützten Grundrechte in willkürlicher und illegaler Art und Weise verletzt. Die Ausgangssperre und ihre damit verbundenen Folgen stellen eine Verletzung folgender durch die Verfassung garantierter Rechte der betroffenen Bevölkerung dar.

– Art. 15, Recht auf Leben der Person und die Einheit ihrer materiellen und ideellen Existenz:. Dieses Recht darf sogar im Ausnahme- oder Kriegszustand nicht angetastet werden, abgesehen von den aus Folgen kriegsrechtsgemäßer Handlungen auftretenden Todesfällen,
– Art. 19: Freiheit und Sicherheit der Person
– Art. 21: Unantastbarkeit der Wohnung
– Art. 22: Kommunikationsfreiheit garantiert,
– Art. 23: Reise- und Niederlassungsfreiheit garantiert
– Art. 25: Meinungs- und Überzeugungsfreiheit
– Art. 26: Freiheit der Äußerung und Verbreitung der Meinung.
2. Teil Strafbarkeit nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)
A. Ereignisse während der Ausgangssperre vom 04. bis zum 11. September 2015 in Cizre.
Die hier angezeigten Ereignisse/Taten im Zusammenhang mit der Ausgangssperre vom 04. bis zum 11. September 2015 stellen zum einen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2. Nr. 7. Nr. 8 und Nr. 9 VStGB (I.), zum anderen Kriegsverbrechen nach § 8 Abs1., Nr. 1, Nr. 3, Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 9 VStGB dar (II.) und schließlich Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1., Nr. 1, Nr. 3, Nr. 5, i.V.m. § 11 Abs. 2 VStGB (III.) dar.
I. Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 VStGB
Der Wortlaut des § 7 wird zum besseren Verständnis und der Übersichtlichkeit halber anbei wörtlich wiedergegeben, soweit er die hier einschlägigen o.g. Nummern betrifft.
㤠7 Verbrechen gegen die Menschlichkeit
(1) Wer im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung
1. einen Menschen tötet,
2. in der Absicht, eine Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören, diese oder Teile hiervon unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
3. …….
4. ……
5. ………
6. ……
7. einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt
8. einen Menschen unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts in schwerwiegender Weise der körperlichen Freiheit beraubt oder
9. eine identifizierbare Gruppe oder Gemeinschaft verfolgt, indem er ihr aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, aus Gründen des Geschlechts oder aus anderen nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts als unzulässig anerkannten Gründen grundlegende Menschenrechte entzieht oder diese wesentlich einschränkt,
wird in den Fällen der Nummern 1 und 2 mit lebenslanger Freiheitsstrafe, in den Fällen der Nummern 3 bis 7 mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren und in den Fällen der Nummern 8 bis 10 mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.“
1. Ausgedehnter und systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung
Zunächst ist festzuhalten, dass die im Zusammenhang mit der Ausgangssperre in Cizre vom 04. bis zum 11. September 2015 mit diesem Schriftsatz zur Anzeige gebrachten Ereignisse und Verbrechen im Rahmen eines sog. ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung im Sinne von § 7 VStGB stattgefunden haben.
Zur Auslegung des Merkmals des Angriffs gegen die Zivilbevölkerung ist auf die Legaldefinition in Art. 7 Abs. 2 (a) IStGH-Statut zurückzugreifen. Danach liegt ein Angriff gegen eine Zivilbevölkerung in einer „Verhaltensweise, die mit der mehrfachen Begehung der in Absatz I genannten Handlungen gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat.“
Eine Zivilbevölkerung ist jede Personenmehrheit, die durch gemeinsame Merkmale verbunden ist, welche sie zum Ziel eines Angriffs machen; ein solches Merkmal kann etwa das gemeinsame Bewohnen eines Gebietes darstellen. Es ist nicht erforderlich, dass die gesamte Bevölkerung eines Staates oder Territoriums von dem Angriff, der dem Verbrechen zugrunde liegt, betroffen ist.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit können innerhalb und außerhalb bewaffneter Konflikte begangen, werden. Anders als bei den Kriegsverbrechen werden nicht nur Übergriffe auf die der gegnerischen Seite zugehörige oder staatenlose Zivilbevölkerung erfasst, sondern gerade auch solche auf die eigene Zivilbevölkerung. Die Präsenz einer gewissen Anzahl von Soldaten oder Kombattanten in einer angegriffenen Zivilbevölkerung hebt deren zivilen Charakter nicht auf; entscheidend ist, dass der zivile Charakter der Gruppe überwiegt.
Das Merkmal des ausgedehnten Angriffs ist quantitativer Natur. Die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe verstehen unter einem ausgedehnten Angriff ein in großem Maßstab durchgeführtes Vorgehen mit einer großen Anzahl von Opfern. Der Internationale Strafgerichtshof hat diese Rechtsprechung in seiner ersten einschlägigen Entscheidung bestätigt. Die Ausgedehntheit des Angriffs kann sich insbesondere daraus ergeben, dass er sich gegen eine Vielzahl von Personen richtet. Weiterhin kann ein Angriff ausgedehnter Natur sein, weil er sich über ein großes geografisches Gebiet erstreckt.
Diese Voraussetzungen sind hier erkennbar erfüllt:
Dafür sei zunächst auf die obigen Ausführungen zu dem Verstoß des Ausrufens derartiger Ausgangssperren gegen das türkische Recht und die türkische Verfassung verwiesen, das nur als willkürlich bezeichnet werden kann und eindeutig gegen die Zivilbevölkerung gerichtet ist und gerade dieser die Grundrechte entzieht.
Aus der beigefügten Tabelle der Menschenrechtsstiftung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, TİHV) ergibt sich zuem, dass die Ausrufung derartiger rechts- und verfassungswidriger Ausgangssperre in den kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei mittlerweile zum Alltag gehören.
-Anlage 9 –
Zwischen dem 16.08.2015 und dem 05.04.2016 sind insgesamt 68 mehrtägige bis hin zu monatelangen Ausgangssperren in verschiedensten Städten in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei ausgerufen worden, von denen zahlreiche derzeit noch andauern. Laut einem Bericht der Menschenrechtsstiftung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, TİHV) wurden zwischen dem 16. August 2015 und dem 20. April 2016 insgesamt 68 Ausgangssperren in 22 Bezirken von sieben Städten ausgerufen, die jeweils unbefristet und rund um die Uhr galten.
35 Ausgangssperren bezogen sich auf Diyarbakir, zehn auf Şırnak (im Bezirk Şırnak liegt auch die Stadt Cizre), elf auf Mardin, fünf auf Hakkari, eine auf Mus, eine auf Elazig, und zwei auf Batman.
Die Menschenrechtsstiftung geht davon aus, dass entsprechend der Volkszählung von 2014 schlussendlich 1.642.000 Einwohner_innen durch diese Ausgangssperren betroffen waren und dabei ihre fundamentalen Rechte auf Leben und Gesundheit verletzt worden sind.
Eine Stellungnahme des Gesundheitsministeriums vom 27. Februar 2016 geht davon aus, dass insgesamt 355.000 Bewohner_innen gezwungen waren, ihre Städte und Bezirke zu verlassen, in denen sie lebten.
Die Menschenrechtsstiftung hat für die Zeit vom 16. August 2015 bis zum 20. April 2016 338 tote Zivilist_innen dokumentiert, die während der offiziell ausgerufenen Ausgangssperren ihr Leben verloren haben. 78 waren Kinder, 69 waren Frauen und 30 waren über 60 Jahre. Davon sind 76 der Zivilist_innen gestorben, weil sie keine medizinische Hilfe bekommen konnten, 200 Zivilist_innen starben, als sie sich innerhalb der Grenzen ihres eigenen Zuhauses befanden, davon allein 147 Menschen in Cizre. 182 Zivilist_innen starben durch eröffnetes Feuer oder Missile Beschuss und 18 aufgrund des psychischen Stresses während der Ausgangssperren.
Nicht in der Anzahl von 338 toten Zivilist_innen enthalten sind 78 Menschen in Cizre und 15 Menschen in Idil, die begraben wurden, ohne dass eine Identifizierung stattfand. Ebenso nicht enthalten sind in den Zahlen elf ZivilistInnen, die ihre Leben durch willkürlichen Beschuss der Sicherheitskräfte während friedlicher Proteste gegen die Ausgangssperren verloren haben und zwar zu Zeiten als keine Militäroperationen im Gange waren oder Ausgangssperren an den entsprechenden Tatorten in Kraft waren. Ebenso sind keine Zahlen enthalten für jene Ausgangssperren, die bei Abschluss des Berichtes noch in Kraft waren .
Alle diese Ausgangssperren weisen in wesentlichen Punkten dieselbe Vorgehensweise staatlicherseits auf. Es handelt sich um vom jeweiligen Gouverneur ausgerufene und kurz vor Inkrafttreten durch Lautsprecher bekanntgegebene Rund-um-die-Uhr Ausgangssperren, Wasser und Stromversorgung wird unterbrochen. Die Menschen haben sehr begrenzte bis keine Möglichkeit, medizinische Versorgung zu erhalten. Der Zugang zu Lebensmitteln ist nahezu nicht vorhanden, die Menschen werden daran gehindert, die Toten zu bergen und angemessen zu begraben. (Siehe zu alledem die Darstellung oben unter.Teil B, 1. Teil).
Der Zugang von Abgeordneten, Journalist_innen, Menschenrechtsorganisationen und der Vereinten Nationen in die Gebiete der Ausgangssperre wird verhindert. Wer darüber berichtet, wird Repression ausgesetzt. Hierauf verweisen auch die Vereinten Nationen und HRW.
Die Voraussetzungen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung liegen damit vor.
2. Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände des § 7 VStGB
In diesem Rahmen handelt es sich bei den jeweils angezeigten Taten um Verbrechen nach § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 7. Nr. 8 und Nr. 9.
(1) § 7 Abs. 1 Nr. 1: Tötung eines Menschen
Die Strafbarkeit nach dem VStGB setzt voraus, dass der oder die Täter den Tod eines oder mehrerer Menschen verursacht, wobei subjektiv mindestens dolus eventuales erforderlich ist. Die Tatbestandsvariante umfasst auch die Tötung durch Unterlassen.
Der Tod von
• Mehmet Emin Levent (26 Jahre), der am Morgen des 5.09.2015 vor seinem Haus von Scharfschützen erschossen wurde,
• Cemile Çağırga (10 Jahre), die am Abend des 6.09.2015 von Scharfschützen vor ihrem Haus von hinten erschossen wurde.
• Said Çağdavul (19 Jahre), der im Nur-Quartier aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus angeschossen wurde und anschließend seinen Verletzungen erlag, da er von seiner Familie nicht ins Spital gebracht werden konnte.
• Bahattin Sevinik (50 Jahre), der am Abend des 6.09.2015 verletzt wurde und seinen Verletzungen erlag und wo bei dem Versuch, ihn ins Krankenhaus zu bringen, Suphi Sarak erschossen und Abdullah Anakin schwer verletzt wurden.
• Suphi Sarak (52 Jahre), der beim Versuch, seinem verletzten Nachbarn Bahattin Sevinik zu helfen, aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus mit mehreren Schüssen erschossen wurde.
• Osman Çağlı (18 Jahre), der am Morgen des 7.09.2015 von Scharfschützen angeschossen wurde und anschließend verblutete.
• Bünyamin Irci (14 Jahre), der am 9.09.2015 durch den Beschuss aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus verletzt wurde. Beim Versuch, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wurde das Feuer erneut eröffnet und der bereits Verletzte erschossen.
• Eşref Erdin (60 Jahre), der am 10.09.2015 um 23.00 Uhr auf dem Dach seines Hauses angeschossen wurde. Beim Versuch, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wurde das Feuer von einem Panzer aus erneut eröffnet, weswegen der Transport ins Krankenhaus scheiterte. Nach einer Stunde erlag Eşref Erdin seinen Verletzungen.
• Zeynep Taşkın (18 Jahre), die ihren Vater vom Festnetztelefon im Haus ihrer Nachbar_innen anrufen wollte und auf dem Heimweg von Scharfschützen erschossen wurde. Sie trug ihr Baby, Berxwedana Taşkın auf dem Arm, das verletzt überlebte.
• Maşallah Edin (ca. 35 Jahre), die gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter Zeynep Taşkın und ihrem Enkelkind beschossen wurde und noch vor Ort verstarb.
• Özgür Taşkın (18 Jahre), der am Nachmittag des 9.09.2015 erschossen wurde. Er hatte sein Zuhause verlassen, um bei seinem Onkel – auf der gegenüberliegenden Straßenseite – kaltes Wasser zu holen und im Fernsehen die Nachrichten zu schauen.
• Meryem Süne (45 Jahre), die am 8.9.2015 im Innenhof ihres Zuhauses angeschossen wurde und 2½ Stunden später verstarb. Alle Versuche der Verwandten, medizinische Hilfe zu erhalten, scheiterten.
• Mehmet Sait Nayci (16 Jahre), der auf der Straße vor seinem Haus erschossen wurde, als er sich mit seiner Familie im Hinterhof des Hauses in Sicherheit bringen wollte. Nach sechs Stunden erlag er seinen Verletzungen.
• Selman Ağar (10 Jahre), der am 11.09.2015 um ca.17.00 Uhr im Cudi-Quartier von einem Scharfschützen erschossen wurde – er hatte auf der Straße gespielt.
• Mehmet Erdoğan (75 Jahre), der am 11.09.2015 sein Zuhause verließ, um Brot zu holen– er wurde von einem Scharfschützen erschossen.
• Mülkiye Geçgel (48 Jahre), die während der Ausgangssperre verwundet wurde und Anfang Oktober 2015 im Krankenhaus starb.
fallen unter diese Tatbestandsalternative.
(2) § 7 Abs. 1 Nr. 2: in der Absicht, eine Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören, diese oder Teile hiervon unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen
Der Tatbestand erfordert objektiv, dass eine Bevölkerung oder Teile hiervon, unter Lebensbedingungen gestellt werden, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Nach der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichtshöfe erfasst der Tatbestand jede direkte und indirekte Todesverursachung, wobei die indirekte Todesverursachung die Auferlegung von Lebensbedingungen meint, die geeignet ist, die Vernichtung eines Teiles der Bevölkerung herbeizuführen. Tathandlungen sind u. a. das Vorenthalten des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Medikamenten.
Diese Tatbestandsvoraussetzungen liegen in Bezug auf die – rechtswidrig – angeordnete Ausgangssperre angesichts der oben dargestellten Auswirkungen, die auch systematisch beabsichtigt sind, erkennbar vor.
(3) § 7 Abs. 1 Nr. 8: einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt.
§ 7 Abs. 1 Nr. 8 stellt das Menschlichkeitsverbrechen der Zufügung schwerer körperlicher und seelischer Schäden unter Strafe. Das Gesetz verweist für die Art des vorausgesetzten Schadens beispielhaft auf § 226 StGB. Absatz 1 dieser Vorschrift erfasst den Verlust des Sprach-, Seh- oder Sprechvermögens, der Fortpflanzungsfähigkeit (Nr.1), eines wichtigen Körperglieds oder dessen Gebrauchsfähigkeit (Nr. 2), erhebliche Entstellungen und das Verfallen in Siechtum, Lähmung, geistige Krankheit oder Behinderung. Die internationale Rechtsprechung versteht unter einem schweren körperlichen Schaden schwere Schädigungen der Gesundheit, die Verursachung von Entstellungen sowie schwere Verletzungen der äußeren oder inneren Organe oder Sinne. Als Beispiele für tatbestandliche Handlungen werden unter anderem Verstümmlungen und Gewaltanwendung, Schläge mit einem Gewehrkolben sowie Verletzungen mit einer Machete genannt. Insbesondere sind auch sexuelle Gewaltverbrechen als Verursachung schweren körperlichen und in der Regel auch schweren seelischen Schadens erfasst. Die Tatalternative der Zufügung schwerer seelischer Schäden hat eine eigenständige Bedeutung. Ein physisch wirkender Angriff oder körperliche Auswirkungen des seelischen Schadens sind deshalb nicht erforderlich. Den zerstörerischen psychischen Auswirkungen sexueller Gewaltverbrechen wird der gleiche Stellenwert eingeräumt wie den physischen Folgen der Tat. Die Verursachung eines „schweren“ körperlichen oder seelischen Schadens erfordert nicht, dass dieser dauerhaft oder irreversibel ist. Eine nur vorübergehende körperliche oder seelische Beeinträchtigung genügt jedoch nicht. Es muss sich vielmehr um einen Schaden handeln, der die Fähigkeit des Opfers, ein normales Leben zu führen, nachhaltig beeinträchtigt.
Von den oben näher ausgeführten Einzelfällen werden mindestens die Fälle von Abdullah Anakin (Sieh oben Teil B, 1. Teil, C II 3), Abdullah Özkan (Sieh oben Teil B, 1. Teil, C II 1) und Salih Çağlı (Sieh oben Teil B, 1. Teil, C II 2) durch diese Tatbestandsalternative umfasst.
Im Weiteren ist davon auszugehen, dass zahlreichen Menschen schwere seelische Schäden erlitten haben. Die Darstellung von Einzelfällen ist an diesem Punkt jedoch nicht möglich, da eine entsprechende Dokumentation unter den derzeitigen Bedingungen, der es nicht einmal der UNO erlaubt haben, die Region aufzusuchen und Ermittlungen durchzuführen, nicht möglich ist.
(4) § 7 Abs. 1 Nr. 8: einen Menschen unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts in schwerwiegender Weise der körperlichen Freiheit beraubt
Voraussetzung für die Erfüllung der Tatbestandsalternative ist, dass der Täter einen oder mehrere Menschen daran hindert, den Aufenthaltsort frei zu verlassen. Neben Fällen, in denen eine Person in einen umschlossenen Raum eingesperrt wird, sind auch Situationen erfasst, in denen die Fortbewegungsfreiheit einer Person nicht vollständig eingeschränkt, sondern auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt wird, beispielsweise innerhalb eines Ghettos oder Konzentrationslagers. Auch ein Hausarrest kann ein Menschlichkeitsverbrechen in Form einer Freiheitsentziehung darstellen. Freiheitsentziehungen von geringer Dauer sind dagegen nicht als „schwerwiegend“ im Sinne der Vorschrift anzusehen, so dass sie die Tatbestandsalternative nicht erfüllen. Den Charakter eines Völkerrechtsverbrechens erlangt die Tat erst durch ihren Verstoß gegen das Völkerrecht. Abweichend von Art. 7 Abs. 1 (e) IStGH-Statut, der auf die „grundlegenden Regeln“ (fundamental rules) des Völkerrechts abstellt, setzt § 7 Abs. 1 Nr. 9 einen Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts voraus. Diese Formulierung verweist auf Art. 25 GG: Erfasst sind nur solche völkergewohnheitsrechtlichen Regeln, die weltweite Geltung besitzen. Damit werden die Anforderungen im Vergleich zum Völkergewohnheitsrecht deutlich verschärft. Als einschlägige Fallgruppe kommt insbesondere die willkürliche Freiheitsbeschränkung ohne vorherige Durchführung eines rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Verfahrens in Betracht.
Die o.g. Form der Ausgangssperre, mit der in zahlreichen Fällen erfolgten Folge der sofortigen Tötung oder Verletzung durch Sicherheitskräfte bei Verlassen des Hauses, der Unmöglichkeit medizinische Hilfe für die Verwundeten und Kranken zu erhalten (beides erhebliche Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der durch die Vereinten Nationen 1949 erklärten Genfer Konventionen) ist als eine derartige Freiheitsberaubung zu betrachten. Dies gilt umso mehr, als die Ausgangssperren jeweils derart kurzfristig bekannt gegeben werden, dass das Einholen von Rechtsschutz verunmöglicht wird.
(5) § 7 Abs. 1 Nr. 9 eine identifizierbare Gruppe oder Gemeinschaft verfolgt, indem er ihr aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, aus Gründen des Geschlechts oder aus anderen nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts als unzulässig anerkannten Gründen grundlegende Menschenrechte entzieht oder diese wesentlich einschränkt
Voraussetzung für die Tatbestandserfüllung ist die Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft durch Entziehung oder wesentliche Einschränkung grundlegender Menschenrechte. Opfer der Verfolgung kann die Gruppe als solche sein, etwa wenn durch Gesetz oder Verordnung bestimmte Gruppen diskriminiert werden. Als mögliche Tathandlungen kommen jedoch auch solche Akte in Betracht, die sich gegen Einzelpersonen richten, wenn diese als Repräsentanten einer identifizierbaren Gruppe angegriffen werden. Um welche Art von Gruppen oder Gemeinschaften es sich handeln kann, ergibt sich aus den für das Täterhandeln vorausgesetzten Beweggründen. Das Gesetz nennt politische, rassische, nationale, ethnische, kulturelle und religiöse Gründe sowie Gründe des Geschlechts und andere nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts als unzulässig anerkannte Gründe. Anders als beim Völkermord ist für das Menschlichkeitsverbrechen der Verfolgung geklärt, dass es für die Strafbarkeit allein darauf ankommt, dass der Täter die von ihm angegriffene Gruppe als solche identifiziert bzw. dass er das Opfer einer bestimmten Gruppe zuordnet; eine Objektivierbarkeit der vom Täter vorgenommenen Gruppenbildung ist nicht erforderlich. Grundlegende Menschenrechte sind diejenigen unveräußerlichen Rechte, die etwa in den Artikeln 3, 4, 5 und 9 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt sind, insbesondere die Rechte auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf ein ordentliches Strafverfahren. Als Tathandlung kommt neben dem vollständigen Entzug eines grundlegenden Menschenrechts und seiner wesentlichen Einschränkung bereits die Anordnung derartiger Maßnahmen in Betracht. In den Verbrechenselementen zu Art. 7 Abs. 2 (g) IStGH-Statut wird klargestellt, dass bereits eine Tathandlung gegenüber einer einzelnen Person den Tatbestand erfüllen kann. Das Verfolgungsverbrechen erfasst nicht nur den förmlichen Entzug von Rechten gegenüber der Gruppe, etwa durch legislative Maßnahmen, die in Anknüpfung an die Gruppenidentität bestimmte Rechte entziehen. Die internationale Rechtsprechung hat klargestellt, dass das Verfolgungsverbrechen vielfältige Erscheinungsformen annehmen kann. Mögliche Tathandlungen sind alle Akte rechtlicher, physischer und auch ökonomischer Natur, die grundlegende Menschenrechte verletzen. Maßgeblich ist allein der objektiv rechtsbeeinträchtigende und diskriminierende Charakter der Verletzungshandlung.
Auch wenn die Angezeigten immer wieder behaupten, bekämpft werde lediglich die PKK und es handele sich um Maßnahmen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung, so ist angesichts aller bisherigen Erkenntnisse davon auszugehen, dass sich der Angriff auf die gesamte Bevölkerung bezieht. Mit derAussage
„wer Terrorist ist, bestimmen der Staat und die Sicherheitskräfte“
beschreibt Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch die Situation und die Systematik zutreffend – damit werden alle möglichen Handlungen spontan und willkürlich als gegen Terrorist_innen gerichtet bezeichnet, auch wenn die Terrorismusgefahr nicht stichhaltig belegt werden kann und es sich bei den Betroffenen eindeutig um Zivilist_innen handelt. Mit der Ausgangssperre werden grundlegende Rechte entzogen. Gleichzeitig können das Abspielen der Militärmärsche, die Bedrohungen, die Besetzung der Häuser und deren Verwüstung, die Sprüche an den Hauswänden und in den Häusern, von der Bevölkerung nicht anders verstanden werden, als das die gesamte kurdische Bevölkerung als Feind betrachtet wird. Dies muss umso mehr angesichts der Kontinuität in der Geschichte gelten (Siehe hierzu Teil A und Teil D)
II. Kriegsverbrechen nach § 8 VStGB
Gleichzeitig stellen die angeklagten Fälle Verstöße gegen § 8 Abs1., Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 9 Völkerstrafgesetzbuch dar. Auch von § 8 Völkerstrafgesetzbuch werden die einschlägigen Passagen hier wörtlich wiedergegeben.
§ 8 Kriegsverbrechen gegen Personen
(1) Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikt
1. eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person tötet,
2. ….
3. eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zufügt, insbesondere sie foltert oder verstümmelt,
4. …….
5. …….
6. …….
7. ………
8. ……………….
9. eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person in schwerwiegender Weise entwürdigend oder erniedrigend behandelt
(1) internationaler bzw. nicht-internationaler bewaffneter Konflikt
Dass es sich bei dem kurdisch-türkischen Konflikt um einen, seit Jahrzehnten, andauernden bewaffneten Konflikt handelt, ist unumstritten und im Übrigen unter.Teil D und oben unter Teil Aauch näher dargelegt.
(2) Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände
Hier kann hinsichtlich Nr. 1, Nr. 3 auf die obigen Ausführungen zu § 7 verwiesen werden.
Hinsichtlich § 8 Abs. 1 Nr. 9 ist auszuführen, dass dieser auch die Totenehre schützt, etwas gegen das seit Beginn der Ausgangssperren systematisch verstoßen wird, in dem das Bergen der Toten und die Beerdigung der Toten systematisch verhindert wird und Angehörige gezwungen werden, ihre Toten in Kühlschränken oder Kühllagern von Gemüsemärkten aufzubewahren.
III. § 11 Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung
Ebenso stellen die angeklagten Fälle Verstöße gegen § 11 Abs. 1., Nr. 1, Nr. 3, Nr. 5, i. V.m. § 11 Abs. 2 Völkerstrafgesetzbuch dar. Auch von § 11 Völkerstrafgesetzbuch werden die einschlägigen Passagen hier wörtlich wiedergegeben.
(1) Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikt
1. mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen richtet, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen,
2. …….
3. mit militärischen Mitteln einen Angriff durchführt und dabei als sicher erwartet, dass der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht,
4. ……
5. das Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsrührung einsetzt, indem er ihnen die für sie lebensnotwendigen Gegenstände vorenthält oder Hilfslieferungen unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht behindert,
6. ….
7. ….
wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. In minder schweren Fällen der Nummer 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.
(2) Verursacht der Täter durch eine Tat nach Absatz 1 NI‘. 1 bis 6 den Tod oder die schwere Verletzung einer Zivilperson (§ 226 des Strafgesetzbuches) oder einer nach dem humanitären Völkerrecht zu schützenden Person, wird er mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Führt der Täter den Tod vorsätzlich herbei, ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.
1. Allgemeines
§ 11 geht über die Regelungen des IStGH-Statuts, insoweit dies dem gesicherten Stand des geltenden Völkergewohnheitsrecht entspricht, teilweise hinaus und bezieht dabei verstärkt völkerrechtliche Vorschriften der beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen, aber auch des Zweiten Protokolls von 1999 zur Haager Kulturgutsschutzkonvention von 1954 ein. Dies wird insbesondere darin deutlich, dass der Gesetzgeber in § 11 – wie auch in §§ 8-10 – die Unterscheidung des IStGH-Statuts zwischen Kriegsverbrechen in internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten als grundlegendes Strukturprinzip für den Gesetzesaufbau im Wesentlichen aufgegeben und Delikte auch im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt unter Strafe gestellt hat, wo dies im IStGH-Statut nicht der Fall ist. Diese Entscheidung des deutschen Gesetzgebers entspricht der Tendenz, beide Konfliktarten rechtlich gleich zu behandeln.
2. Subsumtion unter die einzelnen Tatbestände
(1) § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB
Die Vorschrift erfasst nur Angriffe, die zielgerichtet gegen die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen durchgeführt werden. Angriffe, die gegen Kombattanten oder militärische Ziele geführt werden und dabei zivile Begleitschäden verursachen, sind von diesem Tatbestand nicht erfasst. Angriffe gegen militärische Ziele, die zu zivilen Begleitschäden fuhren, sind nach Abs. 1 Nr. 3 zu beurteilen und nur dann strafbewehrt, wenn damit zu rechnen ist, dass sie unverhältnismäßig sind.
Vorliegend ist von dieser Zielrichtung auszugehen. Menschen einer ganzen Stadt mit einer bereits als solche gegen das nationale Recht verstoßenden Ausgangssperre rund um die Uhr und mit einer Zeit von unter einer Stunde zwischen Bekanntgabe und Inkrafttreten, zu belegen, und anschließend die Stadt mit Panzern, anderen gepanzerten Fahrzeugen, Mörsergranaten, Haubitzen und weiteren schweren Waffen sowie Scharfschützen zu beschießen, einen großen Teil der Häuser, in denen sich Zivilist_innen (die Bewohner_innen der Stadt) aufhalten, mit militärischen Waffen zu zerstören und Zivilist_innen, die es wagen, nur einen Schritt vor ihr Haus (teilweise ihren eigenen Innenhof) zu machen, zu töten, stellt einen derartigern zielgerichteten Angriff auf die Zivilbevölkerung dar. Der Eindruck der Zielgerichtetheit wird noch dadurch verstärkt, dass die Zivilbevölkerung gleichzeitig von allen Grundbedürfnissen wie Wasser, Strom, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung abgeschnitten wurde.
(2) § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB
Der Tatbestand erfasst Angriffe, die gegen Kombattanten oder militärische Ziele gerichtet sind, und bei denen zu erwarten ist, dass unverhältnismäßige zivile Begleitschäden verursacht werden. Angriffe, die gegen Zivilpersonen oder zivile Objekte gerichtet sind, sind nur von Nr. 1 bzw. 2 erfasst. Unmittelbare Schädigungshandlungen können in diesen Fällen auch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn ein wichtiger militärischer Vorteil erwartet wird. Der Umstand, dass ein militärisches Ziel korrekt als solches identifiziert wurde und dieses Ziel das ausschließliche Objekt eines Angriffs ist, schließt nicht aus, dass Zivilpersonen oder zivile Ziele getroffen werden und zu Schaden kommen. Dies kann auf Grund verschiedener Gegebenheiten geschehen: Zum einen können sich Zivilpersonen in bzw. auf einem militärischen Ziel befinden (z. B. zivile Arbeiter in einer Rüstungsfabrik, auf einer Militärbasis, Zivilpersonen auf einer nur den militärischen Nachschub wichtigen Brücke). Zum zweiten können Zivilpersonen in der unmittelbaren Umgebung von militärischen Zielen wohnen oder sich zivile Objekte dort befinden, und dadurch den Nebeneffekten des Waffeneinsatzes ausgesetzt sein (z. B. Druckwelle einer Explosion). Schließlich können Zivilpersonen und zivile Objekte betroffen sein, wenn Waffen auf Grund von technischem Versagen, Wettereinflüssen, falschem Aufklärungsmaterial oder auch menschlichem Versagen bei der Waffensteuerung nicht das anvisierte Ziel treffen. Das humanitäre Völkerrecht erkennt an, dass derartige Dinge in einem bewaffneten Konflikt passieren können. Die geannten zivilen Begleitschäden sind aber nur dann völkerrechtswidrig und unter Umständen strafbar, wenn sie gegen den Verhältnismäßigkeitsprüfung verstoßen, wie er in Art. 51 Abs. 5 (b) des Zusatzprotokolls I und entsprechendem Völkergewohnheitsrecht zum Ausdruck kommt. Als zivile Begleitschäden sind die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte zu verstehen, die auch kumulativ eintreten können.
Zumindest diese Voraussetzungen liegen vorliegend für den Fall, dass es sich herausstellen sollte, dass es sich nicht um einen zielgerichteten Angriff gegen die Zivilbevölkerung nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB handelt, erkennbar vor.
(3) § 11 Abs. 1 Nr. 5 VStGB
Wie sich aus Art. 54 Abs. 2 des ersten Zusatzprotokolls ergibt, erfasst der Begriff des „Aushungerns“ jedenfalls das Vorenthalten von Nahrungsmitteln, einschließlich die Versorgung mit Trinkwasser. Die englische Wortbedeutung des Begriffs „starvation“, wie er sowohl im IStGB-Statut als auch im ersten Zusatzprotokoll verwendet wird, kann aber auch weiter verstanden werden und andere lebensnotwendige Gegenstände erfassen, wie Decken, Kleidung und ähnliches um sich vor Kälte zu schützen, oder auch Arzneimittel. „Starvation“ würde dann als „deprivation or insufficient supply of some essential crunodity, of something necessary to live“ verstanden. Bei der Aushandlung der Verbrechenselemente zum IStGB-Statut lag eher diese weite Auslegung zugrunde. Das relevante Verbrechensmerkmal spricht daher auch nur davon, dass der Täter Zivilist_innen lebensnotwendige Güter entzieht („deprived civilians of objects indispensable to their survival.“). In objektiver Hinsicht würde gegen das allgemeine Verbot des Aushungerns der Zivilbevölkerung generell auch dann verstoßen, wenn Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten, Trinkwasser und anderen lebensnotwendigen Versorgungsgütern zugunsten der Zivilbevölkerung in belagerten Städten verhindert werden. Diesen Gedanken bestätigt Art. 70 des ersten Zusatzprotokolls, der die Zulassung humanitärer Hilfsaktionen für die betroffene Zivilbevölkerung sogar ausdrücklich vorschreibt. Im Wege einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung sollte auch dieses Begriffsverständnis dem VStGB zugrunde gelegt werden. Der Tatbestand setzt voraus, dass Zivilpersonen ausgehungert werden. Die Regeln der Zusatzprotokolle und wohl auch die neuere Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts haben zu einer Neubeurteilung von Praktiken geführt, die lange Zeit als zulässig angesehen worden sind. So waren die gezielte Verwüstung besetzter Gebiete im Rahmen von Rückzugsoperationen sowie die Aushungerung der Bevölkerung bei der Belagerung feindlicher Städte als im Prinzip zulässig anerkannt worden. Heute ist im Lichte der jüngeren Völkerrechtsentwicklung eine andere Betrachtung angezeigt.
Die oben beschriebene Vorgehensweise der Verhängung der Ausgangssperre, verbunden mit der Abschaltung von Stromversorgung, Wasserversorgung, Lebensmittelversorgung und dem Vorenthalten medizinischer Versorgung ist genau unter diesen Begriff des Aushungerns zu fassen.
B. Ekin Van
Der Umgang mit der Leiche der Guerillakämpferin Ekin Van stellt ein Kriegsverbrechen gegen Personen gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB dar. Die Gefallene ist eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person. Das Recht auf Achtung der Gefallenen findet sich auch in Art. 34 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen.
C. Lokman Birlik
Auch der Umgang mit der Leiche des Guerillakämpfers Lokman Birlik stellt ein Kriegsverbrechen gegen Personen gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB dar. Der Gefallene ist eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person. Das Recht auf Achtung der Gefallenen findet sich auch in Art. 34 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen.
D. Ereignisse in den Kellern von Cizre
Hinsichtlich der Ereignisse in den Kellern von Cizre ist zunächst festzuhalten, dass auch diese im Rahmen des ausgedehnten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung erfolgt sind, der bereits oben dargestellt wurde.
Sowohl der Tod der Personen, die ihren Verletzungen wegen fehlender medizinischer Hilfe erlegen sind, als auch derjenigen, die durch das Einbrandsetzen der Keller oder den Beschuss ums Leben gekommen sind, stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 (soweit es sich um Zivilist_innen gehandelt hat) bzw. ein Kriegsverbrechen nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 (soweit nicht geklärt werden kann, ob es sich im Einzelfall um Zivilist_innen gehandelt hat oder um andere nach dem Kriegsvölkerrecht zu schützende Personen).
Bei all den Verwundeten, die auch ihre Namen bekanntgegeben haben und um Hilfe gebeten haben, handelt es sich um vom Kriegsvölkerrecht zu schützende Personen.
E. Refik Tekin
Diese oben im 9. Teil geschilderten Vorgänge stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB dar sowie, soweit Menschen getötet worden sind, auch nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 und § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB.

