Strafanzeige gegen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan in Deutschland.

Erdogan

Strafanzeige gegen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan in Deutschland.

Auch Prominente wie die zweifache Bundesverdienstkreuzträgerin Esther Bejarano, Schauspieler Rolf Becker sowie Sänger und Komponist Konstatin Wecker gehören zu den Anzeigenden.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Bereits vor über 11 Jahren, am 10. Februar 2005, einen Tag vor Beginn der sogenannten Sicherheitskonferenz in München, hatte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe bekanntgegeben, gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und andere nicht wegen Kriegsverbrechen im Irak und Folter von Gefangenen im Gefängnis Abu Ghraib zu ermitteln. Generalbundesanwalt Kay Nehm erklärte dazu, zuständig seien in erster Linie die Behörden des Tatortstaates beziehungsweise der Heimatstaaten der Täter und Opfer, sowie internationale Gerichtshöfe, nicht aber Deutschland. Rumsfeld, der wegen der Strafanzeige in Karlsruhe eigentlich nicht zu der Sicherheitskonferenz am 11./12. Februar 2005 aus Furcht vor einer eventuellen Verhaftung anreisen wollte, kam bzw. konnte nun doch nach München kommen. Er brauchte keinen Haftbefehl mehr in Deutschland zu fürchten.

Die Strafanzeige gegen Rumsfeld hatte der Berliner Rechtsanwalt und mittlerweile Generalsekretär des 2007 von ihm mitbegründeten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, Wolfgang Kaleck, am 30. November 2004 im Namen des Center for Constitutional Rights in New York sowie vier irakischer Staatsbürger gegen den Ex-Verteidigungsminister der USA erstattet. Ende Januar 2005 reichte er weitere den Pentagon-Chef belastende Materialien nach. Neben Rumsfeld waren der ehemalige CIA-Direktor George Tenet, General Ricardo Sanchez sowie weitere Mitglieder der Regierung und der Streitkräfte der USA wegen Kriegsverbrechen und Folter zum Nachteil irakischer Internierter im Gefängnis Abu Ghraib in den Jahren 2003 und 2004 ebenfalls angezeigt worden. Da weder im besetzten Irak noch in den USA mit strafrechtlicher Verfolgung der Folterverantwortlichen zu rechnen war, wurde der Berliner Anwalt von der New Yorker Organisation und den Irakern mit einer Strafanzeige in der Bundesrepublik Deutschland beauftragt.

In einer 172 Seiten umfassenden Anzeige bezog sich der Jurist insbesondere auf Untersuchungsberichte des ehemaligen US-Verteidigungsministers James Schlesinger (Schlesinger-Bericht), der Offiziere George R. Fay und Anthony R. Jones (Fay/Jones-Bericht) sowie von Major General Antonio M. Taguba (Taguba-Bericht), aus denen sich zum einen detailliert die Misshandlungen, Folterungen und Kriegsverbrechen der einzelnen Soldaten sowie zum anderen explizit die Verstrickungen der nun angezeigten niedrig- und höherrangigen Militärs sowie des Verteidigungsministers und des ehemaligen CIA-Direktors ergeben.

Kalecks Anzeige listete eine Reihe von Misshandlungen, Folterungen, Fällen sexuellen Missbrauchs, vorschriftswidrigen Einsatzes von Militärhunden, demütigenden und entwürdigenden Behandlungen sowie des Einsatzes von Isolationsmaßnahmen auf. So wurden zum Beispiel Gefangene geschlagen, getreten, durch Hunde in Angst und Schrecken versetzt, in nacktem Zustand in Gewahrsam gehalten, gezwungen, Sexualstellungen zu simulieren; es wurden ihnen Säcke über den Kopf gestülpt, Stühle auf ihren Körpern zu Kleinholz zerschlagen, sie wurden mit kaltem Wasser übergossen und extremer Kälte ausgesetzt; sie wurden an Hundeleinen geführt und gezwungen zu bellen, es wurde auf sie gespuckt und uriniert und ihnen wurden unbekannte Substanzen in die Genitalien injiziert; die Häftlinge mussten sich in Schichten aufeinanderlegen und masturbieren. Von diesen Misshandlungen und Folterungen wurden Fotos angefertigt, die dann zur allgemeinen Belustigung der Soldaten als Computer-Bildschirmschonern dienten. Einige dieser Fotos wurden publik und belegten öffentlich die Misshandlungen in Abu Ghraib.

Rumsfeld, so Kaleck in seiner Strafanzeige, veranlasste und unterstützte Kriegsverbrechen bzw. stiftete dazu an. Sein »Versagen bei der Aufstellung klarer politischer Richtlinien, sein Druck auf seine Untergebenen, verwertbare Informationen zu beschaffen, und seine öffentlich bekannte Missachtung der Genfer Konvention« hätten »für die Einstellung im militärischen und geheimdienstlichen Bereich (gesorgt), dass ›alles möglich war‹.« Er habe gewusst, »dass Kriegsverbrechen begangen wurden, da er bestimmte illegale Handlungen ausdrücklich angeordnet hatte«.

Rechtlich stützte Kaleck seine Strafanzeige auf das seit Juli 2002 gültige deutsche Völkerstrafgesetzbuch. Nach dessen Paragraph 1 gilt für die in diesem Gesetzbuch aufgeführten Verbrechen gegen das Völkerrecht das Weltrechtsprinzip; demnach wären die deutschen Strafverfolgungsbehörden nach dem Legalitätsprinzip auch dann zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet, wenn Taten von Ausländern gegen Ausländer im Ausland begangen werden. Eine nach den Tatbeständen des Völkerstrafgesetzbuches begangene Handlung müsse demnach keinen Inlandsbezug aufweisen.

Das sah die Generalbundesanwaltschaft, seinerzeit Generalbundesanwalt Kay Nehm, anders und stellte das Verfahren ein.
Seit heute ist die Generalbundesanwaltschaft erneut mit einer Strafanzeige gegen einen ausländischen Politiker konfrontiert.

Es ist der türkische Staatspräsident Recep Tayip Erdogan. Wenn es nach dem Willen und Vorstellungen der Hamburger Rechtsanwältinnen Britta Eder und Petra Dervishaj sowie ihrer Mandanten – Geschädigte und Angehörige von getöteten Opfern, vieler deutscher Rechtsanwälte, Politiker aus dem Bundestag, Historiker und Journalisten sowie Bundesverdienstkreuzträgerin Esther Bejarano, Schauspieler Rolf Becker und dem Sänger und Komponisten Konstantin Wecker – geht, dann hätte sich Erdogan vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden ebenfalls nach dem Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten.

Die Anwältinnen stellten heute im Berliner Maritim-Hotel eine über 200-seitige Strafanzeige gegen Erdogan u.a. vor, die sie bereits am Vormittag zur Generalbundesanwaltschaft nach Karlsruhe gefaxt hatten.

Bei den Geschädigten und Anzeigenden handelt es sich im Einzelnen:

• Faysal Sariyildiz, Abgeordneter der HDP im türkischen Parlament und Geschädigter
• Serdar Erdin, Angehöriger des getöteten Eşref Erdin
• Hasan Demirkaya, Bruder der getöteten Berjin Demirkaya,
weitere Anzeigeerstatter_innen:
• MAF-DAD – Verein für Demokratie und internationales Recht e.V. in Köln, vertreten durch den Vorstand, namentlich Mahmut Şakar, Rechtsanwältin Heike Geisweid, Prof. Dr. Norman Paech, Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner und Dr. Jürgen Schneider.
• Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e. V., Dr.-Ruer-Platz 2
, 44787 Bochum
• Flüchtlingsrat NRW e.V., Wittener Straße 201, 44803 Bochum
• Konstantin Wecker, Liedermacher und Komponist aus München
• Esther Bejarano, Musikerin und aktive Antifaschistin aus Hamburg
• Rolf Becker, Schauspieler aus Hamburg
• Dr. med. Gisela Penteker, Mitglied von IPPNW
• Dr. med. Michael Brune, Psychiater aus Hamburg
• Dr. Dierk-Eckhard Becker, Journalist und Historiker, Aktivist in mehr Demokratie .eV.
• Susi Meret, Associate Professor Ph.D (Doctor of Philosophy), Universität Aalborg,
• Dr. Phil. Cordelia Heß, senior lecuturer, University of Gothenburg, department of historical studies
• Andreas Blechschmidt, Literaturwissenschaftlicher und freier Autor aus Hamburg
• Andrej Hunko, Mitglied des Bundestages und Mitglied in der parlamentarischen Versammlung des Europarates
• Harald Weinberg, Mitglied des Bundestages
• Ulla Jelpke, Mitglied des Bundestages
• Inge Höger, Mitglied des Bundestages
• Annette Groth, Mitglied des Bundestages
• Martin Dolzer, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
• Inge Hannemann, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
• Marion Padua, Stadträtin Nürnberg
• Tilman Zülch, Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker
• Rechtsanwältin Alexandra Wichman aus Hamburg
• Rechtsanwältin Anna Gilsbach LL.M. aus Berlin
• Rechtsanwältin Anette Schmidt aus Hamburg
• Rechtsanwältin Anya Lean aus Berlin
• Rechtsanwalt Björn Stehn aus Hamburg
• Rechtsanwalt Christian Woldmann aus Hamburg
• Rechtsanwältin Elisabeth Burczyk
• Rechtsanwalt Ernst Medecke aus Hamburg
• Rechtsanwältin Fenna Busmann aus Hamburg
• Rechtsanwalt Frank Jasenski aus Gelsenkirchen
• Rechtsanwalt Hendrik Schulze aus Hamburg
• Rechtsanwältin Henriette Scharnhorst aus Berlin
• Rechtsanwältin Ilka Quirling aus Hamburg
• Rechtsanwalt Jan Sürig aus Bremen
• Rechtsanwältin Katrin Niedenthal aus Bielefeld
• Rechtsanwältin Lisa Lührs aus Berlin
• Rechtsanwalt Lukas Theune aus Berlin
• Rechtsanwalt Martin Lemke aus Hamburg
• Rechtsanwalt Matthias Wisbar aus Hamburg
• Rechtsanwalt Nils Rotermund aus Berlin
• Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf aus Berlin
• Rechtsanwalt Ralph Monneck aus Berlin
• Rechtsanwältin Ronska Verena Grimm aus Berlin
• Rechtsanwältin Sigrid Töpfer aus Hamburg
• Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen
• Rechtsanwalt Thomas Jung aus Kiel
• Rechtsanwalt Thorsten Müller aus Bremen
• Rechtsanwalt Volker Gerloff aus Berlin
• Rechtsanwältin Zora Katharina Schalow aus Berlin
• Dejan Lazic, Jurist und Soziologe, Dozent für Migrationsrecht

Angezeigt wurden folgende Personen:

der Präsident der Republik Türkei, Recep Tayyip Erdoğan,
der ehemalige Premierminister der Republik Türkei, Ahmet Davutoğlu,
der Innenminister der Republik Türkei, Efkan Ala,
der ehemalige Verteidigungsminister der Republik Türkei, İsmet Yılmaz,
der ehemalige Verteidigungsminister der Republik Türkei Mehmet Vecdi Gönül
der amtierende türkische Generalstabschef, Hulusi Akar,
der oberste Kommandeur der Landstreitkräfte, Salih Zeki Çolak,
der Kommandeur der Spezialeinheiten der Landstreitkräfte, Mehmet Okkan,
der Generalbefehlshaber der Jandarma, Galip Mendi,
der Kommandeur des 2. Heeres, Sitz in Malatya,
zuständig für die gesamten kurdischen Provinzen der Türkei, Adem Huduti
der Kommandeur des 7. Korps, Ibrahim Yolmaz
der Kommandeur der Jandarma, Gebiet Diyarbakir,
zu dem auch Şırnak und damit Cizre gehört, Musa Çitil,
der Kommandeur der 23. Grenzdivision
der Jandarma in Şırnak, Abdullah Baysar,
der Kommandeur der Jandarma Brigaden von Şırnak, Ali Osman Gürcan
der Kommandeur der Allgemeinen Jandarma von Şırnak, Mustafa Sakaoğlu
der Polizeipräsident von Şırnak, Celal Sel
der Polizeipräsident von Cizre, Ömer Faruk Karakaş
der Gouverneur von Şırnak, Ali Ihsan Su
der Gouverneur (Kaymakan) von Cizre, Ahmet Adanur
der Generalstaatsanwalt von Cizre, Cuma Çoban
der Präsident der Generaldirektion für Sicherheit, M. Celalettin Lekesiz
der Präsident des Dezernats für Sondereinsätze
der türkischen Polizei, Turan Aksoy

sowie weitere noch namentlich unbekannte Personen.

wegen

Kriegsverbrechen (§ 8 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) sowie Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung (§ 8 VStGB).