3. Teil Verantwortlichkeit der Beschuldigten
Generelle Grundlagen
Die Beschuldigten haben als militärische Befehlshaber oder zivile Vorgesetzte eine Verantwortlichkeit gemäß § 4 VStGB für die oben geschilderten Taten ihrer Untergebenen.
Die generelle Verantwortlichkeit ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und hat auch in verschiedenen internationalen Pakten eine rechtliche Normierung gefunden.
Dazu gehört Art. 28 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Er verpflichtet die Vorgesetzten zu ordnungsgemäßer Kontrolle der Untergebenen und zum Ergreifen erforderlicher Maßnahmen nach Kenntnis von durch die Truppe begangenen Verbrechen. Art. 86 Abs. 2 des Zusatzprotokolls I zum Genfer Abkommen begründet eine Vorgesetztenverantwortung, „wenn sie wussten oder unter den gegebenen Umständen auf Grund der ihnen vorliegenden Informationen darauf schließen konnten, dass der Untergebene eine solche Verletzung beging oder begehen würde, und wenn sie nicht alle in ihrer Macht stehenden, praktisch möglichen Maßnahmen getroffen haben, um die Verletzung zu verhindern oder zu ahnden“.
Zivile und militärische Verantwortliche trifft also eine „Hinderungspflicht“, wie es auch der ständigen Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien (ICTY) entspricht.
Für Regierungsmitglieder als zivile Verantwortliche kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte 2005 in einer Resolution festgestellt, dass die „Verantwortung zum Schutz ihrer Bevölkerung vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zuvorderst den Regierungen der Mitgliedsstaaten obliegt.
Dieser Beschluss, der zwar keine bindende Wirkung hat, aber völkergewohnheitsrechtliche Qualität, war zuletzt bekräftigt worden durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Erklärung gegenüber dem Vorgehen der libyschen Staatsführung gegen Aufständische innerhalb des eigenen Staatsgebietes. Kritisiert wurde die libysche Führung, weil diese ihre Schutzverantwortung („responsibility to protect“) gegenüber der eigenen Bevölkerung durch gezielte Militäraktionen – unterschiedslos gegenüber Zivilisten und bewaffneten Kämpfern – verletzt hatte (vgl. FAZ vom 24.2.2011). Mit der Resolution 1973/2011 verurteilte der Sicherheitsrat später dieses Regierungshandeln und sanktionierte es als Verletzung von Frieden und Sicherheit. Zu den getroffenen Maßnahmen gehörte neben der Errichtung einer Flugverbotszone und anderen Maßnahmen auch die Beauftragung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das internationale Strafrecht durch führende libysche Repräsentanten. Dies führte bekanntlich zur Ausstellung internationaler Haftbefehle.
4. Teil Individuelle Verantwortlichkeit
Der Beschuldigte Erdoğan ist seit dem 28. August 2014 Präsident der Republik Türkei und war zuvor seit dem 12. März 2003 Ministerpräsident der Republik Türkei. In dieser Zeit war er für die gesamte Regierungstätigkeit verantwortlich, auch für alle Aspekte der Militärpolitik. In dieser staatlichen Funktion ist er ziviler Vorgesetzter mit Anordnungsgewalt (vgl. allgemein MüKo, § 13 VStGB Anm. 10) und einem militärischen Befehlshaber im völkerstrafrechtlichen Sinne vergleichbar. Als Präsident der Türkei kann er u.a. im Namen des Parlaments den („stellvertretenden“) Oberbefehl über die Streitkräfte des Landes ausüben, entscheidet er (begrenzt) über den Einsatz der türkischen Streitkräfte, ernennt er den Generalstabschef, kann den Nationalen Sicherheitsrat einberufen und hat den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrates.
Darüber hinaus geht man schließlich selbst in Deutschland mittlerweile davon aus, dass, obwohl die von Erdoğan für die Einführung eines Präsidialsystems angestrebte Verfassungsänderung bisher noch nicht erfolgt ist, faktisch nicht mehr gegen Erdoğan regiert werden kann. Davon geht auch Erdoğan selbst aus. So sagte er im August 2014, nach seiner Wahl: „Im Land gibt es keinen symbolischen Präsidenten mehr, sondern einen mit tatsächlicher Macht.“ und „Dieser faktischen Situation muss man mit der Verfassung eine endgültige Form geben“, so Erdoğan.
Dieser Machtanspruch und seine faktische Macht zeigt sich vielfältig.
So leitete er am 18. Januar 2016 die Sitzung des türkischen Kabinetts und setzte damit ein Zeichen. Seit 14 Jahren hatte kein Staatspräsident mehr diese Aufgabe übernommen. Erdoğan unterstrich damit seinen Anspruch, das Land selbst zu regieren – ohne jeden Spielraum für den nur nominellen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Es ist normalerweise dessen Aufgabe, das Kabinett zu führen. Die türkische Verfassung gibt zwar dem Staatspräsidenten das Recht, diese Rolle zu übernehmen, gedacht ist es jedoch als Ausnahme für außerordentliche Krisensituationen.
Die faktische Macht zeigt sich auch daran, dass der Beschuldigte Davutoğlu auf Erdoğan`s Druck zurücktreten musste und überall offen thematisiert wurde, dass sein Nachfolger Binali Yildirim eigentlich nur ein Erfüllungsgehilfe Erdoğans ist. Im Spiegel heißt es dazu :
„Wer in der Türkei als Politiker Karriere machen will, muss Recep Tayip Erdoğan treu zu Diensten sein, muss sein Sprachrohr sein, darf ihm nicht widersprechen und ihn nicht kritisieren. Dann ist es selbst nach einem Fall möglich, wieder aufzusteigen. Der künftige türkische Regierungschef Binali Yildirim ist dafür das beste Beispiel.
Und in der Süddeutschen heißt es .
„Es ist ein merkwürdiger Job, den Binali Yildirim übernehmen soll. Die türkische Regierungspartei AKP hat den 60-jährigen Verkehrsminister für ihren Vorsitz und damit auch als neuen Regierungschef nominiert – eigentlich mächtige Ämter, auf dem Papier zumindest. In Wirklichkeit ist die Bedeutung der Posten immer mehr zusammengeschrumpft, seit der frühere Ministerpräsident Recep Tayip Erdoğan 2014 zum Staatschef gewählt wurde. Er ist der starke Mann in der Türkei, die Regierung solle vor allem „kooperieren“, wie es in AKP-Kreisen so schön heißt. Anders ausgedrückt: Yildirim soll sich unterordnen.
Und nicht nur das. Erwartet wird außerdem, dass Yildirim aktiv an seiner eigenen Entmachtung mitwirkt, indem er den von Erdoğan ersehnten Wechsel zu einem Präsidialsystem vorantreibt. Dann läge die Entscheidungsgewalt auch formal beim Präsidenten, der Regierungschef wäre nur noch Erfüllungsgehilfe.“
Auch die erste Kabinettsitzung nach der Ernennung Yildirims zum Ministerpräsidenten leitete Erdogan und machte gleich deutlich, dies auch in Zukunft einmal im Monat tun zu wollen .

Der Beschuldigte Davutoğlu war seit dem 27. August 2014 bis zum 22. Mai 2016 Ministerpräsident der Republik Türkei. Als Regierungschef ist er für die gesamte Regierungstätigkeit verantwortlich, auch für alle Aspekte der Militärpolitik. In dieser staatlichen Funktion ist er ziviler Vorgesetzter mit Anordnungsgewalt (vgl. allgemein: MüKo § 13 VStGB Anm. 10) und mit einem militärischen Befehlshaber im völkerstrafrechtlichen Sinne vergleichbar.

Der Beschuldigte Yilmaz war vom 06. Juli 2011 bis zum 28. August 2015 und vom 24. November 2015 bis zum 22. Mai 2016 türkischer Verteidigungsminister, in der Zeit vom 28. August 2015 bis zum 24. November war Verteidigungsminister der Beschuldigte Gönül, in dieser Zeit war der Beschuldigte Yilmaz Parlamentspräsident. Dem Verteidigungsminister obliegt als Regierungsmitglied die Verantwortung für alle das Militär betreffende Fragen und auch für die Grundlinien der militärischen Operationen. Zu ihren generellen Aufgaben gehört ebenso die Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass sich alle Militärangehörigen im Rahmen der Gesetze und des Kriegsvölkerrechts bewegen. Dazu haben sie entsprechende Weisungen zu erlassen und sicherzustellen und zu kontrollieren, dass diese im militärischen Apparat umgesetzt werden.
Der Beschuldigte Efkan Ala ist seit dem 25. Dezember Innenminister der Republik Türkei. Dem Innenminister unterstehen die Polizei, die Jandarma, die türkische Küstenwache (Sahil Güvenlik Komutanlığı), die Provinzverwaltungen und die nachgeordneten Verwaltungen (İlçe und Bucak). Er ernennt sowohl den Gouverneur als auch den sog. Kaymakan.
Der Beschuldigte Hulusi Aker war in der Zeit der angezeigten Straftaten Generalstabschefs der türkischen Armee und stand damit an der Spitze der militärischen Hierarchie und der sich aus der Funktion ergebenden Befehlskette und völkerstrafrechtlichen Verantwortung.
Gemäß Art. 117 der türkischen Verfassung wird der Generalstabschef auf Vorschlag des Ministerrats vom Präsidenten der Republik ernannt, seine Aufgaben und Kompetenzen werden durch Gesetz geregelt. Er ist wegen dieser Aufgaben und Kompetenzen dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich.
Zwischen dem Ministerpräsidenten, dem Verteidigungsminister, dem Innenminister und dem Generalstabschef finden – auch unter Einbeziehung weiterer Funktionsträger – regelmäßige Konsultationen zur Festlegung und Auswertung der militärischen Aktivitäten in den kurdischen Gebieten der Türkei statt. Wichtigster Ort ist dabei der Nationale Sicherheitsrat, außerdem gibt es andere Institutionen oder Gespräche im informellen Kreis.
Bei den Beschuldigten Gouverneuren Ali Ihsan Su und Ahmet Adamur handelt es sich um den für Şırnak zuständigen Gouverneur bzw. den Kaymakan von Cizre. Der Beschuldigte Ali Ihsan Su hat die hier in Rede stehenden Ausgangssperren in Cizre ausgerufen.
Bei den übrigen Beschuldigten handelt es sich um Angehörige des Militärs- bzw. der Polizei, bei denen es sich um militärische Befehlshaber im völkerstrafrechtlichen Sinne handelt.
5. Teil Kenntnis und Vorsatz
Alle zivilen und militärischen Beschuldigten hatten Kenntnis von der generellen und langjährigen Praxis ihrer Untergebenen, von der die angezeigten Fälle nur ein kleiner Ausschnitt sind. Diese Kenntnis beruht auf internen Berichten der Regierung und des Militärs sowie auf Medienberichten.
Die Beschuldigten haben die generelle völkerstrafrechtsrelevante Vorgehensweise der Armee angeordnet, gebilligt und öffentlich und intern gerechtfertigt.
Dies verdeutlichen beispielhaft folgende Zitate:
So rechtfertigte der Beschuldigte Davutoğlu die Ausgangssperren. Diese seien zum Schutz der Zivilisten erforderlich. Wenn erforderlich, würden „die Städte Haus für Haus von Terroristen gereinigt“ .
Der Beschuldigte Ala erklärte am 11. Februar 2016 den Einsatz der türkischen Armee in Cizre für beendet, erklärte sie sei „sehr erfolgreich“ gewesen, die Ausgangssperre bleibe weiter bestehen.
Der Beschuldigte Erdoğan :

„Der türkische Präsident Recep Tayip Erdoğan hat vorgeschlagen, Unterstützern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) die türkische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. „Wir müssen alle Maßnahmen treffen, dazu gehört, Unterstützer terroristischer Organisationen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen“, sagte Erdoğan auf einem Anwaltstreffen in der Hauptstadt Ankara. „Sie können nicht unsere Bürger sein.“
Zur Neujahrsansprache 2016 heißt es :

„In seiner Neujahrsansprache machte Erdoğan das Ausmaß deutlich, das der Konflikt wieder angenommen hat: Im vergangenen Jahr seien 3100 „Terroristen“ und 200 Sicherheitskräfte getötet worden, sagte er. Angaben zur Zahl getöteter Zivilisten machte er nicht. Die PKK werde „bis zum Ende“ bekämpft, kündigte der islamisch-konservative Staatspräsident an. „Unsere Sicherheitskräfte säubern sowohl die Berge als auch die Städte Meter um Meter von den Terroristen.““
Der Beschuldigte Ali Ihsan Su erklärte nach der Ausgangssperre im September in Cizre, das Militär habe seinen Einsatz „erfolgreich“ beendet.
Die Beschuldigten haben auch vorsätzlich gehandelt.
Wie dargelegt haben sie in Kenntnis der Praxis der Armee und der Polizei gehandelt oder selbst öffentlich zu Sanktionen aufgerufen oder direkte Befehle gegeben und damit zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt.
Schließlich macht folgendes unmissverständlich deutlich, dass die Verantwortlichen wissen, wie von Seiten der Sicherheitskräfte agiert wird und versuchen, eine unabhängige Aufklärung dessen zu verhindern. Nicht anders kann folgende Meldung aus der Zeit vom 11.06.2016 verstanden werden. Dort heißt es :

„(….). Ein weiterer Passus der Gesetzesvorlage aber könnte unabsehbare Folgen für den ohnehin geschwächten Rechtsstaat haben. Er sieht vor, dass Militärangehörige im Kontext des Anti-Terror-Kampfes vor einer unabhängigen Strafverfolgung geschützt werden. Auch soll die Justiz gegen Kommandeure und den Generalstabschef nur noch mit Einverständnis des Ministerpräsidenten ermitteln, sie festnehmen oder gar anklagen dürfen. Selbst für die strafrechtliche Verfolgung einfacher Soldaten bedarf es zukünftig der Zustimmung der jeweiligen von der Zentralregierung direkt eingesetzten Distriktverwaltung. Zivile Gerichte sollen bei der Verurteilung von Armeeangehörigen keine Rolle mehr spielen. Das neue Gesetz würde damit vor allem die Ahndung möglicher Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte in den umkämpften Städten im Südosten massiv erschweren.“
6. Teil Allgemeine Zuständigkeit/Ermittlungsansätze in der Bundesrepublik Deutschland und Fehlen einer primären Gerichtsbarkeit
Die allgemeine Zuständigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden ergibt sich für die angezeigten Straftaten aus § 1 VStGB.
Die Taten sind als Verbrechen gemäß § 5 VStGB unverjährt.
Zuständig nach dem Völkerstrafgesetzbuch ist die Generalbundesanwaltschaft.
Für die Nichtaufnahme von Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 153f StPO ist aus den nachfolgenden Gründen kein Raum.
A. Allgemeine Ausführungen zu § 153f StPO
Bevor dabei konkret auf den vorliegenden Fall eingegangen wird, sollen dabei zunächst einige allgemeine Ausführungen gemacht werden.
Es wird keinesfalls verkannt, dass im Bereich des Völkerstrafrechts für sog. Drittstaaten, grundsätzlich insofern eine doppelte Subsidiarität besteht, als dass die Gerichtsbarkeiten im System völkerrechtlicher Strafrechtspflege in einer dreistufigen Zuständigkeitshierarchie angeordnet sind.
An erster Stelle sind die tatnahen Staaten – Tatortstaat und Heimatstaat des Täters – zur Strafverfolgung berechtigt. Kommen diese ihrer völkerrechtlichen erga-omnes-Strafpflicht nicht (ausreichend) nach, kann an zweiter Stelle ein internationales Strafgericht – namentlich der Internationale Strafgerichtshof – eingreifen und die Strafverfolgung selbst übernehmen. Fällt die internationale Ebene mangels Gerichtsbarkeit oder ressourcenbedingt aus, sind zuletzt die von den Verbrechen nicht unmittelbar betroffenen Drittstaaten zur Strafverfolgung berufen.
Aus verschiedenen Gründen kann dennoch die Zuständigkeit der Generalbundesanwaltschaft gegeben sein.
Zunächst ist zu berücksichtigen, dass sich aus § 1 VStGB im Zusammenspiel mit § 153f StPO ergibt, dass der deutsche Gesetzgeber die internationale Zuständigkeit Deutschlands zur Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen grundsätzlich und uneingeschränkt als gegeben ansieht: Zwar kann insbesondere von einer Strafverfolgung in Deutschland abgesehen werden, wenn die deutsche Strafgerichtsbarkeit ausschließlich auf dem Universalitätsgrundsatz beruht und die Tat bereits anderweitig – durch einen tatortnahen Staat oder ein internationales Strafgericht – verfolgt wird. Verpflichtend ist das Absehen von der inländischen Strafverfolgung jedoch nicht. Damit hat der Generalbundesanwalt zwar die Möglichkeit, anderen Gerichtsbarkeiten den Vorrang bei der Strafverfolgung einzuräumen, rechtliche verbindlich wurden die völkerrechtlichen Kollisionsregelungen zur Auflösung von Jurisdiktionskonflikten jedoch nicht umgesetzt. Daraus ergibt sich eine völkerstrafrechtliche Parallel- und Allzuständigkeit deutscher Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.
Dennoch wird der völkerrechtliche Subsidiaritätsgrundsatz, der den tatnahen Staaten das Recht des primären Zugriffs zuschreibt, nicht verkannt.
Deshalb ist auch nachvollziehbar, dass in der bisherigen Praxis die Strafverfolgung in erster Linie dann aufgenommen wird, wenn sich eine eines Välkerrechtsverbrechens verdächtige Person dauerhaft im Inland aufhält. Auch der nur vorübergehende Aufenthalt eines Verdächtigen in Deutschland führt zur Einleitung eines Verfahrens, die Erfolgsaussichten weitergehender Ermittlungen werden jedoch äußerst gering eingeschätzt, da die Beweislage – Zeugen vom Hörensagen, Medienmeldungen, Berichte von Nichtregierungsorganisationen – in diesen Fällen für einen Haftbefehl in der Regel nicht ausreicht.
Darüber hinaus kommt Julia Geneuss in ihrer Disseration zu dem Ergebnis, dass ein Ermittlungsverfahren auch dann regelmäßig eingeleitet wird, wenn ein sonstiger Anknüpfungspunkt zu Deutschland besteht. Ein solcher Anknüpfungspunkt kann sich ergeben entweder aus der deutschen Staatsangehörigkeit des Opfers ergeben oder aber, wenn in Deutschland Beweismittel gesichert werden können. In letzterem Fall dient das Verfahren ausschließlich der Beweissicherung. Je nach Sachverhaltskonstellation können die gesicherten Beweise später für eine eigene Strafverfolgung genutzt werden oder aber sie werden an ausländische Strafverfolgungsbehörden oder ein internationales Strafgericht weitergegeben (antizipierte Beweissicherung).
Für den Fall, dass hinsichtlich einer Konfliktsituation Beweismittel im Inland zugänglich sind, in den meisten Fällen wird es sich dabei um Zeugenaussagen handeln, wird in einem zweiten Schritt zur förmlichen Beweissicherung mit den nach der Strafprozessordnung zur Verfügung stehenden prozessualen Maßnahmen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei handelt es sich um ein Strukturermittlungsverfahren, das sich nicht gegen einen bestimmten Beschuldigten richtet, sonden gegen Unbekannt geführt wird. Gegenstand des Verfahrens ist damit auch nicht eine bestimmte prozessuale Tat, sondern der völkerstrafrechtsrelevante Gesamtkomplex an sich. Sofern eine Person, gegen die sich im Laufe der Ermittlungen ein täterbezogener Verdacht verdichtet hat, nach Deutschland einreist wird schließlich ein einem dritten Schritt im Rahmen eines neues Verfahrens die individualisierte Strafverfolgung eingeleitet.
Ein Strukturermittlungsverfahren findet gegenwärtig zudem im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen in Syrien statt. Anders als das Verfahren gegen Gaddafi wird das Verfahren gegen Unbekannt geführt, auch ist es nicht an eine förmliches Ermittlungsverfahren beim Internationalen Strafgerichtshof gekoppelt. Das Verfahren wird zum Zweck der Beweissicherung, insbesondere der Aufnahme von Zeugenaussagen, geführt.
Ähnliche Verfahren finden zudem im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Sri-Lanka statt.
Ein weiterer Punkt, den es zu beachten gilt, ist schließlich, ob das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung oder zumindest an der Durchführung eines Strukturermittlungsverfahrens zu bejahen ist.
Dabei bezieht sich das öffentliche Strafverfolgungsinteresse grundsätzlich auf diejenige Rechtsgemeinschaft, deren Strafanspruch es durchzusetzen gilt. Im gewöhnlichen strafrechtlichen Kontex handelt es sich dabei um die innerstaatliche Rechtsgemeinschaft. Im völkerstrafrechtlichen Kontext gilt jedoch etwas anderes. Die völkerrechtlichen Straftatbestände sind Ausfluss einer überstaatlichen Strafbefugnis, durch ihre Verletzung entsteht ein Strafanspruch der internationalen Gemeinschaft. Die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen liegt damit immer (auch) im überstaatlichen Interesse der internationalen Gemeinschaft. Dies gilt insbesondere für die Strafverfolgung durch Drittstaaten, die selbständig handelnd, stellvertretend für die internationale Gemeinschaft, ein fremdes Interesse wahrnehmen.
Somit ist das in die im Rahmen der Ermessenentscheidung nach § 153f StPO erfolgende Interessenabwägung einzustellende Strafverfolgungsinteresse –zunächst– das der internationalen Gemeinschaft. Während diese ein Interesse an einer möglichst lückenlosen Realisierung ihres Strafanspruchs hat, geht es im vorliegenden Kontext jedoch nur um den Aspekt des gemeinschaftlichen Interesses an einer Strafverfolgung in Deutschland.
Dabei kommt Geneuss nach einer Analyse der Ermittlungs- und Strafverfolgungsentscheidungen des IstGH-Anklägers zu folgenden Rückschlüssen hinsichtlich der Ausübung des Verfolgungsermessens durch den Generalbundesanwalt.

„Angelehnt an die Regelungen des IstGH-Statuts besteht im Ergebnis eine Vermutung, das die Internationale Gemeinschaft ein Interesse an der Realisierung ihres Strafanspruches hat. Dabei wird das Gewicht des Strafverfolgungsinteresses primär durch die Faktoren Schwere der Tat und individueller Verantwortung des Tatverdächtigen geformt. In bestimmten Fallkonstellationen kann das Strafverfolgungsinteresse allerdings kompensiert bzw, durch andere Interessen überwogen werden.
In Deutschland wird man sich grundsätzlich an diese Vorgaben halten können, um den Inhalt des allgemeinen Strafverfolgungsinteresses der internationalen Gemeinschaft zu präzisieren und zu quantifizieren. Das bedeutet: in der Regel wird man davon ausgehen können, dass das Strafverfolgungsinteresse der internationalen Gemeinschaft besteht und als gewichtig eingestuft werden kann, wenn beim Gerichtshof ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.
Insofern bietet es sich in solchen Fällen an, parallele Ermittlungen aufzunehmen, um zur Aufklärung dieser Konfliktsituationen beizutragen. Eine solche Situation ist vorliegend derzeit nicht gegeben.
Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass der Internationale Strafgerichtshof in seiner Gerichtsbarkeit beschränkt ist. Dies gilt in erster Linie ratione loci gemäß Art. 12(2) IstGH-Statut. In diesem Fallkonstellationen besitzen die Staaten die exklusive Gerichtsbarkeit über die betreffenden völkerstrafrechtsrelevanten Sachverhalte.
Übernehmen die tatnahen Staaten die strafrechtliche Ermittlung in den Fällen, in denen der Internationale Strafgerichtshof als Strafverfolgungsinstanz ausfällt, nicht selbst, kommt den Drittstaaten, damit auch Deutschland, eine besondere Verantwortung zum Eingreifen zu, da die Angriffe auf die Gemeinschaftsinteressen ansonsten straflos blieben.“

Dass dies vorliegend der Fall ist, wird unten weiter ausgeführt werden.
In solchen Fällen, besteht bei Anwesenheit des Tatverdächtigen in der BRD grundsätzlich das Legalitätsprinzip.
Daraus kann aber nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass die Abwesenheit des Tatverdächtigen – wie auch sonst das Fehlen eines Inlandsbezuges – gegen eine Strafverfolgung in Deutschland spricht.
Der Gesetzeszweck des § 1 VStGB beschränkt sich ausweislich der Gesetzesbegründung gerade nicht auf die restriktive „no save haven“ policy. Vielmehr hat sich der deutsche Gesetzgeber ausdrücklich für die progressive Variante der Weltrechtspflege entschieden.
Ein weiterer Punkt ist die Frage, inwieweit das Argument eines wenig wahrscheinlichen Ermittlungserfolges gegen eine Strafverfolgung in Deutschland ins Feld geführt werden kann.
Hier ist zunächst fraglich, ob die klassische Interpretation von „Ermittlungserfolg“ auch im völkerstrafrechtlichen Kontext und damit bei der Abwägung im Rahmen des § 153f StPO seine Berechtigung hat. Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen ist die Gesetzesbegründung zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs. Dort heißt es.