In der Strafanzeige schildern die Anwältinnen u.a. die Konflikte sowie die politische und menschenrechtliche Situation von 2009 bis heute.

So habe die Anzahl der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegen sogenannte Guerillas und die Zivilbevölkerung seit 2009 erneut zugenommen. Im Jahr 2009 habe der IHD (İnsan Hakları Derneği – Menschenrechtsverein) Diyarbakir (kurdisch: Amed) für das Jahr 2009 im Südosten der Türkei mehr als 1.000 Fälle von Folter registriert. Im ersten Halbjahr 2010 sei es zu 19 dokumentierten extralegalen Hinrichtungen durch staatliche und paramilitärische Kräfte und über 650 dokumentierten Fällen von Folter gekommen. Zudem hätten sich im vergangenen Jahr Berichte über den Einsatz chemischer Waffen und postmortale Verstümmelungen durch das türkische Militär gehäuft.
Parallel dazu sei die Bedeutung der kurdischen Bewegung in allen zivilgesellschaftlichen Bereichen in den kurdischen Provinzen der Türkei immer größer geworden. Der türkische Staat habe darauf mit zunehmender Repression gegenüber diesen Strukturen reagiert und versucht, jedes zivilgesellschaftliche Engagement, sei es auf kommunalpolitischer Ebene, sei es in der Frauenarbeit, dem Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt, wie dem Hasankeyef-Staudamm, der Menschenrechtsarbeit im IHD oder dem anwaltlichen Beistand vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, als Terrorismus zu definieren und zu verfolgen.
Zugleich hätte jede seitdem stattgefundene Wahl bzw. Volksabstimmung gezeigt, dass die Äußerung des demokratischen Willens der kurdischen Bevölkerung, wenn er nicht mit dem Willen der Regierung Erdoğan übereinstimmt, in keiner Weise akzeptiert, sondern mit Repression, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beantwortet werde.

Im Einzelnen wird in der Strafanzeige zum Ausdruck gebracht:

„Eşref Erdin wurde am 10.09.2015 um 23:00 Uhr in der Nacht an der Rückseite seines Hauses in den Rücken geschossen. Als er aus dem Haus getragen wurde, um ins Krankenhaus transportiert zu werden, begann – obwohl die Helfer zuvor das Kennzeichen ihres Fahrzeugs an die Sicherheitskräfte durchgegeben und angekündigt hatten, einen Verletzten zu transportieren – erneut Feuer vom Panzer aus. Deswegen mussten sich seine Helfer mit ihm wieder ins Haus zurückziehen, wo er kurz danach verstarb. Erst nach 22 Stunden konnte der Krankenwagen kommen, um die Leiche zu holen.
(a) Rahmed Erdin Ağar, Tochter von Eşref Erdin, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Wegen der Ausgangssperre, die am 04.09.2015 begann, verließen mein Mann und ich unser Haus, dass in der Varol Straße im Stadtviertel Nur gelegen ist und gingen zum Haus meines Vaters, dessen Adresse wegen Sicherheitsproblemen hier nicht angegeben wird, aber vorhanden ist. Am 09.09.2015 gegen 21:30 Uhr, als die Ausgangssperre noch andauerte, begab sich mein Vater Eşref auf das Dach des Hauses, trotz all unserer Bedenken, da das Gewehrfeuer und der Artillerie Beschuss sehr stark war. Nach wenigen Minuten machten wir uns Sorgen um meinen Vater, der nicht zurückgekommen war.
Wir gingen nach oben, um zu sehen, was passiert war. Meine Mutter schrie, dass mein Vater erschossen/angeschossen worden sei. Wegen des Gewehrfeuers und des Artilleriebeschusses, der sehr stark war, konnten wir meinen Vater 2 Stunden lang nicht holen. Danach konnten wir nach oben gehen und während einer Einstellung des Gewehrfeuers meinen Vater holen. Er war durch einen Schuss in seinen Rücken und seine Niere getroffen worden. Aber er war noch nicht tot.
Ich, mein Mann und unsere Verwandten Mustafa Erding, Kadri Erding und Ekrem Ağar brachten meinen Vater runter in unseren Hof und riefen 112, da sie sahen, dass er noch lebte. Da alle GSM-Leitungen kaputt waren, konnten wir nur 112 anrufen. Sie sagten uns, sie könnten nicht kommen, da die Polizei ihnen dies nicht erlaube und sie könnten wegen der Sicherheitsprobleme nicht kommen. Wir erzählten der Polizei die Situation, in dem wir 155 anriefen, da die Avea Leitungen von Zeit zu Zeit funktionierten.
Sie fragten nach dem Nummernschild unseres Autos und sagten, sie würden den Vorfall an die Polizeiteams weitergeben. Als wir meinen Vater zum Auto brachten und wegfuhren, begann die Polizei massiv auf uns zu schießen. Da registrierten wir, dass die Polizeibeamten, mit denen wir telefoniert hatten besonders unser Kennzeichen weitergegeben hatten, so dass wir in der Umgebung gefangen waren unter Kontrolle der Polizei. 7-8 Schüsse trafen unser Fahrzeug und die Reifen. Wir mussten unverzüglich zu unserem Haus zurück. Wir brachten meinen Vater ins Haus und versuchten, wie wir ihm selbst helfen können mit unseren eigenen Möglichkeiten. Er hatte regelmäßigen Puls und konnte bis zum Morgen noch atmen. Wir mussten warten bis zum Abend desselben Tages (10.09.2015). Nachdem wir bemerkt hatten, dass mein Vater in den Morgenstunden gestorben war, taten wir Eis um seinen toten Körper wegen des heißen Wetters und der Stromunterbrechung. Gegen Abend kam eine Delegation mit dem Abgeordneten von Şırnak, Faysal Sariyildiz, mit einem Krankenwagen und sagte wir können den Leichnam an den Krankenwagen übergeben. Und der Krankenwagen konnte nicht bis vor unser Haus kommen. Wir wickelten den toten Körper meines Vaters in ein Betttuch und trugen ihn mit meinem Ehemann und unseren Nachbarn zum Krankenwagen.
Nachdem wir die Leiche zum Krankenwagen gebracht hatten, kamen wir zurück und während wir zurück gingen hat die Polizei zunächst in die Luft geschossen, dann versucht uns zu treffen, aber ohne Verletzungen konnten wir in die Straßen entkommen.
Sie brachten den Leichnam meines Vaters zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak für eine Autopsie. Meine Onkel Abdulrahim und Abdurrahman Erdin, die aus Deutschland kamen wurden angerufen und ins staatliche Krankenhaus von Cizre gebeten.“
(b) Rahmet Erdin Ağar, (34) gegenüber HRW :
„Rahmet Erdin Ağar sagte, dass sein Vater, Eşref Erdin, (60), am 09. September auf dem Dach seines Hauses im Stadtviertel Nur erschossen wurde. Für 3 Tage hörten wir nur Geschützfeuer. Mein Vater ging hoch auf das Dach, um nach dem Wassertank zu sehen, dass die Wasserversorgung unterbrochen war. Es gab keine Elektrizität. Wir waren unten. Er war für einige Zeit weg und kam nicht runter. Meine Stiefmutter ging hoch, um zu sehen, was er tat und entdeckte ihn mit dem Gesicht in einer Blutlache, als würde er beten.
Er war in seinen Rücken geschossen worden, aber er war nicht tot. Wir riefen über 112 einen Krankenwagen. Wir können nicht kommen, sagten sie oder sie erschießen uns. Wir riefen die Notfallnummer 155 an und gaben das Nummernschild des Autos meines Vaters durch, damit sie wussten, dass wir es waren, die kamen. Wir brachten den Körper in das Auto und fuhren aus dem Hof und als wir auf die Kreuzung bogen, schoss die Polizei unmittelbar auf uns. Wir wussten, dass es die Polizei war, weil das Feuer direkt von dort kam, wo sie positioniert waren. Das Auto ist ein weißer Jeep voll mit Kugellöchern und hat ein 33er Nummernschild (ein Mersin Nummernschild).
Wir mussten umdrehen oder wir wären erschossen worden. Mein Vater starb. Am 11. September konnten wir seine Leiche mit der Hilfe des Parlamentsabgeordneten, Faysal Sariyildiz, in die Leichenhalle des Krankenhauses bringen.“
(9) Zeynep Taşkın (18)
Zeynep Taşkın ging zu den Nachbarn, um ihren Vater anzurufen, der sich wegen der Ausgangssperre außerhalb von Cizre aufhielt und rief ihn von dem Telefon der Nachbarn aus an. Nach dem Anruf, als sie gerade mit Maşallah Edin und ihrem Baby, Berxwedana Taşkın, das Haus verließ, wurde sie von Kugeln durchsiebt, obwohl sie ihr Baby auf dem Arm hatte. Zeynep Taşkın verlor ebenso ihr Leben wie Maşallah Edin (Siehe Teil B, 1. Teil, C I 1. (10)), das Baby wurde verletzt, aber überlebte (Siehe unten unter Teil B, 1. Teil, C II 4.). Alle die versuchten, ihr zu helfen, wurden ebenfalls beschossen, einige von ihnen verletzt, wie Ayşe Kolin und Ekrem Dayan.
(a) Hassan Taşkın, Vater von Zeynep Taşkın gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich war in Zaxo als die Ausgangssperre am 04.09.2015 um 19:00 Uhr begann, da ich ein Fahrer bin. Ich blieb in Zaxo für ca. 13 Tage bis die Ausgangssperre beendet war. Danach kam ich in die Türkei. Als ich Cizre betrat, hielt die Ausgangssperre noch an. Ich blieb in Hüsnü Igdis Haus, gelegen im Stadtviertel Konak für 3 Tage, da die Brücke, die nach Cizre führt, geschlossen war. Obwohl ich erfahren hatte, dass meine Tochter gestorben war, konnte ich wegen der Ausgangssperre nicht zu meiner Tochter gehen. Ich konnte Einzelheiten über ihren Tod erst herausfinden als ich nach drei Tagen zu mir nach Hause kam.
Meine Tochter Zeynep und unsere Verwandte Maşallah machten sie Sorgen um mich und meinen Verwandten Ahmet Edin und sie ging zum Haus unsere Nachbarn, um uns von deren Telefon aus anzurufen. Sobald meine Tochter Zeynep das Haus unseres Nachbarn, Abullatif Dayan, verlassen hatte, um zurück nach Hause zu gehen, war sie Geschützfeuer ausgesetzt, obwohl sie ihr Baby im Arm hatte. Meine Tochter starb. Meine Enkelin wurde verletzt. Letztendlich kann nur Ekrem Dayan die Einzelheiten des Vorfalls erzählen, da er zur selben Zeit verletzt wurde und Einblick in die Materie hat. Er wird gegenwärtig im Krankenhaus behandelt.“
(b) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Unser Haus ist im Stadtviertel Cudi, in der Askin Straße. Der Vorfall ereignete sich gegen 22 Uhr abends. Ich schlief zu dieser Zeit. Meine Schwägerin kam und sagte „sie haben das Feuer auf unser Haus eröffnet“. Ich schaute aus dem Fenster. Mein Onkel Ekrem Dayan schrie nach Hilfe. Ich rannte schnell, um ihm zu helfen ohne Schuhe an zu haben. Mein Bruder kam hinter mir, aber ich musste zurück gehen, weil sie das Feuer auf uns eröffneten. Mein Onkel Ekrem Dayan lag am Boden vor der Tür. Ich zog ihn hinein. Meine Schwägerin Maşallah Edin und unsere zukünftige Braut Zeynep Taşkın lagen verwundet vor der Tür auf dem Boden. Das Baby war bei ihnen während dieser Zeit und war auch verletzt. Mein Onkel war an der inneren Seite der Tür auf dem Boden und meine Schwägerin, unsere Braut und das Baby waren an der äußeren Seite der Tür. Die bedeckten das Baby mit ihren eigenen Körpern, ansonsten hätten sie es getötet. Ich versuchte mehrfach, die Frauen hineinzuziehen, nachdem ich meinen Onkel hereingebracht hatte, aber sie feuerten jedes Mal auf uns. Mein Bruder und ich wir versuchten, ihnen ins Haus zu helfen. Ich brachte meinen Onkel in das Haus meines Bruders. Er war in seinem Fuß geschossen worden. Ich zerriss mein T-Shirt und versuchte, dass Blut zu stoppen. Ich bat um Hilfe. Ich schrie und rief den Leuten zu „Hilfe! Sie schießen auf alle“. Meine andere Schwägerin kam. Die Frauen und das Baby blieben dort für 2–3 Stunden in dieser Lage. Das Baby weinte, dann stoppten wir ein vorbeifahrendes Fahrzeug. Währenddessen beschossen sie uns weiter. Wir rannten wieder rein. Wir versuchten 15–20 Minuten später erneut herauszugehen. Als ich später wieder hinsah, sah ich, dass meine Schwägerin und unsere Braut verblutet waren. Meine Schwägerin Ayşe Kolin wurde auch angeschossen, als sie ging, um ihnen zu helfen. Ungefähr 3 Stunden später brachten wir die beiden Verwundeten und die Leichen zum Cizre-Beerdigungsinstitut. Nachdem die Leichen für eine Nacht im Beerdigungsinstitut geblieben waren, brachten wir die Leichen in einen kalten Raum des Supermarktes Kipmar, wo Fleisch gelagert wird. Dann wurden die Verletzten mit Hilfe der/des Abgeordneten mit einem Auto ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gebracht.“
(10) Maşallah Edin (35)
Sie wurde erschossen, als sie mit Zeynep Taşkın und ihrem Baby das Haus der Nachbarn verließen, um nach Hause zu gehen. Niemand konnte ihr helfen, da auch die Helfer_innen beschossen wurden und sie verstarb ebenso wie Zeynep Taşkın.
(a) Ahmet Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich war in Zaxo als der Vorfall stattfand. Mit Beginn der Ausgangssperre, verkündet am 04.09.2015 in Cizre, konnten wir nicht nach Cizre und ich rief meine Schwägerin Katibe Dayan und bat sie, meiner Frau und den Kindern zu sagen, sie sollten mich anrufen. Der Grund dafür war, dass der GSM Anbieter in Cizre nicht richtig funktionierte. Ich hatte mir Sorgen um meine Familie gemacht. Später sprach ich dann mit meiner Frau Maşallah und Zeynep am Telefon. Sie sagten, es gehe ihnen gut. Als ich in Zaxo war, kommunizierte ich oft über dieses Haustelefon. Am 09.09.2015, als der Vorfall sich ereignete, erzählte mir mein Bruder Abudallatif Dayan über den Vorfall.
Als ich nach der Aufhebung der Ausgangssperre in Cizre ankam, erfuhr ich die Einzelheiten. Demnach wurden meine Frau Maşallah und meine Schwiegertochter mit einem Gewehr erschossen, unmittelbar, nachdem sie Abdullatif`s Haus, wo sie waren, um mich anrufen zu können. Zuerst fiel meine Schwiegertochter Zeynep mit ihrem Baby zu Boden und meine Frau Maşallah und unser Nachbar Ahmet Dayan wurden beschossen, während sie versuchten, Zeynep und ihr Baby ins Haus zu bringen. Meine Frau Maşallah wurde durch einen Gewehrschuss ermordet. Unser Nachbar Ekrem befindet sich aufgrund seiner Verletzungen noch in Behandlung. Er kann mehr detaillierte Beweise geben, wenn seine Behandlung in 2–3 Tagen beendet ist.“
(b) Ahmed Edin (38), Ehemann von Maşallah Edin, gegenüber HRW:
„Ahmed Edin sagte, dass, während er weg im Nordirak war, seine Frau Maşallah Edin, 35, und die Frau seines Sohnes, Zeynep Taşkın, unmittelbar außerhalb des Hauses seines Bruders im Stadtviertel Nur gegen 22:00 Uhr am 09.09.2015 erschossen wurden, als sie gingen um in ihr nahe gelegenes eigenes Haus zurückzugehen.
Zeynep Taşkın trug ihr 6 Monate altes Baby, Berxwedan, das verletzt wurde, aber überlebte.“
(c) Ferhan Dayan, Ahmet Edin`s Cousin, gegenüber HRW:
„Ferhan Dayan, der im Haus war, als die Frauen erschossen wurden, sagte, dass die Versuche, die Körper der Frauen und das Baby zu bergen, verhindert wurden durch wiederholtes Feuer durch polizeiliche Scharfschützen auf jeden, der sich herauswagte.
Er sagte, sein Vater, Ekrem Dayan, 56, war mit den Frauen zusammen und wurden an der Tür in den Fuß geschossen und fiel rückwärts hinein, so dass die anderen ihn in Sicherheit ziehen konnten. Er sagte, dass nach einiger Zeit ein anderer Verwandter, Ayşe Kolin, 50, versuchte, die zwei Frauen zu erreichen, aber er wurde in seine Hüfte geschossen. Beide, Ekrem Dayan und Ayşe Kolin wurden operiert und befinden sich immer noch in medizinischer Behandlung, sagten die Familienmitglieder. Idris Elinc, vor Ort zur Zeit der Schüsse, sagte: „Wir konnten die Leichen von Maşallah Edin und Zeynep Taşkın nach 1 ½ oder 2 Stunden bergen. Wir dachten alle drei wären tot und waren überrascht, das Baby Berxwedan lebend, aber verletzt zwischen den Leichen der beiden Frauen zu finden“.
Diejenigen, die über die Schüsse interviewt wurden, betonten alle, dass der Ort, wo auf die fünf Menschen geschossen wurde, sich im Stadtviertel Nur an einem steil hervorgehobenen Abhang befand, der gut sichtbar von anderen Stadtvierteln von Cizre ist und dass sie glaubten, das Scharfschützen, positioniert auf hohen Gebäuden in anderen Teilen der Stadt diese Örtlichkeit beschossen haben können.“
(d) Mehmet Edin (24), Maşallah Edin`s und Zeynep Taşkın`s Verwandter, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Unser Haus ist im Stadtviertel Cudi, in der Askin Straße. Der Vorfall ereignete sich gegen 22 Uhr abends. Ich schlief zu dieser Zeit. Meine Schwägerin kam und sagte „sie haben das Feuer auf unser Haus eröffnet“. Ich schaute aus dem Fenster. Mein Onkel Ekrem Dayan schrie nach Hilfe. Ich rannte schnell, um ihm zu helfen ohne Schuhe an zu haben. Mein Bruder kam hinter mir, aber ich musste zurück gehen, weil sie das Feuer auf uns eröffneten. Mein Onkel Ekrem Dayan lag am Boden vor der Tür. Ich zog ihn hinein. Meine Schwägerin Maşallah Edin und unsere zukünftige Braut Zeynep Taşkın lagen verwundet vor der Tür auf dem Boden. Das Baby war mit ihnen während dieser Zeit und war auch verletzt. Mein Onkel war an der inneren Seite der Tür auf dem Boden und meine Schwägerin, unsere Braut und das Baby waren an der äußeren Seite der Tür.
Die bedeckten das Baby mit ihren eigenen Körpern, ansonsten hätten sie es getötet. Ich versuchte mehrfach, die Frauen hineinzuziehen, nachdem ich meinen Onkel hereingebracht hatte, aber sie feuerten jedes Mal auf uns. Mein Bruder und ich wir versuchten, ihnen ins Haus zu helfen. Ich brachte meinen Onkel in das Haus meines Bruders. Er war in seinen Fuß geschossen worden. Ich zerriss mein T-Shirt und versuchte, dass Blut zu stoppen. Ich bat um Hilfe. Ich schrie und rief den Leuten zu „Hilfe! Sie schießen auf alle“. Meine andere Schwägerin kam. Die Frauen und das Baby blieben dort für 2–3 Stunden in dieser Lage. Das Baby weinte, dann stoppten wir ein vorbeifahrendes Fahrzeug. Währenddessen beschossen sie uns weiter. Wir rannten wieder rein. Wir versuchten 15–20 Minuten später erneut herauszugehen. Als ich später wieder hinsah, sah ich, dass meine Schwägerin und unsere Braut verblutet waren. Meine Schwägerin Ayşe Kolin wurde auch angeschossen, als sie ging, um ihnen zu helfen.
Ungefähr 3 Stunden später brachten wir die beiden Verwundeten und die Leichen zum Cizre Beerdigungsinstitut. Nachdem die Leichen für eine Nacht im Beerdigungsinstitut geblieben waren, brachten wir die Leichen in einen kalten Raum des Supermarktes Kipmar, wo Fleisch gelagert wird. Dann wurden die Verletzten mit Hilfe der/des Abgeordneten mit einem Auto ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gebracht.“
(11) Özgür Taşkın (18)
Özgür Taşkın versuchte am 09.09.2015 um ca. 3:30 Uhr, zum Haus seines Onkels direkt gegenüber seines eigenen Hauses zu gehen, um etwas kaltes Wasser zu bekommen sowie einige Fernsehnachrichten zu sehen. Unmittelbar, nachdem er aus dem Haus getreten war, wurde er erschossen und verlor sein Leben.
(a) Sadun Taşkın, Vater von Özgür Taşkın, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am 09.09.2015, als die Ausgangssperre noch galt und sowohl die Elektrizität als auch die GSM`s nicht funktionierten, wollte mein Sohn Özgür, in das Haus seines Onkels gehen, etwa 4–5 Meter entfernt von unserem Haus. In Abwesenheit des Onkels. Sein Onkel Abdullah Erdin hatte einen Stromgenerator in seinem Haus und dort gab es Strom. Mein Sohn ging dahin, um Nachrichten zu verfolgen über das, was in Cizre passiert. Es war gegen 04 Uhr morgen. Eine Stunde später, gegen 05 Uhr, wurde er ein paar Meter entfernt von unserem Haus von Scharfschützen erschossen, die auf der Ringstraße im Kreis Yafes eingesetzt waren.