„Dass es vorrangig darum geht, die Straflosigkeit der Täter völkerrechtlicher Verbrechen durch internationale Solidarität bei der Strafverfolgung zu verhindern, beschränkt sich die Ermittlungs- und Verfolgungspflicht nicht auf Taten, die einen Anknüpfungspunkt zu Deutschland aufweisen; auch wenn ein solcher nicht besteht, können sich die Ergebnisse der zunächst in Deutschland aufgenommenen Ermittlungen für ein im Ausland oder vor dem internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahren als wertvoll erweisen.“
Als Folge dieses Ansatzes der antizipierten Beweissicherung verschiebt sich bei völkerstrafrechtsrelevanten Sachverhalten die Definition des „Ermittlungserfolgs“, darauf basierend die Bestimmung der Aufwand-Erfolgs-Relation und damit auch die Gewichtung der justizökonomischen Interessen. Unmittelbares Ziel des in Deutschland geführten völkerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist weiterhin die Sachverhaltserforschung und Beweissicherung. Das (Fern-)Ziel der Durchführung eines – sich bei gewöhnlichen Strafsachen dem Ermittlungsverfahren in der Regel mehr oder weniger unmittelbar anschließenden – inländisch-strafrechlichen Haupfverfahrens wird jedoch ersetzt durch ein möglicherweise erst etliche Zeit später durchgeführtes völkerstrafrechtliches Hauptverfahren vor einem inländischen, ausländischen oder internationalen Gericht.
Für die im Rahmen der Feststellung der justizökonomischen Interessen anzustellende Aufwand-Erfolgs-Relation ergibt sich daraus Folgendes: Steht den deutschen Strafverfolgungsbehörden eine direkte Zugangsmöglichkeit zu wichtigen Beweismitteln offen, beispielsweise weil sich eine größere Gruppe von oder besonders wichtige Zeugen im Inland aufhalten bzw. zur Aussage vor deutschen Strafverfolgungsbehörden bereit sind oder sonstige Beweismittel durch Inlandsermittlungen gesichert werden können, wird der Aufwand der für die Beweissicherung nötig ist, in Relation zum Erfolg der durch die Ermittlungsmaßnahmen erzielt werden kann, eher gering sein.
Schließlich soll noch auf das der letzten gegen Erdogan und weitere verantwortliche erfolgten Strafanzeige von der Generalbundesanwalt engegengehaltene Argument des forum shoppings eingegangen werden.
Dabei wird dem Bemühen der Anzeigeerstatter um Strafverfolgung in der Abwägungsentscheidung eine gegen die Strafverfolgung in Deutschland sprechende Wirkung beigemessen
Dieser Ansatz ist abzulehen und auch Geneuss kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Ansatz höchst fragwürdig ist. Sie führt aus:
„Es kann Opfern völkerrechtlicher Verbrechen kaum der Vorwurf gemacht werden, eine vom deutschen Gesetzgeber bewusst geschaffene rechtliche Möglichkeit der Strafverfolgung „auszunutzen“. Hinter einer Strafanzeige der Opfer steht in erster Linie der Wunsch nach Aufklärung und Anerkennung des an ihnen begangenen Unrechts. Das diese dabei- durchaus nachvollziehbar – auch die Möglichkeit nutzen, einen Drittstaat anzurufen und zur Strafverfolgung anzuhalten, kann im Rahmen der Abwägungsentscheidung nicht negativ berücksichtigt werden.
Dabei ist unbestritten, dass die Strafverfolgung in einem Drittstaat nicht der Idealfall ist. Auch von Opfern völkerrechtlicher Verbrechen wird eine – effektive und ernstgemeinte – Strafverfolgung im Tatortstaat und damit in der betroffenen Gesellschaft bevorzugt werden. Kommt dieser seiner erga-omnes-Strafpflicht jedoch nicht nach, sind die Verletzten darauf angewiesen, dass sich ein internationaler Gerichtshof oder ein Drittstaat der Verfolgung annimmt. Dieser Gedanke liegt der universellen Jurisdiktion zu Grunde und hierauf beruft sich der deutsche Gesetzgeber, wenn er die Bekämpfung der Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechen als Ziel des § 1 VStGB benennt.
Es wäre widersprüchlich, einerseits den durch die Natur der Verbrechen legitimierten unbedingten Weltrechtsgrundsatz zu implementieren, andererseits aber das Vorgehen der Opfer zu diskreditieren, die den ihnen so eröffneten Zugang zum Recht nutzen und von der Möglichkeit der Stellung einer Strafanzeige Gebrauch machen.
Bei genauer Betrachtung ergibt sich, dass der eigentliche Hintergrund der „forum shopping“- Diskussion auch weniger der Vorwurf eines missbräuchlichen Verhaltens der Anzeigeerstatter ist, , als vielmehr die Sorge um die Überlastung der deutschen Justitz. Dieser Aspekt ist jedoch bereits im Rahmen der justizökonomischen Erwägungen in den Abwägungsprozeß eingestellt. Zudem ist die befürchtete Flut von Anzeigen weniger auf missbräuchliches Verhalten der Anzeigeerstatter zurückzuführen, als vielmehr auf den Umstand, dass bisher nur wenige Staaten den Weltrechtsgrundsatz in ihre nationale Strafrechtsordnungen implementiert haben.“
B. Konkrete Ausführungen zu dem hiesigen Fall
Nach alledem ergibt sich für den hiesigen Fall, dass es ermessensfehlerhaft wäre, hinsichtlich des angezeigten Sachverhalts unter Berufung auf § 153f StPO keinerlei Ermittlungen, nicht einmal in Form einer antizipierten Beweisaufnahme durchzuführen.
I. Inlandsbezug
Deutschland stellt im vorliegenden Fall völkerstrafrechlich einen sog. Drittstaat dar. Hinsichtlich eines Deutschlandsbezuges stellt sich die Situation vorliegend wie folgt dar.
Ein – vorübergehender – Inlandsaufenthalt der Beschuldigten ist bereits gegeben gewesen und in Zukunft möglich.
Der Beschuldigte Erdoğan ist Präsident der Türkei. Er hat sich in der Vergangenheit bereits häufig in der Bundesrepublik aufgehalten, etwa zu Konsultationen mit der Bundesregierung in Berlin, auf der Hannover Messe, um Auszeichnungen entgegenzunehmen oder um in Veranstaltungen zu in Deutschland lebenden Türken zu sprechen, insbesondere auch auf Wahlkampfveranstaltungen der AKP.
Die Beschuldigten Efkan Ala, Ismet Yilmaz und Mehmet Vecdi Gönül sind bzw. waren Verteidigungsminister bzw. Innenminister der Türkei. Die übrigen Beschuldigten sind hochrangige Angehörige der türkischen Armee bzw. der Polizei.
Ein Inlandsaufenthalt ist bei folgenden Gelegenheit erfolgt oder zu erwarten: Bei bilateralen militärpolitischen Begegnungen auf Ministerebene oder bei Zusammenkünften im Rahmen der NATO in der BRD. Bei Gesprächen mit dem Generalinspekteur und der Führung der Bundeswehr. Bei der Besichtigung von deutschen Waffenfirmen und den Verhandlung über den Abschluss von Rüstungslieferungen. Darüber hinaus bei Vorträgen oder der Teilnahme an Kursen auf der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg oder bei der Teilnahme an der alljährlichen Internationalen Sicherheitskonferenz in München.
Hinzu kommt, dass erst am 26. Februar 2016 die deutsche und die türkische Regierung in Ankara eine bessere Zusammenarbeit im Rahmen der Bekämpfung des IS, der PKK und der DHKPC vereinbart haben, dass insbesondere auch gemeinsame Workshops vorsieht, so dass es hier insbesondere zu erwarten ist, dass sich die in der hiesigen Strafanzeige namentlich benannten Beschuldigten oder aber auch andere ggf. bisher namentlich nicht bekannte Beteiligte der Sicherheitskräfte auch in diesem Rahmen in Deutschland aufhalten.
Dass die Beschuldigten auch zu privaten Besuchen nach Deutschland kommen oder das Land auf der Durchreise passieren, ist möglich.
Ein Deutschlandbezug in dem Sinne, dass einer der Täter Deutscher ist oder sich einer der Täter dauerhaft in Deutschland aufhält, ist, zumindest nach hiesigen derzeitigen Erkenntnissen, nicht der Fall.
Ein Deutschlandbezug besteht jedoch über die Opfer. So hat, wie oben ausgeführt (Siehe Teil B, 4. Teil B II) das Auswärtige Amt den Deutschlandbezug für den Tod von Frau Berjin Demirkaya aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit ihres Bruder, der sich über seinen Anwalt an das Auswärtige Amt gewandt hatte, bereits bejaht.
Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass dieser Deutschlandbezug nicht dazu führt, dass vorliegend das Legalitätsprinzip gilt, sondern man die Ansicht vertritt, dass grundsätzlich, so lange sich keiner der Täter im Inland tatsächlich aufhält, es bei einer Ermessensentscheidung der Generalbundesanwaltschaft bleibt, sind nach dem oben Gesagten, folgende Gesichtspunkte in das Ermessen einzustellen.
II. keine anderweitige Gerichtsbarkeit
Es handelt sich um einen Fall, in dem Deutschland zwar Drittstaat ist, aber derzeit keine Srafverfolgung an einem anderen Ort zu erwarten ist.
Gegen die angezeigten Beschuldigten ist vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dessen Statut die Türkei im Übrigen nicht unterzeichnet hat, kein Verfahren anhängig. Auch eine andere internationale Strafverfolgung – etwa im Rahmen von Art. 13b des Statuts des IStGH – ist nicht zu erwarten.
Der UNO-Sicherheitsrat kann auch die Verfolgung von Verbrechen anordnen, die auf dem Gebiet von Nicht-Vertragsstaaten durch Angehörige von Nicht-Vertragsstaaten begangen wurden (Art. 13 lit.b Römer Statut).
In der Türkei selbst sind Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die Angezeigten durch die ordentliche Strafgerichtsbarkeit oder durch militärgerichtliche Verfahren ebenfalls nicht zu erwarten.
Bis zum Jahr 2002 war die offensichtliche Nichtverfolgung von angezeigten Menschenrechtsverletzungen im Land durch türkische Justizorgane der Grund dafür, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung der Zulässigkeit von Verfahren gegen die Türkische Republik auf das Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges verzichtete.
Daran hat sich aus den nachfolgenden Gründen bis heute nichts geändert, bzw. hat sich die Problematik der Nichtverfolgung von Verbrechen durch Sicherheitskräfte in den letzten Zeit, insbesondere in dem hier angezeigten Tatzeitraum und hinsichtlich der hier angezeigten Taten noch verstärkt.
Im Jahr 2008 hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) unter dem Titel „Closing ranks against accountability – Barriers to tackling police violence in Turkey“ einen Report über die strukturellen Schranken für die Verfolgung von polizeilichen Übergriffen im Land veröffentlicht. Der Bericht beruht auf Recherchen und Fallbeispielen und deckt sich mit ähnlichen Analysen nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen. Er kann als eine differenzierte Auseinandersetzung gelten, weil auch Fortschritte bei der Bewältigung des Problems konstatiert werden.
HRW spricht in dem Bericht von einer „Kultur der Straflosigkeit“ (culture of impunity) für Fälle von polizeilicher Gewalt bei Festnahmen, in Haft, bei Verhören, Personenkontrollen oder anderen Maßnahmen.
Als strukturelle Grundlage für diesen Befund werden verschiedene Ursachen genannt. Dazu gehören die fehlende Unabhängigkeit von Untersuchungsorganen und die mangelnde Effektivität ihrer Arbeit, Vertuschung und mangelnde Kooperation durch den Polizeiapparat sowie die sehr langsame Arbeit von Staatsanwaltschaften und – falls es überhaupt zur Anklageerhebung kommt – von Gerichten. Anzeigende sind außerdem häufig mit Gegenanzeigen (counter-charges), etwa wegen behaupteter Widerstandshandlungen, konfrontiert. Sie selbst oder ihr persönliches Umfeld sind wegen der Anzeigeerstattung oftmals Repressionen durch staatliche Organe ausgesetzt.
Zweierlei ist daher nach dem Bericht festzustellen. Es ist generell möglich, in der Türkei Strafanzeigen gegen Polizeibeamte zu erstatten und damit ein justizförmiges Verfahren einzuleiten. Eine effektive Strafverfolgung findet aus den dargelegten Gründen aber nicht statt.
Die Untersuchung bezog sich nur auf Polizeiorgane. Ähnliches ist für Handlungen rangniederer Soldaten festzustellen.
In einer Entscheidung vom 8. Juni 2010 hat der EGMR (AZ 6458/03) die Türkei verurteilt, weil durch die Justiz „keine adäquate und effektive Untersuchung“ über die Todesumstände der deutschen Staatsangehörigen Andrea Wolf, die als PKK-Kombattantin 1998 in die Hände der türkischen Armee gefallen und nach der Festnahme gefoltert, vergewaltigt und getötet worden war, erfolgt ist.
Ergänzt werden könnte der Befund der „Kultur der Straflosigkeit“ auch durch zahlreiche praktische Beispielfälle von Anwältinnen und Anwälten sowie Anwaltsvereinigungen aus den kurdischen Gebieten der Türkei.
Exemplarisch kann auf ein Urteil des Großen Strafsenats des Kassationsgerichtshofes von 2009 verwiesen werden. Der Entscheidung lag zugrunde, dass ein Unteroffizier in den kurdischen Gebieten einen Menschen getötet hat, der abseits einer Gruppe von Protestierenden stand. Er wurde in allen drei Gerichtsinstanzen freigesprochen. Im letzten Urteil heißt es: „Eine Grenzüberschreitung durch Furcht oder Panik, die in dieser Situation als entschuldbar angesehen werden kann, kann der Grund für eine Straflosigkeit sein. Die Provinz Siirt liegt im Südosten, in dem es seit vielen Jahren zu Terror-Vorfällen kommt. Bei Berücksichtigung der Schwere des tätlichen Angriffs (…) und den Besonderheiten der Region insgesamt, muss akzeptiert werden, dass eine entschuldbare Überschreitung der Grenzen der legalen Verteidigung durch Furcht oder Panik erfolgt ist.“ (Vatan vom 22. 9. 2009)
Wenn schon die Nichtverfolgung von in der staatlichen Hierarchie niedrigrangigen Angehörigen aus den Bereichen Polizei, Militär und Justiz festzustellen ist, so gilt dies erst recht für die Beschuldigten in dieser Strafanzeige. Sie sind führende Politiker der Türkei oder hochrangige Angehörige der Armee.
Zwar gibt es eine Strafverfolgung gegen hohe und meist pensionierte Armeeführer in der Türkei, dies aber nur wegen des Vorwurfes der Planung eines Staatsstreichs im Rahmen des sog. Ergenekon-Komplexes (FAZ vom 14.2.11), auch wenn diese gegenüber den USA oder auch der EU als Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen deklariert wurden. Hierbei handelt es sich aber um einen auch auf der Ebene des Rechts ausgetragenen Machtkampf zwischen der säkulär-kemalistischen Armeeführung und der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP.
Für das Vorliegen einer Nichtverfolgung durch die türkische Justiz ist auch deren fehlende Unabhängigkeit von Bedeutung. Dies belegen Zitate von führenden Juristen und Politikern.
2011 erklärte der Generalstaatsanwalt am obersten Gerichtshof, Sabih Kanadoğlu: „Die Gerichtsbarkeit in der Türkei ist nicht unabhängig. Die, welche das behaupten, lügen.“ Im selben Jahr erklärte Osman Can, Berichterstatter des Verfassungsgerichts: „Es gibt im Parlament zwei sogenannte Kräfte, die Legislative und die Exekutive. Es gibt aber nur eine Partei und den Justizminister dieser einen Partei. Dieser Justizminister hat die Gerichtsbarkeit uneingeschränkt in der Hand. Der Richter ist gleichzeitig Beamter und Parteiagent. Wenn wir uns die Justiz bis heute anschauen, dann sehen wir dies.“ Schon 2010 hatte Premierminister Erdoğan gesagt, „leider ist die Justiz weder unabhängig, noch unparteiisch. Hier liegt das Problem. Die Justiz ist nicht unparteiisch.“
Auch wenn damals Recep Tayip Erdoğan diese Bemerkung machte, so ist es heute, da seine Macht im Staate immer größer wird, nicht besser, sondern schlimmer.
So heißt es hinsichtlich des Justizsystems im Fortschrittsbericht der Europäischen Union zur Türkei aus dem November 2015:

„Die Situation betreffend den Schutz vor Folter und Misshandlung hat zwar in den letzten Jahren Fortschritte erfahren, aber eine Anzahl von Problemen verbleiben. Es gibt regelmäßige Berichte über den Gebrauch unverhältnismäßiger Gewalt gegenüber Demonstranten sowie Fälle von Misshandlungen in Gefängnissen. Dies ist ein Thema ernsthafter Besorgnis betreffend des Fehlens von klaren und verbindlichen Regelungen betreffend die verhältnismäßige Anwendung von Gewalt, insbesondere bei Demonstrationen. Der nationale Präventionsmechanismuss der NHRI funktioniert noch nicht. Es existieren keine effektiven zivilen Maßnahmen für die Untersuchung mutmaßlicher Verletzungen der Rechte von Wehrdienstleistenden und in Fällen von Misshandlungen.
Es sind noch signifikante Hindernisse bei der Sicherung von Gerechtigkeit für die Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte vorhanden.
Die Gesetzgebung betreffend den Schadensersatz für Zerstörungen oder für den Verlust des Lebens, verursacht durch die öffentliche Gewalt, müssen verbessert werden.
Wenn sie einen Prozess wegen Misshandlung durch Sicherheitskräfte in Gang bringen, sind Demonstranten weiterhin mit Gegenklagen konfrontiert, die durch die Justiz vorrangig behandelt werden. Das Gesetzespaket zur Inneren Sicherheit aus dem März 2015 garantiert den Sicherheitskräften große Ermessensspielräume ohne adäquate juristische oder unabhängige parlamentarische Aufsicht. Es muss ein unabhängiges ziviles Prozedere zur Bearbeitung von Beschwerden gegen Sicherheitskräfte eingeführt werden, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen effektiv zu untersuchen, Disziplinarische Sanktionen zu empfehlen und Fälle zur strafrechtlichen Verfolgung weiterzuleiten.
Dies würde auch dabei helfen, um dem Thema der Straflosigkeit der Sicherheitskräfte zu begegnen. Es ist kein entscheidender Fortschritt hinsichtlich der Verschwundenen oder der Exhumierung von Massengräbern erfolgt.
Unabhängig Untersuchungen aller mutmaßlichen Fälle von extralegalen Hinrichtungen durch Sicherheitskräfte fehlen ebenso.“
Bei Amnesty-International heißt es im Jahresbericht für das Jahr 2015 allgemein zum Thema Straflosigkeit:

„Auch 2015 mussten Staatsbedienstete, die Übergriffe begangen hatten, nicht mit Bestrafung rechnen. Ermittlungen wurden behindert, da die Polizei wichtiges Beweismaterial wie Dienstpläne von Einsatzkräften und Aufzeichnungen von Überwachungskameras zurückhielt und die Staatsanwaltschaft dieser Behinderung nicht energisch entgegentrat. Weil die seit langem versprochene unabhängige Institution für Beschwerden gegen die Polizei noch immer nicht eingerichtet worden war, bestand wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage. Wenn doch einmal strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden, waren sie häufig mit Fehlern behaftet.
Die Ermittlungen zu Verstößen der Polizei bei der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 kamen nur schleppend voran. Im Januar 2015 ergingen Schuldsprüche gegen mehrere Polizeibeamte und Zivilpersonen, die in Eskişehir den 19-jährigen Demonstranten Ali Ismail Korkmaz lebensgefährlich verletzt hatten; er starb nach fünfmonatigem Koma an den Folgen dieser Verletzungen. Im Juni verurteilte ein Istanbuler Gericht einen Polizisten, der mit Pfefferspray gegen eine friedliche Demonstrantin vorgegangen war, die als „Frau in Rot“ bekannt wurde. Das Verfahren gegen einen Polizisten im Zusammenhang mit der Tötung von Abdullah Cömert und das Revisionsverfahren zur Tötung von Ethem Sarısülük, die beide gegen die Regierung demonstriert hatten, waren Ende 2015 noch nicht abgeschlossen.
Nach dem Tod des 14-jährigen Berkin Elvan, der von einem Tränengasgeschoss der Polizei getroffen wurde, und in Hunderten weiteren Fällen, in denen Menschen durch Polizeigewalt verletzt wurden, kam es nicht zu Strafverfolgungsmaßnahmen. Auch der Fall von Hakan Yaman, von dem eine Videoaufnahme zeigt, wie er in Istanbul von Polizisten geprügelt, in ein Feuer geworfen und zurückgelassen wurde, in dem Glauben, er sei tot, hatte keine strafrechtlichen Folgen für die Täter. Hakan Yaman überlebte die Attacke, verlor jedoch ein Auge. Auch zweieinhalb Jahre nach dem Vorfall waren die Polizeibeamten auf dem Video noch immer nicht identifiziert.
In Zusammenhang mit Protesten gegen den IS-Angriff auf die syrische Stadt Kobanê, bei denen im Oktober 2014 in mehreren Städten im Südosten der Türkei mehr als 40 Menschen zu Tode kamen, wurden 2015 zwei Strafverfahren eröffnet. Das erste im März richtete sich gegen mutmaßliche jugendliche Unterstützer der PKK, die in Diyarbakır vier Menschen getötet haben sollen. Im zweiten Verfahren, das im Juni begann, standen zehn private Wachleute und Verwandte des AKP-Bürgermeisters der Stadt Kurtalan in der Provinz Siirt wegen der Tötung von drei Demonstrierenden vor Gericht. In vielen anderen Fällen kamen die Ermittlungen nicht voran, so z. B. in Fällen, in denen Menschen bei Polizeieinsätzen im Südosten, bei denen exzessive Gewalt angewendet wurde, von Polizisten erschossen worden sein sollen. Fehlende ballistische Gutachten sowie mangelnde Spurensicherung und Zeugenbefragungen durch die Staatsanwaltschaft ließen kaum Hoffnung aufkommen, dass die Todesumstände geklärt werden können.
Im November 2015 wurden in einem aufsehenerregenden Urteil zum Verschwindenlassen und der Tötung von 21 Menschen in Cizre in den Jahren 1993 bis 1995 alle acht Angeklagten freigesprochen, darunter auch der damalige Gendarmeriekommandeur Cemal Temizöz. Das Urteil erging nach einem höchst unfairen Verfahren.“
Hinsichtlich der Straflosigkeit, insbesondere in Bezug auf die hier angezeigten Ereignisse während der Ausgangssperre in Cizre im September, lässt sich weiter folgendes sagen:
Human Rights Watch gibt in seinem Bericht Turkey: Mounting Security Operation Deaths vom 22.12.2015 , in dem Recherchen von HRW zu den Ausgangssperren in Cizre, Silvan und Nusaybin zusammengefasst sind, zu der Frage der Aufklärung der dortigen Taten folgendes an:

„Die Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen wegen der angezeigten schweren Straftaten gegen diese zivilen und militärischen Vorgesetzten ist zusammengefasst aus politischen Gründen nicht zu erwarten. Dies entspricht nicht der Staatsraison der Republik Türkei, die alle militärischen und polizeilichen Maßnahmen in diesem Konflikt als Maßnahmen gegen „Terrorismus“ oder „Separatismus“ für gerechtfertigt hält.“
Weiter heißt es in dem Bericht:

„Die türkische Regierung sollte ihre Sicherheitskräfte zügeln, die missbräuchliche und unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt stoppen und die durch die Operationen hervorgerufen Todesfälle und Verletzungen untersuchen, sagt Emma Sinclair-Webb, Türkeibeauftragte von Human Rights Watch.“
„Zu ignorieren oder zu vertuschen, was gegenüber der kurdischen Bevölkerung passiert, würde nur die weithin bestehende Meinung bestätigen, dass, wenn es zu polizeilichen und militärischen Operationen gegen bewaffnete kurdische Gruppen kommen, keine Grenzen bestehen, kein Gesetz Gültigkeit hat“

„Während es aufgrund von Beweisen, die durch lokale Gruppen gesammelt wurden, klar bewiesen ist, dass die Anzahl von Toten und Verletzten wesentlich höher ist, braucht es einer umfassenden Untersuchungen, um die präzise Anzahl zu ermitteln und zu ermitteln ob jemand von dieser größeren Anzahl an den Kämpfen beteiligt war.
Hinsichtlich der 15 Toten, die durch HRW dokumentiert wurden, haben die Behörden es versäumt, umfassende Ermittlungen durchzuführen, trotz einer klaren Verpflichtung dazu aufgrund nationaler türkischer wie auch internationaler Menschenrechte.
Die türkischen Behörden haben eine Geschichte im Unterlassen von effektiven Ermittlungen in Tötungen im Südosten der Türkei, insbesondere in Fällen, in den vermutet wird, das staatliche Agenten für extralegale Hinrichtungen verantwortlich sind, festgestellt in einer Reihe von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Türkei das Recht auf Leben verletzt hat.“…
„Die Untersuchung sollte die Vernehmung aller verfügbaren ZeugInnen, Ermittlungen vor Ort, detaillierte Autopsien und andere forensische Untersuchungen, sowie das Sammeln alles unveränderten Originalfotomaterials der Kameras gepanzerter Fahrzeuge sowie andere Videos von Polizeieinheiten oder ZivilistInnen umfassen.“…
„Die Interviews von HRW mit den Verwandten einiger der getöteten ZivilistInnen und der Kontakt mit Staatsanwälten sprechen dafür, dass bisher keine effektiven Ermittlungen in Bezug auf die getöteten ZivilistInnen erfolgt sind, wie das internationale Recht es fordert.
Die offiziellen Stellungnahmen der türkischen Behörden entbehren jeglicher Kenntnis, dass viele unbewaffnete ZivilistInnen unter den Toten sind, was eine besorgniserregende Nachricht hinsichtlich der Frage ist, wie sehr sie beabsichtigen, umfassende und sofortigen Ermittlungen hinsichtlich der Toten sicherzustellen.
Ein Staatsanwalt aus Cizre sicherte HRW im September zu, dass Ermittlungen hinsichtlich der Toten während der Ausgangssperre vom 04. bis zum 12. September erfolgen.
Aber der Gouverneur der Provinz Şırnak, in der sich Cizre befindet, hat den Medien gegenüber am 17. September mitgeteilt, dass unter den „die Leichen von 7 Terroristen entdeckt wurden, 17 Mitglieder der separatistischen Terrororganisation verhaftet wurden“ und dass „die Verluste für die terroristische Organisation auf 40–42 geschätzt wird“.
Der Gouverneur erwähnt nicht die Toten normaler EinwohnerInnen, obwohl die Anwaltskammer von Diyarbakir und andere Gruppen 16 ZivilistInnen identifiziert haben, die aufgrund von Verletzungen durch Gewehrkugeln und Granatsplittern gestorben sind und 5 andere, die starben, weil sie während der Ausgangssperre keine medizinische Behandlung erhalten konnten.
HRW hat die 8 Tote durch Schussverletzungen dokumentiert.
Als die Ausgangssperre in Silvan aufgehoben worden war, gab der Gouverneur von Diyarbakir, wo sich Silvan befindet, bekannt, dass zwei Polizeibeamte und ein Jandarma, „2 EinwohnerInnen“ und „10 Mitglieder der separatistischen Terrororganisation getötet wurden.“
HRW hat 5 Tote dokumentiert, wovon 4 ZivilistInnen zu sein scheinen.
Ebenso bezieht sich die offizielle Stellungnahme des Deputy-Gouverneurs auf den „Tod von drei EinwohnerInnen“ durch „Granatsplitterverletzungen“.
HRW hat 3 Todesfälle von ZivilistInnen durch Schussverletzungen dokumentiert und hat von weiteren Fällen gehört.
Weder der Silvan Deputy-Gouverneur noch der Nusaybin Deputy-Gouverneur anwortete auf die Anfragen von HRW zu einem Treffen.“
Amnesty-Report 2016

„Die Berichte über exzessive Gewaltanwendung bei Demonstrationen nahmen 2015 dramatisch zu. Die Sicherheitskräfte setzten bei Antiterroroperationen tödliche Gewalt ein, wie z. B. bei bewaffneten Zusammenstößen mit der PKK-Jugendorganisation YDG-H. In vielen Fällen konnte der Hergang des Geschehens aufgrund widersprüchlicher Darstellungen und in Ermangelung effektiver Ermittlungen nicht rekonstruiert werden. Das im März 2015 verabschiedete Gesetzespaket zur inneren Sicherheit entsprach nicht den internationalen Standards zur Anwendung von Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden.
Im Januar 2015 wurde in Cizre im Südosten des Landes der zwölfjährige Nihat Kazanhan von einem Polizeibeamten erschossen. Zunächst leugneten die Behörden die Beteiligung der Polizei an dem Vorfall, doch dann tauchte ein Video auf, das zeigt, wie Nihat Kazanhan und andere Minderjährige Steine auf Polizisten warfen. Auf einem anderen Video ist zu sehen, wie ein Polizist mit dem Gewehr in Richtung der Minderjährigen schoss. Nihat Kazanhan wurde durch einen Kopfschuss getötet. Das Verfahren gegen fünf Polizisten war am Jahresende noch nicht abgeschlossen.
Während der Polizeioperationen gegen die YDG-H in mehreren Städten im Südosten des Landes verhängten die örtlichen Behörden ganztägige Ausgangssperren. Bewohner durften ihre Häuser nicht verlassen, die Wasser- und Stromversorgung sowie die Kommunikationsverbindungen wurden gekappt, und Beobachter durften die Städte nicht betreten. Ausgangssperren, die im Stadtviertel Sur von Diyarbakır am 11. Dezember 2015 sowie in den Städten Cizre und Silopi am 14. Dezember verhängt wurden, waren zum Jahresende noch nicht wieder aufgehoben.“
HRW Report Turkey 2016

„Trotz tausender Fälle von Tötungen und Verschwindenlassen von Kurd_innen durch Sicherheitskräfte in den 1900er Jahre wurde nur gegen eine Handvoll Militärangehöriger ein Strafprozess durchgeführt; im Jahr 2015 wurde in vier Fällen Anklage erhoben, und in keinem Fall erging eine Veurteilung. Das türkische 20 Jahre-Statut der Verfolgungsbeschränkung für ungesetzmäßige Tötungen bleibt ein Haupthindernis für die Gerechtigkeit.“
Diese Einschätzung von Human Rights Watch wird dadurch gestärkt, dass Anfang Januar 2016 ein internes Dokument des türkischen Militärs aufgetaucht war, in dem die Soldaten darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht vom Schusswaffengebrauch durch rechtliche Überlegungen abhalten lassen sollten, ansonsten würden harte Konsequenzen drohen. Weiterhin wurde zugesichert, dass eine staatliche Verfolgung ausbleiben werde .
Wörtlich heißt es in dem Dokument mit dem Aktenzeichen: ‘84933840-3000-350-15′, das den Titel trägt: ‘Das Recht der Soldaten zu schießen und die Wachsamkeit der Einheiten’ und am 30. Juli 2015 von der 3. Panzerbattaillonskommandantur in Cizre/Şırnak an die 172. gepanzerte Brigade, die Vertretungskommandantur der Landstreitkrafte, übermittelt wurde:

„1. Das Recht der Soldaten von der Waffe Gebrauch zu machen wird in der Anweisung ausdrücklich beschrieben
2. Truppenkommandeure sollen erneut alle Armeeangehörigen vom Recht über den Waffengebrauch informieren und aufklären
3. Sämtliche Einheiten sollen informiert und aufgeklärt werden, bei jeglichem Hinterhalt, Sabotage, Belästigung oder Angriffen mit scharfer Munition zu antworten
4. Kein Armeeangehöriger soll vergessen, das jegliche Zurückhaltung, von der Waffe Gebrauch zu machen und sei es aus Furcht vor rechtlicher Verfolgung, harte Konsequenzen nach sich ziehen wird, es wird Gefallene auf unserer Seite geben, das Überleben des Staates und der Nation gefährden und Verrätern, Terroristen und Feinden des Staates ein Gefühl von Stärke vermitteln.
5. Allen Armeeangehörigen sollten die juristischen Folgen angenehmer sein, als die Beerdigung in einem Sarg, als Resultat eines Angriffes
6. Diese Anweisung soll allen Soldaten mitgeteilt werden. Die Soldaten sollen wachsam sein, immer mit dieser Anweisung im Gedächtnis und der Tatsache, dass unser Staat in einer schwierigen Phase ist. “
Ein von der AKP Regierung eingebrachter Gesetzesentwurf, mit dem Militärangehörige im Zusammenhang mit dem Anti-Terror-Kampf vor einer unabhängigen Strafverfolgung geschützt werden, scheint diese Anordnung nun in rechtliche Form zu gießen . Mittlerweile ist daraus eine Gesetzesvorlage geworden, hinsichtlich derer es in der Zeit vom 11.06.2016 heißt :