Ca. 20 Minuten, nachdem Özgür zu Boden gegangen war, rief mich meine Frau und sagte, Özgür sei angeschossen worden. Er war immer noch nur verwundet, als ich losrannte, um ihn nach Hause zu holen. Er bat mich und seine Mutter, für ihn zu beten. Wir riefen sofort unter 112 um Hilfe. Aber die Offiziellen sagten, 112 würde nicht kommen wegen fehlender Sicherheit.
Ich und unser Verwandter Yakup Zileas fanden ein Fahrzeug und brachten meinen Sohn unter Gewehrfeuer zum Krankenhaus. Ich hatte bereits herausgefunden, dass mein Sohn gestorben war, während wir auf dem Weg waren. Da ich dachte, dass vielleicht mit anderen Methoden wie CPR, vielleicht noch etwas zu machen sei, brachte ich ihn noch ins Krankenhaus. Das Krankenhaus war voll von Spezialeinheiten der Polizei. Drinnen waren zwei Ärzte und sie sagten mir, dass da nichts zu machen sei und mein Sohn gestorben sei. Die Polizeibeamten auf der Ringstraße im Yafes Distrikt schossen kontinuierlich weiter.
Alle Häuser waren davon schwer beschädigt. Mein Sohn war wahrscheinlich mitten in diesem Beschuss gefangen und wurde getötet. Als ich meinen Sohn sah, gab es 4 oder 5 Einschusslöcher in verschiedenen Teilen seines Körpers und sein Körper lag in einer Blutlache. Ca. 4–5 Stunden später gegen 15 Uhr erschien der Staatsanwaltschaft und teilte uns mit, wir müssten die Leiche zur Autopsie nach Şırnak bringen. Sie hatten nicht erlaubt, dass ich mitkomme.
Nach 2 Tagen begruben wir die Leiche am 13.09.2015.“
(b) Sadun Taşkın (41), Özgür Taşkın`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Mein Sohn Özgür Taşkın war 18 Jahre alt und er ging in die 3. Stufe der High School. Unser Haus ist im Stadtviertel Yafes, Sinir Straße, an der Silk Straße, was in der Nähe der syrischen Grenze ist. Er ging hinaus zum Haus seines Onkels, um Wasser zu trinken und die Nachrichten im Fernsehen anzusehen. Es ist vier Meter von unserem Haus. Am 09. September um 04 Uhr morgens, es gab weder Elektrizität noch Telefon in unserem Haus, aber mein Schwager, dessen Haus gerade gegenüber von unserem Haus war, hatte einen Generator und sie versorgten sich damit mit Strom.
Mein Sohn ging hinaus, um im Haus seines Onkels Wasser zu trinken und Fernsehen zu schauen. Er ging dort gegen 04 Uhr morgens hin und nach einer Stunde, gegen 05 Uhr, wurde er auf seinem Weg zurück nach Hause erschossen. Sie erschossen meinen Sohn. Ein Einwohner nahm seine Körper und trug ihn an einen sichereren Ort, wo die Kugeln nicht treffen konnten. Mein Sohn war durch große Geschosse getroffen worden. Sein rechter Arm war komplett zerschmettert und abgerissen. Er war in verschiedene Teile seines Körpers getroffen worden.
Mein Sohn verblieb in diesem Zustand und dann starb er. Da waren Militärpanzer und Panzer vor unserem Haus. Sie standen mit der Rückseite zur syrischen Grenze und mit der Front Richtung des Stadtviertels gerichtet. Ich habe sieben Kinder. Ich habe 6 Töchter und Özgür war mein einziger Sohn und er war der älteste meiner Kinder. Meine Frau bekam unser jüngstes Baby vor 20 Tagen. Meine Frau hörte, dass mein Sohn angeschossen worden war. Ich schlief und sie schrie auf, kam und erzählte mir, dass Özgür angeschossen worden sei.
Wir standen sofort auf und rannten zu ihm. Er sagte „Mama, Papa, lasst mich Euch küssen, gebt mir Euren Segen“ und er küsste uns, dann starb er in meinen Armen. Die Geräusche des Geschützfeuers kamen von allen Seiten, wir konnten unseren Sohn nicht ins Krankenhaus bringen. Einer unserer Freund nahm sich ein Herz und brachte ein Auto. Wir legten die Leiche meines Sohnes in das Auto und brachten ihn ins Krankenhaus und hofften, sie könnten meinen Sohn mit einer Herzmassage retten.
Der Arzt schaute nach ihm und sagte, er ist tot. Sie brachten meinen Sohn zum staatlichen Krankenhaus von Şırnak für eine Autopsie. Sie ließen uns nicht mit ihm fahren. Der Ort, an dem mein Sohn erschossen wurde, ist eine offene Gegend. Es ist nahe der Kadioglu High School an der Silk Straße. Unser Haus und der Ort, an dem mein Sohn erschossen wurde, können vom Standpunkt des Panzers aus einfach eingesehen werden.
Mein Sohn wurde entweder von einem Panzer oder von einem Panzerwagen erschossen. Die Einschusslöcher in den Wänden sind zu groß. Sogar betonierte Pfeiler waren zertrümmert. Ich machte diese Aussage gegenüber dem Staatsanwalt im Krankenhaus.“
(12) Meryem Süne (45)
Meryem Süne wurde am 08.09.2015 erschossen als sie den Innenhof ihres Hauses betrat. Obwohl alle Autoritäten, eingeschlossen der Distrikt-Gouverneur, Sicherheitskräfte, Gendarmerie und Krankenwagen, gerufen wurden, verlor sie ihr Leben als sie die nächsten 2,5 Stunden keine medizinische Hilfe erhielt. Ihr Körper musste im Haus behalten werden während der Nacht, nachdem sie ihr Leben verlor. Danach wurde sie in ein Kühllager und später in die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses von Şırnak gebracht.
(a) Fevzi Süne (59), gegenüber HRW
„Fevzi Süne sagte, dass seine Frau Meryem Süne, 53 am Eingang ihres Hauses im Stadtviertel Nur erschossen wurde. Am 08. September, ich saß drinnen, und um 09 Uhr abends ging meine Frau, Meryem, hinaus um ihre Waschung vor dem Gebet durchzuführen. Als sie in der Nähe der äußeren Tür zum Hof war, fiel sie in sich zusammen.
Wir trugen sie hinein. Zuerst dachten wir, es wären nur Pellets (aus einer Jagdwaffe), aber das war es nicht. Sie hatte innere Blutungen von einer Kugel. Sie war noch am Leben, wir riefen nach einem Krankenwagen, aber sie sagten uns, sie könnten keinen schicken. Wir sagten, dass wir Papiere der Türkischen Republik haben, dass wir keine PKK`ler sind. Ich glaube, sie hätte überlebt, wenn wir sie ins Krankenhaus hätten bringen können.
Sie starb gegen 12 Uhr. Wir behielten ihren Körper die ganze Nacht bei uns und am nächsten Morgen brachten wir sie in ein Kühllager, bis 04 Uhr nachmittags am nächsten Tag, als es uns gelang, ihre Leiche in die Leichenhalle zu bringen.
Als sie unser Dorf in den 1990er Jahren niederbrannten und wir flohen, sagten wir, „Vielleicht lassen sie uns unsere Kinder ausbilden“, aber sie erlaubten das nicht. 1992 konnten wir nichts mitnehmen, außer unseren Matratzen. Wir haben unser Dorf, unser Zuhause verloren, alles. Wir sagten: „Vielleicht werden wir in der Lage sein, auf unsere Kinder aufzupassen, aber sie erlaubten auch dies nicht. Unsere Kinder wuchsen traumatisiert auf.“
(b) Salid Süne, Sohn von Meryem Süne, gegenüber HRW :
„Ich gab im Krankenhaus, wo wir die Leiche meiner Mutter hinbrachten, eine Stellungnahme ab. Die Polizei fragte mich nach Einzelheiten, wo sie erschossen wurde, wann, wie usw. Die Polizei schrieb ein handgeschriebenes Protokoll, dass ich unterzeichnete und ich gab die gleiche Stellungnahme gegenüber dem Staatsanwalt ab, der sich im nächsten Zimmer des Krankenhauses aufhielt.
Die Leiche meiner Mutter wurde für die Autopsie nach Şırnak gebracht. Uns wurde der Körper am 13. September wiedergegeben und wir begruben unsere Mutter an diesem Tag auf dem Friedhof. Wir gaben später auch noch über unseren Anwalt eine Stellungnahme gegenüber dem Staatsanwalt ab. Der Autopsiebericht stellte fest, dass meine Mutter durch eine Kugel verletzt wurde und die Kugel wurde in ihrem Körper gefunden. Niemand von einer offiziellen Stelle hat uns aufgesucht.“
(13) Mehmet Sait Nayci (16)
Mehmet Sait Nayci wurde vor seinem Haus durch eine Kugel getroffen, die in seinen Rücken eintrat und an seiner Brust wieder austrat. Für die nächsten 6 Stunden, wurden alle Anrufe beim Krankenhaus dahingehend beantwortet, dass gesagt wurde „es ist nicht möglich, dahin zu kommen“; kein Krankenwagen erschien in dem Bezirk und so verlor er aufgrund fehlender medizinischer Behandlung sein Leben.
Das Begräbnis der Leiche wurde nicht erlaubt, aber durch die Hilfe vieler Menschen war es möglich, die Leiche zu einem Kühllager des lokalen Marktes zu bringen. Nachdem seine Leiche dort für 3 Tage aufbewahrt wurde, wurde sein Körper mit Hilfe der Anwälte zu einem Leichenwagen gebracht und zum Krankenhaus zur Autopsie gefahren.
(a) Ramazan Nayci (41), Mehmet Sait Nayci`s Vater, gegenüber der Anwaltskammer Diyarbakir
„Wir leben im Stadtviertel Cudi, Ziraat Straße. Ich werde Ihnen erzählen, was ich dem Staatsanwalt im Krankenhaus während der Autopsie erzählt habe. Es war der dritte Tag der Ausgangssperre. Vor unserem Haus am Anfang der Ziraat Straße befand sich ein Panzer.. Alle EinwohnerInnen des Viertels liefen durch die kleinen inneren Straßen des Viertels. Panzer feuerten auf das gesamte Viertel. Alle rannten, deshalb fingen wir auch an, zu rennen.
Ich, meine Frau und meine Kinder, wir hatten gerade den benachbarten Innenhof erreicht. In diesem Moment hörte ich die Stimme meines Sohnes: „Oh, Vater“. Der Beschuss stoppte als mein Sohn zu Boden fiel. Wir brachten unseren Sohn zum Tierunterstand hinter das Haus. Es war sicherer. Dieser Ort wurde nicht durch Kugeln getroffen. Mein Sohn lebte bis 03 Uhr in der Nacht. Er quälte sich bis dahin. Dann verlor er um 03 Uhr sein Leben Die Kugel war in seinen Rücken eingedrungen und am Bauch wieder ausgetreten. Mein Sohn verblutete. Sogar die Nachbarn konnten nicht zu ihren Nachbarn gehen, um Hilfe zu holen, deshalb war es unmöglich, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Da war weder Strom noch Telefonverbindung. Seiner Mutter und mir ging es schlechter und wir fielen in Ohnmacht. Unsere Nachbarn kamen am Morgen und brachten die Leiche meines Sohnes zum Bestattungsinstitut der Moschee. Die Leiche meines Sohnes wurde gemeinsam mit zwei anderen Leichen in einem kalten Raum aufbewahrt. Der Staatsanwalt suchte den Tatort nicht für eine Untersuchung auf. Bis jetzt ist keine Person der Behörden gekommen um Ermittlungen oder Untersuchung durchzuführen. Wir werden sie verklagen und wir werden bis zum Ende für unsere Rechte kämpfen. Mein Sohn ist in keiner Weise vorbestraft. Er war eine so respektvolle Person.“
(b) Ramazan Nayci, Vater von Sait Nayci, gegenüber den Schweizer Jurist_innen
„Ramazan Nayci, der Vater von Sait, habe über die Lautsprecherdurchsagen von der Ausgangssperre erfahren. Vorher habe er keine Kenntnis von der Maßnahme gehabt. Wegen der kurzen Vorankündigungszeit seien viele Leute dort geblieben, wo sie zu diesem Zeitpunkt gerade gewesen seien. Danach habe »der Krieg« begonnen: Vormarsch der Sicherheitskräfte, Panzer, Helikopter und Schüsse. In der ersten Nacht sei im Nur-Quartier alles zerstört worden, in der zweiten Nacht hätte dann der Beschuss des Cudi-Viertels – hier wohnt die Familie – begonnen. In der dritten Nacht sei auch in ihrer Straße geschossen worden. Ramazan Nayci wollte seine Familie schützen und habe deshalb entschieden, sich im Hinterhof in Sicherheit zu bringen. Da es aber keinen direkten Zugang zum Hinterhof gäbe, hätte die Familie auf die Straße treten müssen, um über den Innenhof des Nachbarhauses in den Hof zu gelangen. Hierbei sei der 16-jährige Sohn Sait von einem Scharfschützen erschossen worden. Sait wurde in den Rücken getroffen – die Autopsie habe ergeben, dass keine Organe verletzt worden seien. Der Sohn sei gestorben, weil die Familie keine Ambulanz alarmieren konnte; Sait sei nach sechs Stunden verblutet. Nachbar_innen hätten den Leichnam über die von den Anwohner_innen geschaffenen Verbindungswege weggebracht und während fünf Tagen in einem Kühlschrank gelagert, bevor Sait nach der Ausgangssperre habe beerdigt werden können. Der Vater habe gemeinsam mit den übrigen Opfer-Familien den Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi bevollmächtigt, die für den Tod seines Sohnes Verantwortlichen anzuzeigen. Zudem hat die Familie eine Treppe errichtet, die direkt vom ersten Stock des Wohnhauses in den Hinterhof hinunter führt.“
(14) Selman Ağar (10)
Selman Ağar wurde am 11.09.2015, während er in den Straßen des Viertels Cudi spielte, gegen 17 Uhr – vermutlich durch Scharfschützen – erschossen.
(a) Rahime Ağar, Mutter von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Am Freitag (11.09.2015) gegen 17 Uhr, waren wir auf der Straße, in der unser Haus ist, wie jeder in unsere Nachbarschaft (Mehmet Fatih Straße in Cudi Stadtviertel). Wir gingen raus, um das HDP-Komitee zu grüßen, dass gekommen war, um gegen die Ausgangssperre in Cizre zu protestieren. Ich hatte meinen Sohn Selman mit mir dabei. Er lief weg, aber ich merkte es nicht. Ich saß auf einer leeren Tonne in der Mitte der Straße als ich sah wie Selman plötzlich zusammenbrach. Da waren keine Gewehrschüsse oder Explosionen, ich hörte keine. Die Menge auf der Straße trug Selman zu einem Trauerhaus. Ich konnte den Körper meines Jungen nicht berühren. Später wurde mir erzählt, er sei ins Leichenhaus des staatlichen Krankenhauses von Şırnak gebracht worden. Er wurde an dem Tag seiner Ermordung ins Krankenhaus gebracht. Kasim Ağar und Ekrem Ağar gingen zu seiner Autopsie“
(b) Mehmet Ağar, Vater von Selman Ağar, gegenüber der Anwaltsdelegation :
„Ich arbeite in Dicle Shopping Arcade. Ich war dort am Freitag, den 04.09.2015, als die Ausgangssperre verkündet wurde. Elektronische Transformatoren explodierten durch Gewehrfeuer. Ich suchte Unterschlupf im Catak Hotel direkt neben der Arcade. Wir blieben für 4 Tage eingeschlossen im Hotel. Da war weder Brot noch Wasser übrig. Wir riefen am 5. Tag einen Krankenwagen. Der Krankenwagen brachte mich von dem Hotel, in dem wir eingeschlossen waren, zum Krankenhaus. Wir blieben im Krankenhaus für 2 Tage. Als die Sperre am 12.09.2015 aufgehoben wurde, kam ich gegen 11 Uhr nach Hause. Unser Nachbar erzählte mir, dass mein Sohn getötet wurde. Ich wusste nichts davon. Sie sagten, er sei ins staatliche Krankenhaus von Şırnak gekommen.“
(15) Mehmet Erdoğan (75)
Mehmet Erdoğan verließ am 11.09.2015 – zu seiner Schwiegertochter sagend „sie werden die Älteren nicht angreifen“ – das Haus und wurde durch Scharfschützen beschossen und getötet. Wegen der Ausgangssperre konnte seine Familie nicht raus und so blieb sein Körper während der ganzen Nacht auf der Straße liegen. Am Morgen wurde die Anwaltsdelegation und die Abgeordneten der HDP informiert und trugen seinen Körper von der Straße.
(a) Selman Erdoğan, Bruder von Mehmet Erdoğan, gegenüber der Anwaltsdelegation
„Wenige Stunden bevor die Ausgangssperre vom 04. September aufgehoben wurde, während der letzten Nachtstunden zwischen dem 11. und dem 12., erzählte mir mein älterer Bruder Mehmet Erdoğan er würde Brot aus den Mülltonen sammeln, um die Tiere zu füttern und dass die Polizei ihm nichts tun würde, da er alt sei, und verließ das Haus. Im Haus war nichts mehr zu Essen für uns oder für die Tiere übrig aufgrund der 8 Tage Ausgangssperre. Mein Bruder verließ sich auf sein Alter, um herauszugehen und die Tiere zu retten.
Aber er kam nicht zurück nach Hause in der Nacht.
Es gab keine Erreichbarkeit der Handys und wir wussten, wer immer raus geht, wird während der Ausgangssperre beschossen, deshalb konnten wir nicht raus, um nach ihm zu sehen. Am 12.09.2015 als die Ausgangssperre nach 07 Uhr aufgehoben wurde, war unser Cousin Ridvan Olca auf seinem Weg um nach uns zu sehen, als er herausfand, dass mein Bruder Mehmet Erdoğan in der Nähe der Nusaybin Avenue Idil Parkplatz erschossen wurde und dass sein Körper am Boden liegt.
Deshalb ging ich zu dem Ort, an dem mein Bruder getötet wurde. Zu dieser Zeit hatte das Komitee mit den Abgeordneten Hüda Kaya und Faysal Sariyildiz den Ort erreicht, an dem seine Leiche war. Mein Bruder lag in der Mitte der Straße, hielt Tüten mit Brot, dass er in den Mülleimern gesammelt hatte, in der Hand. Ich sah, dass sein Kopf und verschiedene Teile seines Körpers von Scharfschützen getroffen worden waren. Anschließend brachten wir die Leiche meines Bruders in das staatliche Krankenhaus von Cizre, mit einem Krankenwagen, der der Gemeinde von Silopi gehörte. Da war keinerlei Krankenhauspersonal im Krankenhaus. Wir mussten 30 Minuten am Notfalleingang warten, bis es uns möglich war, die Leiche in die Leichenhalle zu bringen. Da waren nur zwei Angestellte in der Leichenhalle. Sie sagten uns, die Leichenhalle sei voll und sie brachten meinen Bruder auf den Musalla Stein (Der Stein, wo die Leiche vor der Beerdigung gewaschen wird.).“

An anderer Stelle wird ausgeführt:

IV. Dritter Keller
Am 10. Februar 2016 schließlich gelangten Informationen über weitere Menschen an die Öffentlichkeit, die in einem dritten Keller Zuflucht gesucht hatten, Dies wurde bekannt, weil sich die ehemalige HDP-Bezirks-Co-Vorsitzende, Derya Koc; telefonisch meldete. Sie teilte mit, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 20–25 Personen vorsätzlich durch Sicherheitskräfte bei lebendigem Leibe verbrannt und von den noch Lebenden viele verletzt worden waren, als sie versuchten, den Keller zu verlassen . Die Scharfschützen schossen wohl auf die verzweifelten Menschen. (Siehe hierzu auch die Aussage von Taybet.Teil B, 4. Teil B IV 3)
Am 10. Februar wurden folgende Namen von sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen bekannt :
Derya Koç, Lokman Bilgiç, Murat Kekin, Sinan Kaya, İbrahim İvrendi, Fırat Malgaz, Orhan Tunç, Meryem Akyol, Mürsel Dalmış, Star Öztürk, Murat Tunç, Abdülselam Turgut, Fatma Demir, Emel Ayhan, Mesut Özer, Abdullah Özgür, Agit Aydın, Barış Gasir, Sahip Edip, Ferhat (Nachname wurde noch nicht verifiziert).
Im Weiteren sollen nun hinsichtlich der Ereignisse im sog. 3 Keller zunächst die Meldung in den Kurdistan Nachrichten vom 10.02.2016 wiedergegeben werden und sodann drei Aussagen von Augenzeugen, von denen es sich bei Zweien um Überlebende des 3. Kellers handelt. Gerade die beiden Aussagen der Überlebenden zeigen eindrücklich die Lage in den Kellern, die Verzweiflung der Menschen und widersprechen auch eindeutig den Angaben der Sicherheitskräfte und auch der Beschuldigten, dass die Menschen bei Gefechten ums Leben gekommen sein.
In den Kurdistan Nachrichten vom 10.02.2016 heißt es:

„In den heutigen frühen Stunden wurde noch ein Fall von Verletzten in Cizîr (Cizre) bekannt, die in einem Keller eingesperrt sind. Laut Angaben der im besagten Kellerraum festsitzenden ehemaligen HDP Bezirks-Co-Vorsitzenden, Derya Koç, sind mindestens 20 der 50 Personen getötet worden. Im kurzen Telefonat mit ihrem Vater erklärte Koç, dass sie einem Massaker gegenüber stehen würden. „Sie [die türkischen Sicherheitskräfte] haben 20 bis 25 unserer FreundInnen massakriert, indem sie diese in Brand setzten. Und auch die restlichen von uns versuchen sie zu massakrieren.“ Im ersten Gespräch mit ihrem Vater am Montag erklärte Koç, sie wären, wie die am Sonntag getöteten Personen, die in einem Keller in Cizîr wochenlang umkesselt waren und denen die medizinische Versorgung von Seiten des türkischen Militärs verwehrt wurde, umzingelt und würden in einem Kellerraum festsitzen. Die verzweifelte Frau bat ihren Vater um eine Guthabenüberweisung und meldete sich erst am heutigen Tag wieder. In einem kurzen Gespräch und mit leiser Stimme hätte Koç laut DIHA ihrem Vater erklärt, dass sie in einer sehr kritischen Situation seien. „In dem Kellerraum unter uns haben sie mindestens 20 unserer FreundInnen getötet, indem sie sie in Brand setzten. Wir sind von Panzern umzingelt, auf uns wird geschossen. Auch wir könnten jederzeit in Flammen aufgehen. Das Volk muss sich dringend auf den Weg hierher machen. Ungefähr vor einer Stunde haben sie begonnen, auf uns zu schießen. Die verletzten FreundInnen haben sie massakriert. Wir sind wohl nur noch 20-25 Personen und wir sind alle verletzt. Wir sind im Viertel Sur (Anmerk. Stadtteil von Cizîr), umgeben von Panzern. Die Netzverbindung ist sehr schlecht, die Verbindung kann jederzeit kappen. Ich muss jetzt auflegen, sie sind überall.“ Im Laufe des Tages sprach Derya Koç auch mit dem TV-Sender IMC. In diesem Gespräch bestätigte sie nochmals die Angaben ihres Vaters und erklärte zudem, dass die meisten der Eingesperrten verletzt wurden, weil sie versuchten, den Keller zu verlassen. Die Scharfschützen hätten auf die verzweifelten Menschen geschossen.“
1. Aussage von Serhildan
Zunächst wurde am 09. März 2016 die Aussage eines Überlebenden, der Serhildan genannt wird, veröffentlicht. Die Übersetzung der Veröffentlichung auf der Seite der Informationsstelle Kurdistan lautet :

„BestaNûçe hat den Bericht eines Augenzeugen des Massakers von Cizîr (Cizre) veröffentlicht. BestaNûçe betont, dass aus Sicherheitsgründen der Name des Zeugen verändert wurde. Im Bericht wird er nun Serhildan genannt. Mit der Veröffentlichung des Interviews wird er die Stadt verlassen. Serhildan war vor Verhängung der Ausgangssperre als Besucher nach Cizîr gekommen. Als die bewaffneten Kräfte des Staates in den Stadtteil Cudi eindrangen, haben er und sechs weitere Freunde sich in den Stadtteil Sur von Cizîr zurückgezogen. Sie waren zum weiter obenliegendem Cafer Sadık Hügel gegangen. Die Umgebung war in dieser Zeit ununterbrochen aus allen Richtungen unter Beschuss mit Granaten gewesen. Er erklärte: „Wir wurden pausenlos aus der Luft von einer Heron-Drohne beobachtet. Sie wussten, dass wir Zivilisten waren. Trotzdem wurden wir bei jeder Straße die wir passierten und jedem Haus in das wir gingen mit Granaten beschossen. Zwischen Granatsplittern, Staub und Rauch suchten wir uns unseren Weg.“
Da die bewaffneten Kräfte des Staates die Straße Kobanê blockierten, konnten sie nicht ins Stadtzentrum, sondern blieben tagelang in einem Haus unterhalb des Cafer Sadık genannten Hügel. Dort warteten sie bis sich die Kräfte des Staates näherten. Serhildan erzählte: „Eines Morgens erwachten wir vom Lärm des Militärs. Sie versuchten in das Haus einzudringen indem sie mit Äxten die Wände des Hauses durchschlugen. Wir haben sofort alles zusammen gerafft und versuchten das Haus zu verlassen. Bis wir alles draußen kontrollieren konnten hatten die Soldaten es geschafft ein Loch in eine Wand zu schlagen. Als wir daraufhin durch die Hintertür das Haus verlassen wollten, warfen die Soldaten Handgranaten durch das Loch.“ Daraufhin habe es eine starke Explosion gegeben. Durch den aufgewirbelten Staub der Explosion haben sie das Haus verlassen können. Als sie von dort wegrannten, seien sie von einem Militärhubschrauber des Typs Kobra, der den Eingang der Straße kontrollierte, beschossen worden. „Der Kobra bemerkte uns nicht sofort. Als er dann das Feuer eröffnete, stürzte einer unserer Freunde zu Boden, ein anderer wurde verletzt. Gemeinsam mit dem verletzten Freund flüchteten wir in ein Haus. Kaum waren wir in dem Haus, da näherte sich der Kobra. Wir verschlossen die Tür und gerieten in Panik. Genau in dem Moment hörten wir den Schrei unseres Freundes der auf der Straße gestürzt war und eine Salve aus dem Hubschrauber. Da wussten wir, sie hatten ihn ermordet.“
Erst hätten sie angenommen, dass sie jetzt in dem Haus festsäßen und nicht mehr heraus könnten. Einer habe dann eine Leiter in dem Haus gefunden. „Mit unserem am Arm verletzten Freund sind wir dann über die Leiter in ein anderes Haus gestiegen. Die Tür des Hauses ging auf eine andere Straße. Ohne auch nur einmal zu pausieren rannten wir raus – und dann immer weiter. Als wir so liefen hörten wir eine starke Explosion. Sie kam von dem Haus, dass wir gerade verlassen hatten. Wir liefen 3 bis 5 Straßen weiter, dort stießen wir auf Angehörige der zivilen Selbstverteidigungseinheiten YPS (Yekîneyên Parastina Sivîl). Sie haben uns sofort in den Keller eines Hauses gebracht.“
Eine Woche blieben er und seine Freunde in diesem Keller. Sie versuchten mit dem wenigen was da war die Verletzten zu versorgen. „Unser Freund hat einen Durchschuss am Arm erlitten. Wir haben die Watte aus Kopfkissen, die es im Keller gab, gezogen und mit Hilfe eines Pullovers den Arm unseres Freundes versorgt“, so Serhildan. Er erzählte, dass sie im Keller auch Brot gebacken haben. „Obwohl ich nicht wusste wie man das macht, habe ich dort Brot gebacken. Im Haus selber haben wir Käse, Tahin (Sesammus), Oliven und ähnliches gefunden. Tagelang haben wir so zu überstehen versucht. Im Garten des Hauses gab es einen Brunnen. Von dort holten wir das Wasser das wir benötigten.“
Als das Brot zu Ende ging, bat ich die YPS um Erlaubnis Brot holen zu dürfen. „Alle waren sehr hungrig. Um Brot zu finden verließ ich den Keller. Genau in dem Moment als ich mit dem Brot, dass ich gefunden hatte, wieder zurück in den Keller wollte, wurde ich beschossen und am Bein verletzt. Zuerst bemerkte ich gar nicht das ich getroffen worden bin, erst als ich ins Straucheln geriet erfasste ich was passiert war.“
Damit war Serhildan nun einer der Verletzten. Er berichtet, das 1 -2 Tage später einige Mitglieder der YPS zu ihnen stießen. „Die Mitglieder der YPS berichteten uns, dass die Angriffe des Staates sehr stark seien und sie nur noch über sehr wenig Munition verfügen würden. Sie warnten uns, sagten sie würden Aktionen durchführen bei denen sie sich selbst Opfern würden, deshalb wäre die Straße hier jetzt nicht mehr sicher. Wir sollten vorsichtshalber ein paar Straßen tiefer gehen.“
Eine Nacht lang blieb Serhildan dann in einem weiteren Haus in einer anderen Straße. Danach versuchten sie erneut vom Inneren von Sur 2-3 Straßen tiefer Richtung Kobanê Straße zu gelangen. Nachdem sie schon ein Stück des Weges zurückgelegt hatten, stießen sie auf eine Gruppe der YPS. „Sie fragten uns nach ihren Freunden dort und wir erzählten es ihnen. Sie brachten uns zu einem Keller. Der Keller, zu dem sie uns brachten, wird nun in der Öffentlichkeit als der dritte Keller bekannt. Es gab dort mehr als 10 Verletzte und mit der Zeit wurden weitere gebracht. Die Freunde, denen es gut ging, kümmerten sich um uns – die Verletzten.“
Nachdem sie eine Woche in dem Keller zugebracht hatten kamen die bewaffneten Kräfte des Staates bis an die Straße, wo sich der Keller befand. Serhildan berichtete: „Der Staat nahm das Gebäude, in dem sich der Keller in dem wir waren, und die Gebäude drum herum unter starken Granatbeschuss. Vor allem in den Morgenstunden war der Beschuss immer sehr heftig. Alle Gebäude um den Keller herum sind zerstört worden.“
Serhildan erzählte über das Leben im Keller: „Einige Verletzte verloren wegen der fehlenden Versorgung ihr Leben. Wir waren dort mit denen, die ihr Leben verloren hatten, zusammen. Der Keller, in dem wir uns befanden, war sehr groß. Diejenigen, die noch Unverletzt waren, fanden über den Tag etwas zu essen für uns. Es gab Tage, an denen wir uns mit einem einzelnen Keks aushelfen mussten. Wasser war sehr knapp. In dem Keller gab es nur unsere Betten. Weil das Gebäude noch in Bau war gab es noch einige Bretter und ähnliches.“
Serhildan berichtete, dass durch den Granatenbeschuss Löcher in die Decke des Kellers gerissen worden sind: „Sehr viel später hat der Staat mit schweren Maschinengewehren, die auf Panzern montiert waren, durch diese Löcher geschossen. Es war sehr starker Beschuss. Durch diesen schweren Beschuss sind die meisten der Verletzten ermordet worden. Fortwährend hörte man die Schreie und das Stöhnen der Verletzten.“
Als keine Salven mehr aus den Maschinengewehren kamen und die Schreie der Verletzten verstummten, habe Serhildan zu den Verletzten hinübergesehen: „In der Hand zweier Mitglieder der YPS waren Revolver, sie lagen im Sterben. In dem Moment erfasste ich, dass die beiden von der YPS nicht darauf gewartet haben bis der Staat sie ermordet, sondern die letzte Kugel auf sich selbst abgefeuert hatten.“
Eine längere Zeit verging bis der Lärm von gepanzerten Wagen zu vernehmen war. „Ich hörte das Geräusch von Schritten die sich näherten. Dann habe ich bemerkt, dass sie durch die Löcher in der Decke der Keller etwas hineingeworfen haben. Eines dieser Dinger, die sie hineingeworfen hatten, fiel ganz in meine Nähe. Es waren mit Benzin gefüllte Flaschen. Nachdem sie viele mit Benzin gefüllte Plastikflaschen hereingeworfen hatten, warfen sie etwas Entzündliches hinterher, so dass der Keller in Brand geriet“, so Serhildan.
Wie Serhildan berichtete, seien die Keller sehr groß gewesen. „Damit man uns aus den gepanzerten Fahrzeugen nicht sehen konnte, hatten wir einige der Bauhölzer übereinander gestapelt. Durch das Feuer sind einige Bauhölzer in Brand geraten. In dem Moment sind zwei, die uns zur Seite standen und die noch unverletzt waren, nach oben gegangen. Als Rauch entstand, begannen die Soldaten aus den gepanzerten Fahrzeugen heraus den Mehter-Marsch zu spielen.“
Serhildan berichtete, dass er, verletzt wie er war, versuchte den Brand zu löschen. „Ich entfernte die Bauhölzer aus der Nähe der Stelle wo es brannte. Ich entfernte auch die Leichname der vom Brand Ermordeten. Ich bekam den Brand unter Kontrolle, aber es gelang mir nicht, ihn ganz zu löschen. Ich schaffte, dass der Rauch aus dem Raum abzog. Wenn der Brand ganz verlöscht worden wäre, wären die Soldaten vielleicht darauf gekommen, dass hier drinnen noch welche am Leben sein könnten.“
Nach dem Brand haben die Soldaten viele Gasgranaten in den Keller geworfen. „Wir mussten viele Stunden im Gas ausharren. Einige Verletzte, die den heftigen Beschuss überlebt hatten, verloren jetzt durch das Gas ihr Leben. Die Soldaten erschossen einen der beiden Freunde, die nach oben gegangen waren, um den anderen Bescheid zu sagen.“
Serhildan erzählt, dass er zu nächtlicher Stunde den Keller verlassen habe und zusammen mit einem Unverletzten durch einen zuvor geöffneten Durchgang in ein anderes Haus, das sich direkt am Gebäude befand, gewechselt sei. „Als ich das Haus betrat, waren da so um die 25 Menschen. Sie gingen hinunter und holten einige Verletzte. Später erzählten mir die Freunde dort, dass sie an einem TV-(Programm) teilgenommen und die Situation geschildert hätten. Sie sagten, dass die Abgeordneten der HDP sich eingeschaltet hätten, es kämen Rettungswagen, die uns abholen würden. Ja, einige der Freunde dort haben zu der Stunde sogar ihre Familien angerufen. Es gab auch einige, die so von ihrer Familie Abschied genommen haben.“
Serhildan berichtete, dass sie bis in die Nacht hinein miteinander diskutiert hätten, wie die weiteren Entwicklungen sein würden: „Eine Freundin, später habe ich erfahren das ihr Name Derya war, hat erzählt, dass sie am Morgen ihre Familie, die Presse und Verantwortliche der HDP angerufen habe. Ja, dass sogar das Geschehene live in verschiedenen Kanälen von Fernsehsendern und auch in der Presse berichtet wurde. Sie und ein weiterer Freund haben noch einmal eine Verbindung zum TV gehabt. Danach hat dann jeder gewusst, zu was der Staat, der ein Massaker verübt, in der Lage ist. Die meisten da drinnen waren Studenten und Zivilisten. Deshalb haben wir gemeinsam den Beschluss gefasst, dass wenn am Morgen der Rettungswagen kommt, wir zu ihm gehen werden.“
Sie sagten sogar, dass der Rettungswagen noch am Abend käme, erinnert sich Serhildan. „Sie sagten, am Abend um 19.00 Uhr kommt der Rettungswagen, aber sie haben keinen gesandt. Als er am Abend nicht kam, sagten sie, dass er am nächsten Morgen um 9.00 Uhr kommt.“
„Sie sagten uns, dass Freiwillige aus dem Gesundheitsbereich sich eingeschaltet hätten,“ erinnert sich Serhildan „Sie erklärten uns, am Morgen kommt der Rettungswagen und ihr geht ihm entgegen. Ohnehin war das ganze Haus von Soldaten umstellt worden. Als der Morgen begann, sammelten wir uns und begannen damit herauszugehen. Wir stiegen vom zweiten Stock in den ersten, durch die Eingangstür dort wendeten wir uns Richtung Straße. Um den ersten Stock herum waren Löcher geöffnet worden. Durch diese Löcher sah man uns von den gepanzerten Fahrzeugen aus. Wir ließen jeweils einen kleinen Abstand zueinander und verließen das Haus. Ich und einige andere Verletzte warteten im ersten Stock. Nachdem die Freunde zum Rettungswagen gegangen waren sollten ich und die anderen Verletzten geholt werden. Die Freunde gingen laut rufend voran. Alle riefen den Soldaten nacheinander zu: „Nicht schießen“, „Wir sind Zivilisten“, „Hier sind Verletzte“, „Keiner hat eine Waffe“. Ohnehin waren die gepanzerten Fahrzeuge der Soldaten sehr nah. Dann wurde die Stille des Tages von einer sehr langen Salve zerrissen. Sie hatten das Feuer auf die, die auf die Straße wollten und an der Tür waren, eröffnet. Wir bemerkten, dass Bewegung unter die Soldaten gekommen war. Wir erkannten, dass sie ins Haus kommen werden. Zu der Zeit befand ich mich im ersten Stock.
Um in den zweiten Stock zu gelangen, benutzte ich den Lüftungsschacht des Bades. Zwei weitere Freunde folgten mir. Wir versteckten uns unter Steppdecken. Der Raum war sehr unordentlich. Ein Freund versteckte sich in einer Truhe. Kaum dass wir uns versteckt konnten, hörten wir die Schritte der Soldaten.“
Sie konnten die Meldungen aus den Funkgeräten der Soldaten hören. „Sie haben alle Verletzten ermordet. Danach haben sie in die Räume geschaut. In jeden Raum, den sie betreten wollen, warfen sie eine Handgranate, anschließend feuerten sie noch eine Salve hinterher. Wir hatten uns in einem Raum im zweiten Stock versteckt. Die Soldaten betraten den Raum, schossen um sich. Wir hatten Glück, sie bemerkten uns nicht, uns traf auch keine Kugel. Sie blieben nur ganz kurz und gingen dann.“ Als der unverletzte Freund an seiner Seite – nachdem kein Laut mehr aus der Truhe gekommen war – nachsehen wollte und die Truhe öffnete, sahen sie, dass ihr Freund ermordet worden war.
Drei Tage nachdem die Soldaten das Haus verlassen hätten, kam ein Bagger zu dem Gebäude. Der Bagger kam in Begleitung der Polizei und hat die Häuser um das Gebäude herum abgerissen. Der Bagger hat dort 1 ein oder 2 Tage lang gearbeitet. Als Serhildan irgendwann aufwachte, kam der Bagger mit der Schaufel voran auf das Haus zu.
Aber der Bagger riss das Haus in dem sie waren nicht ab. „In dem Haus herrschte ein heilloses Durcheinander. In einem Eisschrank fanden wir gefrorenes Brot. Zwischen den verstreuten Sachen fanden wir etwas Tahin. Wegen des Tahin, das wir aßen, wurden wir dauernd durstig. Also aßen wir nichts mehr davon. Aus den Leitungen kam kein Wasser. Wir öffneten ganz vorsichtig zwei Wasserboiler im Bad und holten fast zwei Liter Wasser aus ihnen. Tage lang ernährten wir uns von diesem Wasser und diesem Brot. Der Reihe nach schoben wir Wache. 2-3 Stunden konnten wir am Tag schlafen. Denn wir mussten ja ständig damit rechnen, dass jemand kommt.“
„An einem Morgen hörten wir dann jemanden Kurdisch sprechen. Aber wir wussten natürlich nicht, ob da jemand von uns spricht oder nicht. Wir überlegten, ob das Ausgangssperre wohl aufgehoben worden sei. Der Freund meinte, dass dann das Volk in Massen hierher strömen würde. Als wir am Tag darauf erneut kurdisch Sprechende hörten, gingen wir davon aus, dass sich die Menschen wieder bewegen konnten, oder dass das Verbot aufgehoben worden sei. Wir haben mit einer Frau, die auf der Straße war, Kontakt aufgenommen, die hat uns dann über die Situation aufgeklärt. Daraufhin haben wir das Haus verlassen.“
Als Serhildan und sein Freund durch die Tür des Hauses nach draußen kamen, sahen sie die Spuren der Barbarei. Er erklärt: „An der Tür lag die Kleidung der Freunde, die Ermordet worden waren. Allen war die Kleidung ausgezogen worden. Überall war Blut.“ Als sie auf der Straße waren, fuhren gepanzerte Fahrzeuge Patrouille, warfen auch Gasgranaten. Wir sahen sie, aber sie sahen uns nicht.“
BestaNûçe, 09.03.2016, ISKU
2. Aussage von Taybet
Am 12. März wurde schließlich die Aussage einer weiteren Augenzeugin, die Taybet genannt wird, veröffentlicht. Es heißt insoweit :