„Ein weiterer Passus der Gesetzesvorlage aber könnte unabsehbare Folgen für den ohnehin geschwächten Rechtsstaat haben. Er sieht vor, dass Militärangehörige im Kontext des Anti-Terror-Kampfes vor einer unabhängigen Strafverfolgung geschützt werden. Auch soll die Justiz gegen Kommandeure und den Generalstabschef nur noch mit Einverständnis des Ministerpräsidenten ermitteln, sie festnehmen oder gar anklagen dürfen. Selbst für die strafrechtliche Verfolgung einfacher Soldaten bedarf es zukünftig der Zustimmung der jeweiligen von der Zentralregierung direkt eingesetzten Distriktverwaltung. Zivile Gerichte sollen bei der Verurteilung von Armeeangehörigen keine Rolle mehr spielen. Das neue Gesetz würde damit vor allem die Ahndung möglicher Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte in den umkämpften Städten im Südosten massiv erschweren.“
Angesichts der derzeitigen oben bereits ausführlich dargelegten Verhältnisse in der Türkei ist ziemlich sicher davon auszugehen, dass diese Gesetzesvorlage auch Gesetz werden wird.
Damit wird so etwas wie eine Art Immunität für Militärangehörige gesetzlich festgeschrieben. Dass eine Verfolgung der angezeigten Taten in der Türkei damit nicht zu erwarten ist, dürfte somit feststehen.
Damit kommt vorliegend Deutschland als Drittstaat eine besondere Verantwortung zum Eingreifen zu, da die Angriffe auf die Gemeinschaftsinteressen ansonsten straflos blieben.
III. Ermittlungsansätze in der Bundesrepublik
Ein weiterer in das Ermessen einzustellende Gesichtspunkt ist die Frage, der Ermittlungsansätze im Inland.
Hier ist zu bemerken, dass vorliegend erhebliche Ermittlungsansätze bestehen.
Zunächst ist zu bemerken, dass die Anzeige nur einige exemplarische Fälle umfasst. Weitere Straftaten können durch Recherchen und die Auswertung der öffentlichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen oder von Medienberichten gewonnen werden, aber auch durch die Vernehmung von Zeugen.
Dabei ist zunächst auf die Praxis in dem mit Anklagen von der Bundesanwaltschaft abgeschlossenen Ermittlungsverfahren gegen Beschuldigte der Organisation FDLR aus Ruanda zu verweisen. In diesem Verfahren hatte das Bundeskriminalamt im Bundesgebiet lebende potentielle Zeugen aus diesem Land ermittelt und befragt. Außerdem kam es zu umfangreichen Ermittlungstätigkeiten in anderen europäischen Ländern und in Ruanda selbst. Diese Vorgehensweise ist auch im vorliegenden Fall geboten.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich der Zeuge Faysal Sarriyildiz derzeit in Deutschland aufhält. Er hat sich während beider Ausgangssperren nahezu die gesamte Zeit in Cizre aufgehalten. Er war Zeuge vieler der hier angezeigten Taten sowie teilweise auch Opfer. Wie der Zeuge der Unterzeichnerin gegenüber vor wenigen Tagen angab, hat er seine Beobachtungen stets in kurzen Nachrichten bei Twitter festgehalten und gespeichert. Diese Eintragungen sind weiterhin vorhanden. Er ist einer der Hauptzeugen, der hier angezeigten Taten. Er wird sich noch länger in Europa und auch Deutschland aufhalten und ist zu einer Aussage bereit.
Bei ihm handelt es sich um ein, wenn nicht das zentrale Beweismittel vieler der hier angezeigten Taten. Er war derjenige, der mit den Menschen in den Kellern gesprochen hat, er ist beispielsweise diejenige Person, die von dem später getöteten Mehmet Tunc per Telefon erfahren hat, wie der 16jährige Abdullah Gün, als er sich zum Krankenwagen begeben wollte, erschossen wurde. Da Mehmet Tunc tot ist, ist Faysal Sariyildiz somit das tatnächste Beweismittel.
Die Aufnahme von Ermittlungen, mindestens in Form einer antizipierten Beweisaufnahme drängt sich nach alledem auf.
7. Teil Keine Immunität der Beschuldigten
Die Angezeigten genießen keine Immunität gegen Strafverfolgung in der Bundesrepublik Deutschland.
Bei den beschuldigten Militärs, die keine staatlich-politische Repräsentationseigenschaft ausüben, ist dies offensichtlich. Sie gehören auch nicht zu dem in den §§ 18 bis 20 GVG genannten Personenkreis.
Aber auch die beschuldigten Politiker sind nicht durch eine Immunität kraft ihres Amtes geschützt, zumindest nicht vor der Einleitung eines deutschen Ermittlungsverfahrens nach dem Völkerstrafgesetzbuch.
Die Immunität von staatlichen Repräsentanten ist generell anerkannt. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dies nur auf die Ämter des Staatsoberhaupts und des Außenministers beschränkt ist. (vgl. Maierhöfer, EuGRZ, 03, 545f)
Hinsichtlich einer persönlichen Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Menschenrechtsverletzungen ist im internationalen Recht in Bezug auf das Völkerstrafrecht eine Wende eingetreten. Diese ist von einer Durchbrechung der Amtsimmunität geprägt und äußert sich in Normen und einer darauf bezogenen Völkerrechtspraxis. Der Umstand, dass der Täter in amtlicher Eigenschaft gehandelt hat, wird beim Vorliegen der schwerwiegenden Verletzungen internationaler Normen, nicht durch die Zubilligung von Immunität konterkariert. Die persönliche Verantwortlichkeit besteht unabhängig vom Amt.
Seinen völkerstrafrechtlichen Ausdruck hat dies in Art. 27 des Statuts des IStGH gefunden. Dort heißt es zur „Unerheblichkeit der amtlichen Eigenschaft“: „Dieses Statut gilt gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef, als Mitglied einer Regierung (…) oder Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortung nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar.“
Diese Regelung des internationalen Strafrechts bestimmt die Rechtspraxis des Internationalen Strafgerichtshofs (Haftbefehl gegen den amtierenden Staatspräsidenten des Sudan). Sie entspricht auch der langjährigen Rechtspraxis des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien. (Verfahren Milosevic) Die in den genannten schwerwiegenden Fällen von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenrechtsverletzungen angewendete Ausnahme vom Grundsatz einer Amtsimmunität ist als Völkergewohnheitsrecht anzusehen.
Das deutsche VStGB ist seinem Gesetzeszweck nach – und als nationale Ausführung der positiven Bezugnahme auf das Völkerstrafrecht – Teil eines internationalen Strafsystems, das Strafbarkeitslücken bei einer massiven Verletzung internationaler Rechtsnormen durch Amtsträger schließen will. Einem Ermittlungsverfahren kann deshalb eine Immunität nicht entgegen gehalten werden, auch wenn das VStGB keine Art. 27 entsprechende Vorschrift enthält.
Dieser Grundsatz gilt auch bei der Auslegung von § 20 Abs. 1 GVG.
Teil D: Geschichte des Konfliktes bis 1999
Um die Situation der Türkei und insbesondere der kurdischen Provinzen der Türkei beurteilen zu können, soll der Konflikt von den Anfängen bis zum Jahr 1999 im Folgenden kurz historisch dargestellt werden. Insbesondere die Schilderung der 1980er und 1990er Jahre wird zudem zeigen, dass die Vorgehensweise, vor allem die hier angezeigten, durch die türkischen Sicherheitskräfte im Südosten der Türkei begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sich in eine traurige Tradition einordnet.
Die Darstellung wird die lange Geschichte der Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegenüber den Kurdinnen und Kurden deutlich machen und hinsichtlich der hier angezeigten Taten deutlich machen, dass diese sowohl im Rahmen eines bereits sehr lang andauernden ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung (§ 7 VStGB) stattfinden als auch im Zusammenhang mit einen internationalen bzw. nicht-internationalen bewaffneten Konflikt (§ 8 VStGB).
Das Heidelberger Institut für Konfliktforschung etwa datiert den Beginn des türkisch-kurdischen Konflikts heutiger Prägung auf das Jahr 1920, identifiziert als Gegenstand des Konflikts die Autonomie der kurdischen Bevölkerung und weist dem Konflikt die Intensitätsstufe 4 auf einer bis 5 reichenden Intensitätsskala zu.
Die hier angezeigten Taten müssen genau vor dieser schon seit Jahrzehnten von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtsverbrechen geprägten Vernichtungs- und Assimilationspolitik des türkischen Staates betrachtet werden. Nur so wird klar, wie einzelne Handlungen von Sicherheitskräften auf die Menschen in den südöstlichen Provinzen wirken.
Es wird dabei deutlich, dass ein derartiges Vorgehen sowohl gegen die kurdische Zivilbevölkerung als auch gegen gefangen genommene Guerillas von einer Systematik getragen sind und diese Systematik insbesondere den Beschuldigten bekannt ist. Nur so wird klar, dass, auch unabhängig von der besonderen Situation der Straflosigkeit im letzten Jahr (Siehe hierzu unten.Teil C, 8. Teil..), eine Stimmung herrscht, in der sich Beschuldigte, z.B. Angehörige von Sicherheitskräften, Geheimdiensten oder auch sog. Konterguerillas sicher sein können, dass ihr Handeln von Vorgesetzten und Justiz getragen wird und ihnen keine Strafen drohen.
Nur durch die Betrachtung dieser Gesamtsituation geht auch ganz klar hervor, dass hinsichtlich der Grundproblematik keine wesentlichen Änderungen eingetreten sind. Vielmehr wird deutlich, dass in teilweise etwas abgewandelter Form die gleiche Systematik und dieselben oder sehr ähnliche Methoden der Unterdrückung, der Menschenrechtsverletzungen und der Einschüchterung und gewalttätigen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung über Jahrzehnte bis heute angewandt wurde und wird.
A. Allgemeines zum kurdischen Volk
Die Existenz eines kurdischen Volkes mit dem Siedlungsgebiet Kurdistans ist heute in internationaler Wissenschaft und Politik nicht mehr ernsthaft umstritten. Die im Völkerrecht und in dem Staatsrecht geforderten Begriffsmerkmale für ein Volk bzw. eine Nation sind offensichtlich erfüllt:
• die eigene Sprache des Kurdischen mit der Hauptsprache Kurmancî (60 % der Kurd_innen sprechen diesen Dialekt) und verschiedenen anderen Dialekten (Zazakî, Soranî und Goranî). Im Norden (Türkei) wird hauptsächlich Kurmancî sowie Zazakî (in der Region um Dersim/türkisch Tunceli) gesprochen.
• die Tradition bzw. Geschichte seit mehreren tausend Jahren im heutigen Siedlungsgebiet am Scheideweg antiker Kulturen und alten Handelswegen zwischen Ost und West und der Grenze des Abendlandes gegen den „Osten“.
• das politische Bewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl als geographisch umgrenzbare Einheit ist seit langem anerkannt und hat bereits mehrfach in der Geschichte zur Gründung kurdischer Staaten bzw. dem Versuch hierzu geführt, am bekanntesten ist die Gründung der kurdischen Republik Mahabat nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die kurdische Bevölkerung wird auf insgesamt 35–40 Millionen Menschen geschätzt. Sie sind das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. Die Gesamtfläche Kurdistans beträgt 500.000 Quadratkilometer. Diese erstreckt sich über Ost- und Südostanatolien (Türkei) bis zum Urmiasee im Iran und schließt die Region der Zagros-Gebirgskette, also den Nordirak und den Westiran sowie Teile von Nordsyrien mit ein.
Kurdistan ist reich an Bodenschätzen, vor allem Erdöl, und hat als Quellgebiet von Euphrat und Tigris nicht nur sehr fruchtbare Böden, sondern auch deswegen eine große strategische Bedeutung für die angrenzenden Staaten.
B. Entwicklung bis Ende der 30iger Jahre
Der Legende zufolge beginnt die kurdische Geschichte 612 v.u.Z., als der Schmied Kawa den Tyrannen Dehak erschlug und die Bevölkerung befreite. Seit diesem Zeitpunkt feiern die Kurd_innen jedes Jahr am 21. März Newroz, das Neujahrs- und Widerstandsfest, als Symbol ihrer Befreiung .
Heute richten sich die Kurd_innen mit dem Newrozfest ebenfalls gegen die herrschende Unterdrückung in den nationalstaatlichen Gebilden ihrer Lebensräume. Dabei kommt es bis heute immer wieder zu massiven Übergriffen der Sicherheitskräfte auf Newroz-Feierlichkeiten. In diesem Rahmen sterben regelmäßig Demonstrant_innen. Lange wurden die Newroz-Feierlichkeiten verboten. Dies ist einer der Punkte, an denen die Kontinuität der Unterdrückungs- und Assimilationspolitik des türkischen Staates deutlich wird.
So war seit einigen Jahren das Fest in der Türkei zwar oftmals wieder erlaubt, jedoch bleibt es von den Repressionen durch die türkische Regierung nicht verschont. Auch in den letzten Jahren ist es immer wieder, gerade in den kurdischen Provinzen der Türkei, zu Verboten und Übergriffen mit toten Zivilist_innen gekommen. Zudem kommt es entweder in den Tagen unmittelbar vor Newroz oder verstärkt auch in den Tagen nach Newroz zu Übergriffen oder zu Verhaftungen gerade auch von kurdischen Politiker_innen. Vorwurf ist meist, dass sie bei ihrer Rede ganz oder in Teilen kurdisch geredet haben sollen oder die Menschenrechtsverletzungen thematisiert und so Propaganda für eine terroristische Vereinigung betrieben haben sollen.
Die beiden letzten Jahrzehnte der Herrschaftszeit des Osmanischen Reiches, um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, waren vom Niedergang des Sultanats und der Herausbildung eines aggressiven türkischen Nationalismus gekennzeichnet.
Die heutige Aufteilung der kurdischen Bevölkerung auf verschiedene Staaten war bedingt durch das Auseinanderfallen des Osmanischen Reiches als Ergebnis des Ersten Weltkrieges und einer willkürlichen Grenzziehung zwischen den neuen Staaten Türkei, Irak und Syrien im Interesse der Siegermächte.
Der Friedensvertrag von Sevres 1920, der zwar vereinbart, aber niemals ratifiziert wurde, sah noch ein autonomes kurdisches Gebiet um Mossul und Kirkuk sowie ein Referendum der Kurd_innen darüber vor, ob sie im türkischen Staatsverband bleiben wollen. Dabei waren die Besatzungsmächte bestrebt, das Gebiet der heutigen Türkei unter sich aufzuteilen.
Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen kam es zu den von den Jungtürken unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk geführten Befreiungskriegen. Dabei wurde er zunächst von den Kurd_innen unterstützt. Denn um eine möglichst große Stärke im Krieg zu erreichen, versprach Atatürk den Kurd_innen wesentliche Verbesserungen gegenüber dem Vertrag von Sevres. So äußerte er:

„Das autonome Kurdistan innerhalb einer republikanischen Türkei lebt in voller Übereinstimmung und Brüderlichkeit mit dem türkischen Volk.“
Dass dieses Versprechen lediglich instrumentellen Charakter hatte, zeigte sich, als es, nachdem sich die Truppen Atatürk´s in den Auseinandersetzungen durchgesetzt hatten, zur Friedenskonferenz von Lausanne kam. Die größten Verlierer dieses Vertrages waren die Kurd_innen.
An der Gestaltung des Vertrages von Lausanne waren maßgeblich die Regierungsvertreter_innen Großbritanniens, Frankreichs und der Türkei, darüber hinaus solche Italiens, Japans, Rumäniens, Griechenlands und Jugoslawiens als Verhandlungspartner_innen beteiligt, die betroffenen Minderheiten, so auch die Kurd_innen, jedoch von den Vertragsverhandlungen ausgeschlossen. Die im Lausanner Vertrag festgelegten Grenzen, die Kurdistan unter den drei neu gegründeten Staaten Irak, Syrien und Türkei sowie dem bereits existierenden Iran (Persien) aufteilten, fanden somit offizielle internationale Anerkennung. Die kurdische Bevölkerung dagegen wurde im Vertrag von Lausanne nicht mehr erwähnt und der Vertrag von Sevres hinsichtlich der kurdischen Unabhängigkeit revidiert.
Zunächst wurde von Seiten der türkische Delegation zwar die Integrität des türkischen Territoriums betont, zugleich aber geäußert, dass die Türkei die Heimat zweier völlig gleichberechtigter Bevölkerungsgruppen sei: der Kurd_innen und der Türk_innen.
Wie bereits während der Befreiungskriege war diese Aussage jedoch rein von taktischen Erwägungen getragen. Denn Hintergrund war, dass die türkische Regierung versuchte, sich mit kurdischer Hilfe das Erdölgebiet von Kirkuk und Mossul anzueignen. Die britische Regierung einigte sich jedoch mit der französischen und US-amerikanischen Regierung auf gegenseitige Beteiligung am Ölgeschäft, um ihre Position zu stärken, und verhinderte dadurch die Umsetzung der Pläne der türkischen Regierung.
Übrig blieben die Artikel 39 bis 45 des Lausanner Vertrages, in denen sich die Türkei verpflichtete, Minderheiten gewisse kulturelle Rechte einzuräumen, etwa den Gebrauch der eigenen Sprache oder die Möglichkeit, eigene Zeitungen und Zeitschriften herauszugeben. Es wurden jedoch nur Nicht-Muslime wie Griech_innen oder Armenier_innen als Minderheiten begriffen, nicht aber die Kurd_innen und andere Bevölkerungsgruppen.
Nach der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 wurde der Kemalismus offizielle Staatsdoktrin und u.a. aufgrund des neu entfachten türkischen Nationalismus verweigerte Atatürk den Kurd_innen jede Form einer eigenen kurdischen Existenz, vielmehr sollte die völlige Assimilation erzwungen werden. Diese zwangsweise Türkisierung äußerte sich zunächst in der Änderung der Vor-, Familien- sowie Dorf- und Städtenamen, im Verbot der kurdischen Sprache als Amts- und Unterrichtssprache und dem Versuch, sämtliche Zeugnisse kurdischer Geschichte und Kultur (Baudenkmäler, Schriften, Bücher usw.) systematisch zu vernichten.
Es begann eine gezielte Deportation der kurdischen Bevölkerung. Zahlreiche kurdische Vertreter_innen und führende Persönlichkeiten wurden ermordet, kurdische Schulen geschlossen und Zeitschriften verboten. Der sich dagegen formierende Widerstand wurde mit 80.000 Soldaten und Mithilfe der französischen Regierung niedergeschlagen. Danach ließen die türkischen Behörden zur „Lösung der Kurdenfrage“ Massenhinrichtungen durchführen.(hier wäre eine Fußnote mit Quelle gut)
Zwischen 1925 und 1928 wurden darüber hinaus ca. 1. Millionen Menschen in die Westtürkei deportiert.
Der Widerstand dagegen wurde mit einem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung mit modernen Vernichtungswaffen wie Flugzeugen und Kanonen beantwortet.
Am 14. Juni 1924 verabschiedete das türkische Parlament folgendes Gesetz:

„Um die türkische Kultur zu verbreiten, wird die Regierung das o.g. Gesetz umsetzen. Dazu hat das Innenministerium die Türkei in drei Regionen aufgeteilt: 1. Die Regionen, in denen die türkische Kultur in der Bevölkerung sehr stark verankert ist, 2. die Regionen, wo die Bevölkerung anzusiedeln ist, die es zu türkisieren gilt (das sind die Gebiete im Westen, besonders am Mittelmeer, der Ägäis, dem Marmarameer und Thrakien); 3. Die Regionen, die aus gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen entvölkert werden müssen, in denen sich niemand mehr ansiedeln darf (das sind Agri, Sason, Dersim, Van, Kars, der südliche Teil von Diyarbakir, Bingöl, Bitlis und Mus).“
Im Anschluss daran kam es zwischen 1925 und 1938 in den kurdischen Provinzen der Türkei zu 16 Aufständen, auf die jeweils mit Massakern, Deportationen und Spezialkriegstaktiken reagiert wurde. Konkret handelte es sich dabei um Bombardierungen aus der Luft, Einsatz von Giftgas, Massenexekutionen und Deportationen von insgesamt über 1,5 Millionen Menschen.
Zuletzt kam es 1937/1938 zum Aufstand von Dersim. Bezüglich dieser Region hatte sich Atatürk 1936 vor der Nationalversammlung wie folgt geäußert:

„Das größte Problem unserer Innenpolitik ist Dersim. Um dieses Geschwür zu entwurzeln, das uns als Hindernis im Weg steht, und um das Treffen schneller Entscheidungen zu erleichtern, ist es nötig, der Regierung diesbezüglich eine absolute Vollmacht einzuräumen“.
In der Umsetzung dessen verübte das Militär ein Massaker an der kurdischen Zivilbevölkerung. Höhlen, in denen Frauen und Kinder vor den türkischen Bomben Schutz gesucht hatten, wurden mit Giftgas und Rauch ausgeräuchert und verschlossen. Bei den Auseinandersetzungen ermordeten Militärs mehr als 80.000 Kurd_innen. Ein Großteil der Restbevölkerung, nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 100.000 und 300.000 Menschen, wurde gewaltsam aus Dersim in die Westtürkei deportiert.
C. Assimilationspolitik der 40er-bis 80er Jahre
In den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren wurde die Zwangsassimilierung fortgesetzt, ohne dass es zu größeren Aufständen kam. Bis Ende der achtziger Jahre wurde offiziell geleugnet, dass es überhaupt Kurd_innen gibt, wo nötig, wurden sie als „Bergtürken“ bezeichnet.
Sämtliche südöstliche Provinzen der Türkei waren bis 1950 Sperrzone. Bis 1965 blieb dort Ausländer_innen die Einreise verwehrt. Eine zwangsverordnete Assimilationspolitik wurde vom Verbot der kurdischen Sprache und Kultur flankiert, jede Art der politischen und kulturellen Artikulation unter dem Vorwurf des Separatismus unterdrückt. 1945 wurde die kurdische Nationalkleidung, der Sal Sapik, verboten, ebenso der Gebrauch der Sprache in der Öffentlichkeit. 1967 erfolgte ein erneutes offizielles Verbot der kurdischen Sprache sowie von Musik, Literatur und Zeitungen.
Die zugrundeliegende Ideologie sei an einigen Zitaten früherer türkischer Machthaber verdeutlicht. Bereits Mustafa Kemal Atatürk hatte dazu geäußert:

„Wir werden die Kurden wie die Armenier wegmachen“
Der türkische Justizminister Esat äußerte am 19.09.1930:

„Es gibt in der Türkei mehr Freiheit als irgendwo in der Welt. Dieses Land ist ein Land der Türken. Wer nicht von rein türkischer Herkunft ist, hat nur ein einziges Recht in diesem Lande: Das Recht Diener zu werden, das Recht Sklave zu sein.
Und der führende General des Militärputsches von 1960, Gürsel, erklärte einem Journalisten gegenüber im Jahre 1960:

„Wenn diese Bergtürken nicht Ruhe geben, wird die Armee nicht mehr zurückschrecken, ihre Städte und Dörfer zu bombardieren. Es wird ein solches Blutbad, dass sie auch mit ihrem Land von der Bildfläche verschwinden“.
Dieser spezifische türkische Nationalismus wird in der Rechtsordnung und der Lebenswirklichkeit der Türkei vielfach deutlich.