„Eine weitere Augenzeugin des Massakers von Cizîr (Cizre) meldete sich zu Wort. Während vor dem Menschenrechtsgerichtshof ein Antrag auf einstweilige Verfügung gestellt wurde, hat die Türkei zu ihrer Verteidigung angegeben, die betreffenden Personen hätten „bei einem Gefecht ihr Leben verloren“, eine Augenzeugin des Massakers bestätigt jetzt, was zuvor schon ein anderer Zeuge (siehe entsprechenden Bericht von Serhildan) berichtet hat. Die Ermordeten sind nicht bewaffnet gewesen und bei einem Gefecht zu Tode gekommen. Nein, es waren Zivilisten, es waren Wehrlose, die einer Übermacht von Soldaten gegenüber standen und von diesen abgeschlachtet wurden.
Auch bei dieser Zeugin wird aus Sicherheitsgründen ihr wahrer Name nicht genannt. Sie wird hier Taybet genannt. Taybet ist eine ältere Frau. Sie lebt im Viertel Sur von Cizîr (Cizre). Sie sagt, sie habe am 37. Tag der Angriffe des türkischen Staates auf Cizîr ihre Wohnung verlassen müssen. Ab und an wäre sie aber heimlich zu ihrer Wohnung zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. „Als ich in die Wohnung kam, hörte ich von draußen Stimmen. Hörte wie Personen sagten: ‚Wir kommen raus. Wir sind unbewaffnet.‘ Ich sah heimlich aus dem Fenster.“ Sie sieht von dort aus in den Garten des zweistöckigen Hauses, das neben dem ihren liegt und das im Volksmund als der Dritte Keller des Grauens von Cizîr bezeichnet wird. „Aus dem Innern des Hauses kamen Menschen in den Garten, alles junge Leute. Kann sein, dass auch Verletzte darunter waren, einige hinkten. Ich zählte sie, genau 9 Personen, sie hatten keine Waffen. Ihnen gegenüber Soldaten, die Waffe auf sie gerichtet, wartend bis alle draußen waren. Plötzlich begannen die Soldaten zu schießen. Dort haben sie die jungen Leute hingerichtet. Das habe ich mit meinen eigenen Augen mit ansehen müssen. Der Garten wurde zu einer Blutlache. Als das Ausgangsverbot aufgehoben wurde bin ich noch mal hin und habe nachgesehen, die Spuren des Blutes sind noch dort.“
Taybet erklärt, dass sie nach den Ermordungen, dessen Zeugin sie wurde, zwei Tage lang nicht die Wohnung verlassen habe. „Die Leichname der jungen Leute blieben den Tag über dort liegen. Am nächsten Tag habe ich gesehen wie sie sie hinters Haus geschleift haben. Später stieg Rauch auf, der Geruch von Verbranntem war zu riechen. Da begriff ich, dass sie die Leichname verbrannten“, so Taybet, „Ich bin eine alte Frau. Was ich in meinem Leben erleben musste, ist geschehen und nicht zu ändern. In dem bisschen was mir noch bleibt wurde ich nun Zeugin des Todes so junger Menschen.“
BestaNûçe, 12.03.2016, ISKU
3. Aussage einer weiteren Überlebenden
Am 23. April wurde die Aussage einer weiteren Zeugin veröffentlicht. Es heißt in der Veröffentlichung :