D. Situation in den 80er und 90er Jahren
Die Situation in den achtziger und neunziger Jahren ist in den kurdischen Provinzen der Türkei von einem bis heute stattfindenden bewaffneten Konflikt zwischen den im Laufe der Zeit unterschiedlich bezeichneten Guerillaeinheiten der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan/Arbeiterpartei Kurdistans) und dem türkischen Militär sowie weiteren Sicherheitskräften geprägt gewesen.
In diesem Rahmen ist auf der einen Seite aus einer kurdischen Bewegung, die seit 1984 zunächst hauptsächlich durch die bewaffnet agierenden Guerillaeinheiten und deren Kampf geprägt war, eine Bewegung geworden, die spätestens seit Anfang der neunziger Jahre immer mehr von großen Teilen der kurdischen Bevölkerung getragen wurde und immer stärker (schwerpunktmäßig) politisch agierte – bis hin zur Wahl Im Juni 2015, als die erste prokurdische Partei, die HDP, die 10-Prozenthürde überwinden konnte, und türkeiweit 13 % der Stimmen erlangte. Auf der anderen Seite ist diese Zeit geprägt von einer systematischen Vernichtungs- und Assimilationspolitik gegenüber den Kurd_innen, die sich von massenhaften Dorfvertreibungen, regelmäßigen Kollektivstrafen, systematischer Folter, dem Verhängen des Ausnahmezustands über große Gebiete der kurdischen Provinzen bis hin zur Ermordung tausender Intellektueller und Oppositioneller in den kurdischen Städten und dem Verschwindenlassen tausender Menschen äußerte.
Konkret sah die Entwicklung wie folgt aus:
Als Reaktion auf die oben geschilderte, auf völlige Vernichtung und Assimilation der kurdischen Bevölkerung ausgerichtete, Politik des türkischen Staates gründete sich am 27.11.1978 die PKK.
Dabei wurde als zentrales Problem Kurdistans eine doppelte Unterdrückung gesehen: Einerseits eine nationale Unterdrückung durch den türkischen Staat und die ihn unterstützenden imperialistischen Mächte, andererseits eine Unterdrückung der Demokratie durch die feudalen innerkurdischen Strukturen. Beidem wurde der Kampf angesagt. Träger der kurdischen Revolution sollten Arbeiter_innen, durchschnittliche Landbewohner_innen (Bäuer_innen) und die kurdische Jugend sein.
Die PKK sah den bewaffneten Kampf als eine Notwendigkeit an, die sich aus dem Nichtbestehen der Möglichkeit von legalen Aktivitäten herleitete.
Offensive bewaffnete Aktionen fanden zu dieser Zeit noch nicht statt. Die PKK organisierte Landbesetzungen, verteilte Kader im Land und gebrauchte Waffen vor allem zur Selbstverteidigung.
Bis Ende 1980 entwickelte sich die PKK zu einer der stärksten kurdischen Parteien in der Türkei.
Am 12. September 1980 putschte sich das türkische Militär mit Unterstützung der Nato unter dem Vorwand, Ruhe und Ordnung im Lande wiederherzustellen, an die Macht. Alle Parteien und Gewerkschaften wurden verboten und linke Organisationen blutig zerschlagen.
Allein in dem Zeitraum zwischen dem Beginn des Militärputsches und dem Erlass der neuen Verfassung wurden 200.000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, 650.000 Personen wurden festgenommen, von denen bis Ende 1983 noch 40.000 in Haft waren. Die Gefangenen waren schwerer Folter ausgesetzt. In den Gefängnissen wie z.B. dem berüchtigten Gefängnistrakt Nr. 5 in Diyarbakir wurden die Gefangenen mit Knüppeln vergewaltigt, in Wannen voller Exkremente getaucht, in Käfige mit Ratten gesperrt, zum Trinken säurehaltigen Wassers gezwungen, sie mussten nackt im Schnee liegen oder wurden durch Hunde attackiert. Sie wurden gezwungen, ihre Exkremente oder Mäuse zu essen und Mitgefangenen in den Mund zu urinieren. Darüber hinaus waren Elektroschocks und Schläge an der Tagesordnung. Mit derartigen Grausamkeiten waren mehrere Tausend politische Gefangene konfrontiert.
Einzelne PKK-Aktivist_innen führten zwar 1981/82 noch punktuelle bewaffnete Aktionen zur Selbstverteidigung in der Region Elazig-Dersim durch, doch die Widerstandsfront hatte sich in die Gefängnisse verlagert. Auch rund 60 Führungsmitglieder und Tausende Anhänger_innen der PKK kamen in die Gefängnisse.
Am 7. November 1982 verkündete die Militärjunta die neue, bis heute in großen Teilen noch gültige Verfassung. Darin wird der Nationalismus Atatürks als Grundlage des Staates in der Präambel und in Artikel 2 hervorgehoben. Dieses Prinzip ist nach Artikel 4 unabänderlich. Nach Artikel 3 Abs. 2 Satz 3 ist Türkisch die Sprache des als unteilbares Ganzes deklarierten türkischen Staates.
Die Grundrechte stehen nach Artikel 3 unter dem Vorbehalt der Beschränkung zum Schutz des unteilbaren Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk. Artikel 14 verbietet es, den unteilbaren Bestand zu beeinträchtigen. Politische Parteien, die diesen Grundsätzen zuwiderhandeln, werden verboten. Dies ist die Grundlage für das Verbot nahezu aller bis heute gegründeten pro-kurdischen Parteien, zuletzt dem Verbot der prokurdischen Partei DTP (Demokratik Toplum Partisi).
Zwar ist nach Art. 10 Abs. 1 der Verfassung jedermann ohne Rücksicht auf seine Sprache oder Rasse vor dem Gesetz gleich. Dies galt und gilt bis heute aber nicht für die Kurd_innen. Denn nach dem Verständnis der jeweiligen Machthaber sind Nationaltürk_innen einerseits und nicht-assimilierte Kurd_innen andererseits ungleich, weil eben diese Kurd_innen sich nicht in der Gemeinschaft des durch Nationalismus verbundenen Staatsvolks befinden. Die in der Verfassung umschriebene Gleichheit setzt für die Kurd_innen voraus, dass sie bereit und in der Lage sind, sich dem Türkentum anzupassen.
In seiner Untersuchung über „die Rechtsstellung der Kurden in der Türkei unter Berücksichtigung des Lausanner-Friedensvertrages vom 24.07.1923, der Verfassungen von 1961 sowie 1982“ kommt Oguzhan im Jahr 1985 zum Ergebnis:

„Wie die oben angegebenen Bestimmungen der neuen Verfassung und des neuen Parteiengesetzes zeigen, beabsichtigt der Gesetzgeber ungeachtet der Menschenrechte und Freiheiten auf normativer Ebene die ‚Kurdenfrage‘ zu lösen, in dem bereits ihre Thematisierung zum Schutz des nationalen Einheitsstaates im Vorfeld des demokratischen Meinungsbildungsprozesses sanktioniert wird. Für die politischen Parteien ist somit in Zukunft selbst der Gebrauch der Worte wie „Kurde“ oder „kurdisch“ ein Tabu und die politische Auseinandersetzung mit Problemen in Süd- und Südostanatolien Separatismus. I. Inönü, der zweite Mann nach Atatürk und dessen Nachfolger, hatte in seiner Eigenschaft als Außenminister und Chefunterhändler der türkischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Lausanne 1923 ausdrücklich von „Kurden“, „kurdische Sprache“ und „kurdischem Volk“ gesprochen. Nach heutiger Rechtslage bedeutet dies einen Verstoß gegen die nationale Einheit des Staates. “
An dieser Auslegung des Rechts hat sich im Wesentlichen auch bis heute nichts geändert. So werden immer noch zahlreiche kurdische Politiker_innen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie sich in diesem Sinne äußern.
Im Dezember 1983 erlaubten die Militärs schließlich strikt reglementierte Parlamentswahlen mit sorgfältig ausgewählten neugegründeten Parteien, die Turgut Özals Mutterlandspartei ANAP für sich gewann. Trotz des scheinbaren Übergangs zur Demokratie behielt der vom Militär beherrschte nationale Sicherheitsrat die eigentliche Kontrolle über das Land.
In den kurdischen Landesteilen war von einer Rückkehr zur Demokratie unter der Regierung Özal noch weniger zu spüren als in der Westtürkei. Dies sollte sich in den nächsten Jahrzehnten weiter fortsetzen und gilt im Prinzip auch noch heute.
Die PKK hatte sich nach dem Militärputsch zunächst aus taktischen Gründen in großen Teilen in den Libanon zurückgezogen. Nur in der Region Elazig-Dersim kam es 1981/82 noch punktuell zu bewaffneten Aktionen als Akte der Selbstverteidigung. Ab Sommer 1982 kehrten erste bewaffnete Propagandaeinheiten der PKK nach Kurdistan zurück. Dabei stand jedoch die politische Arbeit und die Rekrutierung neuer Kämpfer im Vordergrund.

Die Zeit zwischen 1984 bis Ende der 80er-Jahren waren geprägt von einer Zuspitzung des bewaffneten Konflikts. In diesem gelang es der kurdischen Guerilla teilweise, die Kontrolle über ganze Gebiete Kurdistans zu erlangen und dort staatsähnliche Strukturen aufzubauen.
Die türkische Seite ihrerseits ging zu einem Spezialkrieg über und antworte mit massivem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung, wie Massakern an der Zivilist_innen, der Einführung des Dorfschützersystems und der Bildung von Todesschwadronen des später als JITEM bekannt gewordenen Gendarmeriegeheimdienstes sowie massiver Dorfvertreibungen. Diese Methoden des „Schmutzigen Krieges“ fanden in den 90er Jahren einen ihrer Höhepunkte.
Im Einzelnen kann zu diesem Zeitraum folgendes gesagt werden:
Am 15. August 1984 besetzten Guerillaeinheiten vorübergehend die Städte Eruh, Semdinli und Çatak in den drei kurdischen Regionen Botan, Hakkari und Van und es wurde die Gründung der HRK (Hêzên Rizgariya Kurdistan – Einheit zur Befreiung Kurdistans) bekannt gegeben.
Im Verlauf der folgenden Jahre konnten die PKK und die Guerilla ihren Einfluss weiter ausweiten und ihre militärische Präsens weiter ausbauen. So führte die Guerilla 1985 zahlreiche Angriffe in den Kreisstädten und Gebieten Şırnak, Çatak, Uludere und Midyat durch. Im Oktober 1986 wurde auf dem 3. Kongress der PKK eine Vergrößerung der Guerillaeinheiten unter einem gemeinsamen Oberkommando und ein Übergang von der Phase der bewaffneten Propaganda zum Guerillakrieg beschlossen. Es wurde offiziell die Umwandlung der HRK in die Volksbefreiungsarmee Kurdistans (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – ARGK) verkündet.
Die militärische Bedeutung der PKK wurde immer deutlicher.
In Uludere und Semdinli gelang es der PKK, der türkischen Armee auch tagsüber bei Gefechten eine Niederlage zuzufügen. Erstmals bombardierte die türkische Luftwaffe am 15. August 1986 ein PKK-Camp im Nordirak. 1986 und 1987 erlitt die nun straffer organisierte PKK nur jeweils rund vierzig Verluste. Die Guerilla weitete ihren Kampf in fast alle Regionen Nordkurdistans aus.
Gleichzeitig gewann die kurdische Bewegung auch auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene immer mehr an Einfluss und Bedeutung. 1985 erfolgte die Gründung der ERNK (Eniya Rizgariya Neteweyî ya Kurdistanê – Nationalen Befreiungsfront Kurdistans), in der die verschiedenen Schichten der Gesellschaft wie Frauen, Jugend, Arbeitende und Intellektuelle sich organisierten.
Die PKK beschloss 1986 auf ihrem 3. Kongress den Aufbau einer eigenen Gerichtsbarkeit und das Sammeln von Revolutionssteuern sowie die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit und Diplomatie auch auf internationaler Ebene. Neben den Guerillaattacken auf dem Land sollte die politische Arbeit in den Städten vorangetrieben werden, um der Propaganda des Amtes für Spezialkrieg ideologisch und organisatorisch zu begegnen.
Das Ergebnis dieser Bemühungen wurde Ende der 80er-Jahre mit den ersten zivilen Massenprotesten insbesondere in Silopi und Şırnak sichtbar.
Staatlicherseits wurde nach der Gründung der HRK zunächst versucht, mit massiv aufmarschierendem Militär die Guerilla in kürzester Zeit zu besiegen. Dieser Versuch scheiterte jedoch. Der türkische Staat reagierte im Frühjahr 1985 mit einem Spezialkrieg gegen die sich ausbreitende Guerillabewegung. Konkret bedeute dies folgendes:
Eine „Behörde für besondere Kriegsführung“ wurde geschaffen, um mit einer aus militärischen und politischen Maßnahmen bestehenden Strategie die Guerilla zu zerschlagen und durch Einschüchterung die Bevölkerung von einer Unterstützung des Freiheitskampfes abzuhalten. Kurdische Stämme, die loyal zur Kolonialmacht standen oder Menschen, die sich aus materieller Not oder Zwang dazu entschlossen, wurden zu Dorfschützern ernannt und vom Staat mit Geld und Waffen ausgestattet. In den folgenden zehn Jahren wuchs das Dorfschützersystem auf rund 50.000 dieser staatlichen Milizmänner an. Dieses System besteht bis heute fort.
Im Juli 1987 wurde ein Koordinations- bzw. Ausnahmezustandsgouverneur für sämtliche „südliche und östliche Provinzen“ der Türkei ernannt, dem u.a. der Einsatz einer militärisch-zivilen Sicherheitseinheit, die Befehlsgewalt über ein „Sicherheitscorps“ und andere staatliche Einheiten, vor allem dem Geheimdienst MIT, übertragen wurde .
Über sämtliche kurdische Landesteile wurde der Ausnahmezustand verhängt, der in einzelnen Provinzen bis zum November 2002 aufrechterhalten wurde.
Konterguerillaeinheiten der Armee, die vor allem unter Anhängern der faschistischen Grauen Wölfe rekrutiert wurden, verübten Massaker an der Zivilbevölkerung. Todesschwadronen des später unter dem Namen JITEM bekannten Gendarmeriegeheimdienstes, denen auch PKK-Überläufer angehörten, ermordeten politische Aktivist_innen. Ab 1988 wurden ganze Dörfer zwangsgeräumt und zerstört. Bis 1999 wurden auf diese Weise rund 4000 Dörfer zerstört und mehrere Millionen Menschen vertrieben.
Immer wieder kam es dazu, dass versucht wurde, Dorfzerstörungen, Folter und extralegale Hinrichtungen von Dorfbewohner_innen, die von Sicherheitskräften begangen wurden, der PKK zur Last zu legen. So berichtet der ehemalige Dorfschützer Ethem Seyhan im Jahr 2010 gegenüber der Nachrichtenagentur DIHA über 12 Jahre Folter an den Menschen in Şırnak und Mardin durch Gewalttaten der Dorfschützer und Soldaten. Er berichtet, wie sie in den 90er Jahren zusammen mit dem Kommandanten des Kutlubey Jandarma Stützpunkts Haydar Kürekçi und dem Dorfschützerführer Cengiz Kaymaz in den Kreisen Idil, Midyat und Nusaybin etwa 20 Dörfer verbrannt haben . Er sagt dann weiter:

„Wir haben die Dorfbevölkerung gefoltert. Und die Schuld dafür der PKK gegeben“.
Dass auch heute noch eine Aufarbeitung dieser Verbrechen nicht nur nicht gewollt wird, sondern Menschen, die derartiges öffentlich machen, auch heute noch starker Repression ausgesetzt sind, zeigt sich daran, wie auf die Aussage des Dorfschützers reagiert wurde.
Er berichtet diesbezüglich folgendes:
…“Das was ich dem Journalisten erzählt habe kam in einer Zeitung. Ich habe verstanden, dass ich deswegen festgenommen worden bin. Cengiz Kaymaz saß auch da. Zuerst haben sie mich gefragt, ob die Nachricht von mir sei oder nicht. Ich sagte, sie sei von mir. Daraufhin fingen zwei Dorfschützer, die neben mir standen an mich zu schlagen. Danach trennten uns die Soldaten. Dann schrie der Militärkommandant mich an „Wer bist du Junge! Das was du erzählt hast hat Ankara durcheinander gebracht.“ Ich sagte: „Ihr habt uns jahrelang benutzt und danach schiebt ihr alle Schuld auf uns. Daraufhin beleidigte er mich und bedrohte mich mit dem Tod“
Zwar wurde er später nach Befragung durch die Staatsanwaltschaft entlassen, aber er konnte nicht mehr in sein Dorf zurückkehren:

„Dort wurde ich dutzende Male von den Dorfschützern bedroht. Weil die Drohungen zunahmen, bin ich mit meiner Familie nach Izmir gegangen. “
Der türkische Staat setzte diese Methoden des Schmutzigen Krieges in den 90iger Jahren weiter fort, mehr als 3.600 Dörfer wurden zerstört, mindestens 3 Millionen Menschen vertrieben, ca. 17.000 Menschen durch die Konterguerilla bzw. „unbekannte Täter“ extralegal hingerichtet, die sich gründenden legalen kurdischen Parteien verboten, die Natur Kurdistans zerstört, tausende Oppositionelle und Intellektuelle in den kurdischen Städten ermordet, es erfolgten breite Bombardierungen ganzer Regionen und Lebensmittelembargos.
Dass es sich dabei um Staatspolitik handelte und es keineswegs Taten waren, die in Eigeninitiative einzelner Kommandeure oder Soldaten begangen wurden, bestätigt auch der pensionierte Generalleutnant Atilla Kıyat im Jahr 2010 vor dem 6. Schwurgericht in Diyarbakir.

„Zu dieser Zeit haben jene, die dieses Land verwalten, Morde unbekannter Täter als Maßnahme gegen den Terrorismus angesehen, denke ich. Denn ein Oberleutnant kann nicht sagen, `Ich mache Hasan und Mehmet fertig und so beende ich den Terrorismus. ´ Jemand hat ihnen den Befehl gegeben. “
Die zahlreichen einseitigen, seit 1999 fast durchgängigen Waffenstillstände der PKK wurden von staatlicher Seite zu keinem Zeitpunkt erwidert.
Auf kurdischer Seite waren die 90er Jahre von einem immer stärken Einfluss der Bewegung auf breite Teile der kurdischen Bevölkerung geprägt, bis zum Bilden einer quasi Parallelstruktur zu den staatlichen Strukturen. Der Widerstand wurde nicht mehr nur von der bewaffneten Guerilla, sondern von einem immer stärker werdenden zivilen Widerstand geprägt. Gleichzeitig war die PKK seit 1992 immer wieder um eine friedliche Lösung des Konfliktes bemüht. Die 1993, 1995 und 1998 ausgerufenen einseitigen Waffenstillstände wurden jedoch zu keinem Zeitpunkt von der Türkei erwidert.
Die Entwicklung in den 1990er Jahren verlief in groben Zügen wie folgt:
Ende der 1980er Jahre regte sich erstmals seit den 1970er Jahren wieder ziviler Widerstand. So demonstrierten 2.000 Menschen im September 1989 in Silopi an der türkisch-irakischen Grenze vor einem Regierungsgebäude gegen die Ermordung von sieben Bauern durch die Konterguerilla. In Şırnak protestierten Dorfbewohner gegen Vertreibungen.
Wie noch heute reagierte der Staat mit weiteren Menschenrechtsverletzungen und massiver Repression auf den Proteste. In der Region Silopi wurden etwa vierzig Zivilist_innen von der Konterguerilla ermordet . Von Seiten des Staates wurde anfangs die PKK als Verantwortliche genannt. Auch an Einwohner_innen des Dorfes lkikaya bei Yüksekova verübte die Konterguerilla am 25. November 1989 ein Massaker . Doch der erhoffte Einschüchterungseffekt blieb aus. Stattdessen waren die noch auf einzelne Dörfer und Städte beschränkten Proteste die Vorboten einer kurdischen Intifada zu Beginn der 1990er Jahre. Der erste große Serhildan (Volksaufstand) fand am 14.03.1990 in Nusaybin in der Provinz Mardin für einem gefallenen Guerillakämpfer mit vielen tausenden Teilnehmer_innen statt. Eine Woche später, am 20.03.1990, wurde Newroz zum ersten Mail offen in Cizre gefeiert. Am 25.01.1991 kamen in Kulp-Lice bei Diyarbakir Tausende aus Protest zusammen.
Ein weiteres Zeichen für die immer breitere Verankerung der kurdischen Bewegung in der Zivilbevölkerung war die am 07.06.1990 erfolgte Gründung der ersten prokurdischen Partei, der HEP (Halkın Emek Partisi – Arbeiterpartei des Volkes). Die HEP, die wie alle ihre Nachfolgeparteien auf eine Demokratisierung der Türkei, die Einhaltung der Minderheiten- und Menschenrechte sowie eine friedliche Lösung der kurdischen Frage orientierte, wurde am 14. Juli 1993 vom türkischen Verfassungsgericht wegen vorgeblich separatistischer Politik verboten . Die HEP-Abgeordnete Leyla Zana hatte bereits 1991 im türkischen Parlament zur Geschwisterlichkeit der türkischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen gesprochen, was zu Tumulten führte. Viele der Aktivist_innen der Partei wurden ermordet. Darunter auch der Vorsitzende der HEP und der örtlichen Sektion des Menschenrechtsvereins (IHD), Vedat Aydin. Er wurde am 5. Juli 1991 von türkischen Spezialeinheiten aus seinem Haus geholt, bis zur Unkenntlichkeit misshandelt und ermordet. Der Leichnam von Vedat Aydin wurde am 8. Juli 1991 unter einer Brücke auf einer Landstraße gefunden . An der Trauerfeier am 10. Juli 1991 im Zentrum von Diyarbakir nahmen über 100.000 Menschen teil. Die Demonstration wurde von militärischen Spezialeinheiten und der Polizei angegriffen. 11 Personen starben und mehrere hundert wurden durch Kugeln verletzt. Auch der 74-jährige Schriftsteller, Journalist, Historiker und Mitbegründer der Arbeiterpartei des Volkes (HEP) und des Kurdischen Instituts Istanbul, Musa Anter, wurde von der Konterguerilla in Diyarbakirentführt, erschossen und am 20.09.1992 tot aufgefunden .
Die PKK setzte ihre gewachsene Stärke in Nordkurdistan in den Aufbau eigenständiger proto-staatlicher Institutionen um. Entsprechend ihrer auf dem 4. Parteikongress 1990 gefassten Beschlüsse begann die PKK mit der Schaffung einer Botan-Behdinan-Kriegsregion, die von Hakkari, Van, Siirt, Şırnak und Mardin im Norden bis Zaxo an der irakisch-syrischen Grenze und Lolan an der irakischen Grenze reichen sollte. In den nordkurdischen Regionen verfügte die PKK über eine faktische Doppelmacht mit der türkischen Armee, doch Sitz der Regierung sollte Behdinan im irakischen Teil Kurdistans sein, da sich dort Ausbildungscamp, Medizinstation, Pressebüros und dergleichen befanden.
Die PKK erließ 1991 eine Amnestie für Dorfschützer, die ihre Kollaboration mit dem Staat beendeten. Hunderte Dorfschützer legten daraufhin die Waffen nieder. Die Bevölkerung wandte sich bei Problemen nicht mehr an die türkische Polizei oder Justiz, sondern an die von der Guerilla aufgebauten Volkskomitees. Statt Steuern an den Staat zahlten viele Menschen Revolutionssteuern an die PKK.
Die türkische Regierung reagierte auf diese Entwicklungen im April 1991 mit einem neuen Anti-Terrorgesetz, dass nicht nur die PKK, sondern alle, die sie unterstützten, zu Terroristen und Angriffszielen des Staates erklärte.
Ab 1992 setzte der türkische Staat den „Spezialkrieg“ in Kurdistan nach US-amerikanischem Muster (wie in Vietnam angewendet) um. So wurden systematisch Dörfer in Nord-Kurdistan zerstört (knapp 4.000 an der Zahl), mindestens drei Millionen Menschen vertrieben, Umweltzerstörungen begangen (Niederbrennen von Wäldern, Äckern und Gärten) und tausende Oppositionelle und Intellektuelle in den kurdischen Städten ermordet. Ziel des türkischen Staates war es, den Kontakt zwischen der Guerilla und der Bevölkerung zu trennen, wozu gegen gewisse Regionen in Şırnak, Hakkari und Dersim auch Nahrungsmittelembargos verhängt wurden. Bei der Ermordung von Oppositionellen und Intellektuellen in den kurdischen Städten wurde die Hisbollah, eine bis dahin kleine radikalislamische Gruppe in Kurdistan, vom Staat instrumentalisiert. Der vom Militär zuvor gegründete Geheimdienst JITEM führte die Attentate, Bombenangriffe etc. gegen Kurd_innen und andere Oppositionelle im Rahmen dieses Spezialkrieges durch. Konkret äußerte sich dies beispielsweise wie folgt:
Bei den bisher größten Newroz-Feierlichkeiten in Nord-Kurdistan am 21.03.1992 erschossen die türkischen Streitkräfte über 100 Kurd_innen, vor allem in den Städten Cizre, Şırnak und Nusaybin. Tagelange dauerten die Unruhen und Proteste an. Dies war ein neuer Höhepunkt des Staatsterrors gegen die Bevölkerung. Ausländische Beobachter_innen berichteten von dem Einsatz deutscher Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung.
Die am 30.05.1992 erstmals erscheinende erste prokurdische Tageszeitung in türkischer Sprache, Özgür Günden, wurde mit harter Repression überzogen. Viele Menschen, die als Journalist_innen und im Vertrieb der Zeitung tätig waren, wurden ermordet oder verletzt. Die Vertriebsfahrzeuge und Kioske, die Özgür Gündem verkauften, wurden in mehreren Städten niedergebrannt. In den Jahren 1992 bis 1994 wurden 13 Journalist_innen ermordet. Durch die Vielzahl von Angriffen und Behinderungen war Özgür Gündem gezwungen, ihr Erscheinen am 15. Januar 1993 vorübergehend und im Februar 1994 endgültig einzustellen. Dieser Umgang mit Özgür Gündem ist nur der Anfang einer bis heute andauernden (und gerade derzeit türkeiweit und allumfassend durchgeführten) systematischen Repression gegen Medien, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die publizistische Mauer des Schweigens über den „Krieg“ in Kurdistan (bzw. heute auch bspw. über die Verbindung der türkischen Regierung zum IS) zu brechen. In den folgenden Jahren entstanden trotz massenhafter Erscheinungsverbote und Schließungen immer weiter Tages-, Wochen- oder Monatszeitschriften (wie Yeni Gündem, Özgür Ülke, Özgür Halk, Demokrasi, Yeni Ülke, Yeni Politika, Özgür Politika, Yeni Gündem usw.). Von Anfang an bis heute sehen sich Journalist_innen, Herausgeber_innen und auch Verkäufer_innen prokurdischer Zeitungen (derzeit auch die aller regierungskritischen Medien) mit schärfster staatlicher Verfolgung konfrontiert. Dutzende von ihnen werden in staatlichem Auftrag ermordet und gehören offizielle zu den Opfern „unbekannter Täter“.
Ein weiteres Ziel extralegaler Hinrichtungen war die Menschenrechtsarbeit. So wurden seit der Gründung des Menschenrechtsvereins Insan Halklari Dernegi (IHD) 13 leitende Funktionär_innen von „unbekannten Tätern“ (wahrscheinlich aus den Reihen oder dem Umfeld des Tiefen Staates) ermordet. Der neueste Fall war die Ermordung von Tahir Elci (Siehe Oben Teil A, 2. Teil, C).
Am 18.08.1992 wurden 70 % der Gebäude in der kurdischen Stadt Şırnak durch türkisches Militär mit schweren Waffen zerstört. Als Anlass diente ein angeblicher Angriff der Guerilla in der Stadt. Drei Tage lang wurde die Stadt bei dieser Zerstörung abgeriegelt. Infolge der Angriffe wurden 18 Menschen ermordet.
Als Rache für ein –vermutlich von der Konterguerilla verübtes – Attentat auf einen General zerstörte die Armee im Oktober 1993 große Teile der Kreisstadt Lice in der Provinz Diyarbakir.
1992 erreichte der Krieg zwischen der PKK-Guerilla und dem türkischen Staat eine bis dahin nie dagewesene Intensität und Ausweitung. Auch in den Provinzen Dersim und Maraş nahmen die militärischen Auseinandersetzungen erheblich zu. Es standen sich 1992 etwa 10.000 PKK-Guerillas und über 300.000 türkische Sicherheitskräfte gegenüber. Die Kämpfe fanden im Jahr 1992 vor allem zwischen April und Oktober statt, infolgedessen nach PKK-Angaben einige tausend Soldaten und viele hunderte Guerillas starben.
In diesem Jahr wurden von der türkischen Armee etwa 500 Dörfer zwangsgeräumt (die meisten davon niedergebrannt) und ihre Bewohner_innen vertrieben.
Insgesamt kam es in dieser Zeit, wie auch bereits in der Zeit zuvor und auch später, zu einer unvorstellbaren Anzahl von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Guerillas und der Zivilbevölkerung durch türkische Militärs und Sicherheitskräfte. Einige Beispiele, die die Brutalität und menschenverachtende Vorgehensweise zeigen, mit der vorgegangen wurde, lässt sich dem Buch eines ehemaligen Unteroffiziers entnehmen, der in den kurdischen Provinzen der Türkei eingesetzt war und über selbst erlebte Kriegsverbrechen aus den Jahren 1993 und 1994 berichtet .

So beschreibt er, wie es am 4. April 1993 in den Morgenstunden zwischen den beiden Ararat-Gipfeln zu einem Gefecht gekommen ist, ein Offizier und zwei Guerillas starben und die Guerillas umzingelt wurden. Weiter heißt es dann wörtlich:

„Die Umzingelung dauerte insgesamt fünf Tage. Es waren wohl insgesamt 7 Personen; fünf Guerillas flohen, zwei blieben zurück … Am fünften Tag kam die Nachricht, dass einer tot der andere Verletzt festgenommen wurde… Die Soldaten, die zur Operation ausgerückt waren, kehrten in ihre Stationierungsgebiete zurück. Sie brachten die Verletzte Person mit. Die Person war am Bein verletzt . …wir erfuhren, dass der Verletzte Guerilla in Malatya geboren war. Er studierte an der Inönü Universität bis zum 2. Semester. Sein Name war Doğan. Er war mittelgroß. Es war einer der gut türkisch sprach . … Es wurde gegenüber der Bevölkerung gesagt, er wäre in Erzincan inhaftiert worden. Als wir nach Kağızman zurückkehrten, hörte ich, dass Doğan, weil er nicht aussagte, in den Tendürek Bergen aus dem Hubschrauber geworfen wurde und starb, seine Freunde wurden inhaftiert …
In einem anderen Fall schildert er die Gefangennahme von vier Dorfbewohnern und die extralegale Hinrichtung des einen. Es heißt dazu:

„Wir befinden uns im Herz von Botan, wo sich Cudi und Gabar treffen, im Besta Tal… es ist der 7. Juli— gegen 10.00 morgens. Die Kayseri Kommando Einheit war gerade vom Dienst gekommen. Sie brachten 4 Dorfbewohner mit. Zwei waren um die 40 Jahre alt, die anderen beiden zwischen 65 und 70. In der Einheit gab es unterirdische Bunker. Dort wurden sie untergebracht. … Einer der Alten war Şeyh Süleyman…In dieser Nacht blieben sie unter Kontrolle der Soldaten in dem Bunker. Am Morgen nahm die Kayseri Kommando Einheit sie mit zum Dienst. An diesem Tag kamen sie nicht wieder. Am Folgenden Tag gegen zwei brachten sie von den Dorfbewohnern drei wieder mit. Sie wurden begleitet von einem Kommandokorporal, zwei Soldaten, einem Offiziersanwärter. Sie schlugen sie und schleiften sie heran. Der Korporal war auch Imam, der Offiziersanwärter war ebenfalls Absolvent eines Religionsstudiums. … ich ging zu ihnen hin und fragte `Gestern wart ihr vier, was ist mit dem anderen passiert? ´ … Şeyh Süleyman wandte sich an seine Begleiter (Anm. ÜS. Er meint die Militärs) … Er sagte, `Sag es´, `Allah akzeptiert das nicht, er war mein Sohn, sie haben ihn umgebracht. ´
Ich hatte es verstanden. Als ich fragte `Wie ist das passiert? ´ Erzählte mir der Jüngere lückenhaft: Als wir im Cudi waren fragten sie den Sohn von Onkel Süleyman `Zeig uns den Ort wo die Terroristen sind. ´ Er sagte `Ich weiß es nicht. ´ Der Kommando Hauptmann Mustafa sagte `Macht seine Hände los, er soll abhauen. ´ Er ging nicht weg. Sie erschossen ihn mit zwanzig Kugeln. Sie erschossen den Sohn vor den Augen seines Vaters.“
Im Weiteren beschreibt er einen klassischen Fall von Kollektivstrafe und Dorfzerstörung, der im Besta Tal stattfand. Er beschreibt es wie folgt:

„Es war Morgen. Es war viel los im Besta Tal. Gegenüber unserem Bataillon gab es einen Weiler mit einigen Häusern. Die Kommandos führten dort eine Razzia durch, wen sie fanden, sammelten sie und reihte sie auf der Straße von Şırnak nach Şenoba auf. Das Jammern und Wehklagen zerreißt einem das Herz. (Anm. d.Üs. Sie werden gefragt): “Wo waren sie bei der Aktion (d. Guerilla Anm. D.Üs.) am Abend? Es gibt nichts mehr was nicht gemacht wurde. Ihre Häuser wurden verbrannt, sie wurden alle an den Händen gefesselt… Sie werden beschuldigt, sie hätten den Angriff ausgeführt. “
Noch ein letzter Fall aus seinen Schilderungen sei erwähnt, der die Bedeutung sexueller Gewalt im Vorgehen der Sicherheitskräfte als Mittel der Erniedrigung und auch der Entwürdigung vor allem von Frauen beispielhaft deutlich macht. Der Soldat beschreibt zunächst, dass seine Einheit in einen Hinterhalt gerät, bei dem acht Soldaten und ein Unteroffizier starben und die Guerillas danach aus der Region geflohen seien. Weiter heißte es dann wörtlich:

„Als sie flohen eröffneten die Panzer das Feuer, eine Frau und ein Mann starben, aber ihre Leichen blieben in der Schlucht. …Am folgenden Tag forderten sie Flugzeuge an. Das Gebiet wurde von drei F-16 bombardiert. Ab nachts um 24 Uhr wurde mit Mörsern und Artillerie geschossen. Am Nachmittag gingen Spezialeinheiten in die Region. Wir bildeten die Nachhut.
Wir drangen fast zur gleichen Zeit mit den Spezialeinheiten ins Tal vor. Die Polizisten der Spezialeinheit, die dabei waren, standen vor den beiden Toten. Der Körper des Mannes war zerfetzt von Kugeln, der Frau war in den Kopf geschossen worden. Als ich zur Spezialeinheit kam, befand sich ein Polizist aus Adana mit dem Namen Ramazan hinter einem Felsblock. Der Kommandant unserer Einheit, der Hauptmann Mehmet Özpolat fragte, was er mache. Der Polizist Ramazan schrie:
“Ich erledige (Anm. D.Üs. sexuelle Konnotation) die tote Terroristin.”
Der Hauptmann: “Was bedeutet das sei nicht bescheuert, fickt man eine Tote?”
“Wir ficken sie.”
Hauptmann: “Das kann nicht sein, ihr seid verrückt geworden, so eine Dummheit kann nicht sein.”
Davor hat es Namık, einer aus Eskişehir auch so gemacht. “
Wie auch noch heute, wurde auch damals das Vorgehen auf türkischer Seite von entsprechenden öffentlichen Äußerungen der Verantwortlichen begleitet. Hier seien nur einige Beispiele genannt.
In einer Rede des damaligen Präsidenten Özal vom 24.07.1991 an die kurdische Bevölkerung in Diyarbakir heißt es u.a.:

„Die Köpfe derjenigen, die die Unteilbarkeit des Landes antasten wollen, werden mit Sicherheit zermalmt werden… Ich möchte das ganz klar sagen, und zwar insbesondere an diesem Ort („Zaman“ vom 25.07.1991, zitiert nach Bericht der medico-Delegationsreise zur Ermordung Vedat Aydins, Frankfurt 1991, Seite 56).
Ende 1992 erklärte Özal u.a.:

„Denken Sie, dass es in dieser Region noch Menschen geben wird, wenn wir so vorgehen wie Saddam? Sollte es Unruhen in der Türkei geben, werden Menschen dieser Region die Verlierer sein“ (Milliyet vom 1. Februar 1992).
Diese Drohung richtet sich keineswegs nur gegen die PKK, sondern auch gegen die legale Opposition. Dies ergibt sich schon aus einer Äußerung Özals vom 8. August 1991 in der Hürriyet:

„Wer die Einheit des Landes zerstören will, wird zermalmt werden. Wer es mit Terror versucht, wird zehnmal zermalmt werden“.
1994 erklärte schließlich die damalige Minsterpräsidentin Tansu Ciller, dass sie im Besitz einer Liste von Unterstützern der PKK sei und kündigte an, sich an diesen zu rächen. Die Folge war die gezielte Ermordung vieler kurdischer Politiker_innen, Geschäftsleute und Intellektueller durch Todesschwadronen. Der damalige Generalstabschef Dogan Güres wurde am 28.07.1994 in der Hürriyet mit den Worten zitiert:

„Wenn die demokratische Höflichkeit nicht wäre, hätten wir das Problem in sechs Monaten gelöst“.
In den folgenden Jahren wurden die einseitigen Waffenstillstände der PKK seitens des türkischen Staates immer wieder mit einer Weiterverfolgung der Vernichtungspolitik und einem Intensivieren der Angriffe beantwortet.
So wurden in den 83 Tagen des ersten Waffenstillstandes 1993 112 Guerillakämpfer und 32 Zivilisten ermordet und 32 Dörfer entvölkert.
Nach dem Ende des Waffenstillstands intensivierten sich die Kämpfe. Innerhalb von fünf Wochen kamen 362 Soldaten, 52 Dorfschützer und 138 Guerillakämpfer ums Leben. Allein im Herbst 1994 zerstörte das Militär in der Provinz Dersim 137 der 399 Dörfer. Über ganze Regionen wurden Lebensmittelembargos verhängt, um die Unterstützung der Dorfbewohner_innen für die Guerilla abzuwürgen.
Begleitet wurde dies von Äußerungen wie der des damaligen Generalstabschefs Güres im Oktober 1994:

„Wir werden die Räuberbanden ausrotten, indem wir das Meer austrocknen, um den Fisch vom Wasser zu trennen“.
Im Januar 1995 erklärte die PKK gegenüber dem Internationalen Roten Kreuz in Genf, künftig die Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsopfer anzuerkennen . Ankara hingegen weigerte sich, die Zusatzabkommen von 1977 zu unterzeichnen, die nationalen Befreiungsbewegungen als Kriegsparteien definieren und Angriffe auf die Zivilbevölkerung verbieten.
Stattdessen wurde auch der im Dezember 1995 verkündete zweite einseitige Waffenstillstand der PKK vom türkischen Militär mit einer unverminderten Vernichtungspolitik und Intensivierung seiner Angriff beantwortet.
Obwohl das türkische Militär in vor der Öffentlichkeit geheim gehaltenen Gesprächen mit der PKK 1998 einen einseitigen Waffenstillstand als Voraussetzung für einen neuen Prozess eines Dialoges formulierte, wurde der schließlich am 28.08.1998 verkündete dritte einseitige Waffenstillstand der PKK erneut mit Angriffen des türkischen Militärs beantwortet.
Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan auf rechtswidrige Weise von Geheimdiensten entführt, festgenommen und in völlige Isolationshaft auf die Insel Imrali verbracht, wo er bis heute inhaftiert ist. Die zunächst verhängte Todesstrafe wurde später nach Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Diese verbringt er in nahezu totaler Isolation, die dadurch verschärft wird, dass es immer wieder dazu kommt, dass selbst seine Anwält_innen mit absurden Begründungen teilweise für Wochen, oft Monate bis Jahre der Zugang zu ihrem Mandanten verweigert wird.
Am 02.08.1999 rief Abdullah Öcalan die PKK auf, ab dem 1. September (Weltfriedenstag), den bewaffneten Kampf in der Türkei einzustellen und alle bewaffneten Einheiten aus dem türkischen Staatsgebiet abzuziehen. Am 05.08.1999 erklärte der Präsidialrat der PKK:

„Dieser Schritt ist die effektivste Vorgehensweise, um eine verhinderte Demokratisierung der Türkei und die Verschlossenheit gegenüber der kurdischen Frage zu überwinden. Dieser Schritt wird alle Interessen und die Zukunft des kurdischen Volkes vertreten, allen Feindseligkeiten eine Ende setzen sowie den Frieden und Brüderlichkeit entwickeln.“
Damit wurde von Seiten der PKK eine grundlegende Änderung vorgenommen die seitdem die Politik bestimmt.

Britta Eder Petra Dervishaj
Rechtsanwältin Rechtsanwältin

Eine Antwort

  1. Wären die Verfasser der Anzeige um einiges älter, hätten sie mehr Kenntnisse vom Kontext und würden nicht in 1999 beginnen, sondern am 17.04.1993, als Halil Turgut Özal – Staats- und Ministerpräsident der Türkei – abgelebt wurde.
    Der damals 65-Jährige soll kurz vor seinem Tod an der friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts gearbeitet haben, der 1993 schon fast ein Jahrzehnt lang getobt hatte. Die Kämpfe mit den kurdischen PKK-Rebellen festigten den Machtanspruch der Militärs und verhinderten lange Zeit wichtige politische Reformen. Hardliner sollen versucht haben, eine Konfliktlösung zu verhindern, gleichwohl wollte Özal den Armenien-Konflikt mit einer Anerkennung als Völkermord aus der Welt schaffen.
    Wenn heute bei der Rede von Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Hamburg, auch als
    Anhänger der ultranational Bewegung der Graue Wölfe bekannt, von ihm deren Erkennungszeichen als Gruß gezeigt wird, fragt man sich, ob die Strafanzeige der Hamburger Rechtsanwältinnen nicht durchgestochen hat.
    Vielleicht wurde sie auch nur bei der falschen StA eingereicht, um Erfolg zu haben.
    Bilder von Özalan werden in der BRDR verboten, die Mörder Özals können hier mit einem roten Teppich rechnen.

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