„Es gibt eine weitere Zeugin des Massakers von Cizîr (Cizre). Nachdem im Dezember 2015 die Ausgangssperre über Cizîr, einem Landkreis von Şirnex (Şırnak), verhängt worden war, begann auch die Blockade durch türkisches Militär und Spezialeinheiten. Hunderte Einwohner von Cizîr wurden während der Monate langanhaltenden Ausgangssperre getötet und verletzt. Die Militäroperation gipfelte in Massakern in drei Gebäuden, in dessen Kellerräume dutzende z.T. auch verletzte Zivilist*innen sich vor der Bombardierung ihrer Stadtviertel durch türkisches Militär geflüchtet hatten.
Es handelt sich bei der Zeugin um eine 22-jährige Frau. Sie ist Augenzeugin des Massakers des dritten Kellers. Dieser lag im Stadtteil Sûr von Cizîr. In dem betreffenden Gebäude hatten 45 Menschen Schutz gesucht. Die meisten von ihnen waren verletzt. Das Gebäude wurde von der türkischen Armee mit Panzern beschossen, wodurch das obere Stockwerk des Gebäudes zerstört wurde. Am ersten Tag des Angriffs leiteten staatliche Kräfte Benzin in einen Teil des Kellers und entzündeten es. 20 Verletzte konnten sich nicht in Sicherheit bringen und verbrannten dort. Die verbliebenen 25 Menschen warteten, bedroht davon, jede Minute ermordet zu werden, tagelang auf ihr Rettung. Trotz großen Bemühens einiger Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker HDP, alles für ihre Rettung nur Mögliche zu tun, setzte der türkische Staat sein Vorhaben um und richtete ein weiteres Massaker an den in dem Gebäude verbliebenen Menschen an.
Die Zeugin erklärte, dass auch Orhan Tunç sich bei ihnen befand. Das wenige Essen war schnell aufgebraucht. Alle seien Zivilist*innen gewesen, Studierende von der Uni und auch Aktivist*innen. „Wir waren seit einer Woche hungrig und durstig. Es gab Wasser in der Nähe. Sie hatten es zerstört, aber die Quelle lag zwei Häuser weiter. Wenn die Wärmebildkamera nicht an war, konnten wir hingehen und Wasser holen. Wir trugen das Wasser in kleinen Plastikkanistern. Es gab keinen Proviant. Wir versuchten, woanders etwas zu finden. Als letztes verblieb nur noch das Gebäude, in dem wir Zuflucht gesucht hatten. Die Lage der Verletzten war sehr schlecht. Wir hatten ein wenig Mullbinden und Jod-Tinktur. Unsere Kopftücher, alles was wir nur finden konnten, benutzten wir zur Versorgung der Verletzten. Es war kalt. Auf der Straße Verletzte konnten wegen der Blockade durch den Staat nicht abgeholt werden, andere kamen noch dazu“, so die Zeugin.
Zu den Ereignissen am Tage des Massakers sagte sie: „Am Mittwoch sind im dritten Keller die Freund*innen verbrannt worden. Wir konnten nicht in den Keller runter. Wir hatten schon alle Hoffnung verloren, sie konnten nicht aus dem Keller hochkommen. Die Kräfte des türkischen Staates schütten Benzin in den Keller und entzündeten es. Mittwoch gegen 7–8 Uhr waren die Schutzgräben beseitigt worden. Die Soldaten standen genau vor dem Keller, sie warfen Feuergeschosse in den Keller, schossen mit schweren Maschinengewehren. Wir wünschten uns, dass Orhan Tunç gerettet würde, weil er ein 15 Tage altes Baby hatte. Wir wünschten, dass er gerettet würde, auch wenn wir sterben sollten. Weil die Freund*innen verletzt waren, konnten sie nicht intervenieren.
Nach dem Brand warfen sie etwa 10 Gasgranaten hinein. Wir hörten nur die Geräusche, sobald wir den Kopf hoben, schossen sie.“
Die Zeugin erklärte, dass die Soldaten während des Angriffs ihre Fahrzeuge nicht verlassen hätten: „Am Abend so gegen 20/21 Uhr kamen 6 Personen in das Stockwerk hoch, in dem wir waren. Jetzt waren wir insgesamt 25 Personen. Wir waren alles Zivilist*innen. Einer war Adil Kücük, er hat ein Kind und auch der 14-jährige Mesut war hier. Von 25 Personen waren 20 verletzt. Die Verletzung von Derya Koç war nicht schwer. Der Jüngste unter uns war 14 Jahre alt. Er hatte Angst, es gab keinen Dialog, wir konnten nicht sprechen. Wir waren Tag und Nacht sehr still, da die Soldaten sehr nah waren. Wir sagten uns, dass die verbliebenen 25 Menschen zumindest gerettet werden sollten. Gegen Abend sollte ein Rettungswagen kommen. Wir erklärten den Sanitätern des Rettungswagens unsere Situation. Trotz der Angst vor Folter, Gefängnis, Liquidierung riefen wir an, um am Leben zu bleiben. Ungefähr zehnmal haben wir den Rettungswagen angerufen. ‚Nennt die Adresse, wir kommen‘, sagten sie. 10–11 Mal riefen wir an, erneut sagten sie, dass sie kämen. Dann sahen wir, dass wir von Spezialeinsatzkräften umzingelt worden waren. Am Abend kam dann der Rettungswagen. Aus dem Wagen erfolgte der Aufruf, dass wir uns ergeben sollen. Wir erklärten, dass wir kommen werden, wir aber, wenn das Feuer auf uns eröffnet würde, sofort umkehren werden. Die staatlichen Kräfte eröffneten dann das Feuer auf uns. Einer von uns verlor sein Leben.
Morgens um 6 Uhr riefen wir wieder den Rettungswagen an. Um 7 Uhr kamen die Soldaten und umzingelten uns komplett. Sie führten zwei gepanzerte Fahrzeuge mit sich. Eins stellten sie vor dem Bauplatz ab, möglicherweise stand eins auch auf der Rückseite des Gebäudes. Im Gebäude neben uns nahmen sie Stellung. Sie riefen zu uns rüber, dass wir uns ergeben sollen. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Wir riefen den Soldaten zu: „Orhan Tunç ist bei uns, er hat ein kleines Kind. Emel Ayhan war an unserer Seite. Er war 20 Jahre alt. Seine Haare waren komplett versengt, aber sein Körper war unverletzt. Da erfolgte ein erneuter Angriff auf uns. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich während des Angriffs den Ort, zu dem ich flüchtete, erreicht habe.“
Die Zeugin berichtet, dass sie sich in dem Moment in den Keller einer Moschee geflüchtet hatte: „Es gab einen kleinen Garten, dort habe ich den Kontakt zu den anderen verloren. Ich ging in den Keller der Moschee. Es gab dort ein Fahrrad, Müll und Pappkartons. Ich zog mir einen Sack über, um mich zu verstecken. Es war ein großer Sack, gewebtes Plastik. Es war viel Müll dort. Es drang das Geräusch automatischer Waffen zu mir. Ich hörte wie die Soldaten sagten ‚Bringt die Kleidung‘. Im Nachhinein denke ich, dass sie damit die Bekleidung der nackt ausgezogen Freund*innen meinten. Ich hörte, wie sie sagten: ‚Binde die Bombe an seine Füße‘. Anschließend hörte ich das Geräusch einer explodierenden Bombe. Danach hörte ich Geräusche von denen ich annahm, dass sie vom Leichenwagen stammten. Soldaten und Spezialeinheiten sagten: ‚Lasst uns ein Selfi machen und dann die Leichen auf den Wagen heben.‘ Sie beschimpften einander. Sie schimpften sehr sexistisch. Ekelhaft war das. Sie verhöhnten auch unsere ermordeten Freund*innen. Sie sagten: ‚Cizîr ist jetzt gesäubert worden‘ und ähnliches. Sie sahen auch in den Keller in dem ich war. Ein Lichtstrahl fiel in meine Richtung. Mich sahen sie nicht.“
Die junge Frau erzählt: „Drei Tage lang habe ich den Sack nicht verlassen. Dann verließen die Soldaten den Ort. Das Geräusch der Fahrzeuge war zu hören. Ein Tag später drang der Lärm von Personenwagen zu mir. Ich setzte mich auf, öffnete meine Augen. Seit einer Woche war ich hungrig und durstig. Zu mir drangen die kurdischsprachigen Worte der Bevölkerung, die in das Viertel zurückkehrte. Nach dem Angriff auf den Keller gab es keine Schüsse mehr. Stimmen drangen aus der Ferne zu mir. Ich hörte die Lautsprecherdurchsagen des Militärs: ‚Die Ausgangssperre dauert an. Wer auf die Straße geht, muss mit unserer Intervention rechnen.‘ Es wurde Nacht, gegen 3 Uhr ging ich an den Ort, an dem das Massaker verübt worden war. Ich sagte mir, morgen werde ich jemanden erreichen und hier rauskommen. Ich hörte nur das Geräusch von Autos, tags zuvor hatte mich das Geräusch der Bevölkerung erreicht. Da begriff ich, dass alles in Ordnung war. In dem Keller war etwas Wasser, das sich gesammelt hatte, es war stark verschmutzt. Ich trank es. Ich ging wieder hinauf. Ging zu dem Ort, wo das Massaker geschah. Ich tat nichts dort. Ging auf die andere Seite der Tür. Wenn jemand kommen sollte, konnte ich ihn erreichen und auf die andere Seite kommen. Ich ging von oben wieder herunter. Dort sah ich eine Frau. Es war 7 Uhr. Ich erklärte ihr meine Lage, danach ging ich zu ihr nach Hause.“
BestaNûçe, 23.04.2016, ISKU

Rechtlich wurde die Strafanzeige auf folgende Erwägungen gestützt:

• Allgemeines

Im Folgenden für Sie einige Hintergrundinformationen dazu, warum wir, rechtlich gesehen, diese Anzeige bei der Generalbundesanwaltschaft und nicht etwa, wie es zunächst viel näher zu liegen scheint, beim Internationalen Strafgerichtshof einreichen.

Dazu ist zunächst zu sagen, dass sich aus § 1 Völkerstrafgesetzbuch im Zusammenspiel mit § 153f StPO ergibt, dass der deutsche Gesetzgeber sich grundsätzlich dem sog. Weltrechtsprinzip verpflichtet fühlt und deshalb die internationale Zuständigkeit Deutschlands zur Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen als grundsätzlich uneingeschränkt gegeben ansieht.

Das lässt sich auch bereits der Gesetzesbegründung zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches entnehmen:

Dort heißt es:
„Da es vorrangig darum geht, die Straflosigkeit der Täter völkerrechtlicher Verbrechen durch internationale Solidarität bei der Strafverfolgung zu verhindern, beschränkt sich die Ermittlungs- und Verfolgungspflicht nicht auf Taten, die einen Anknüpfungspunkt zu Deutschland aufweisen; auch wenn ein solcher nicht besteht, können sich die Ergebnisse der zunächst in Deutschland aufgenommenen Ermittlungen für ein im Ausland oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof geführten Verfahren als wertvoll erweisen“

Daraus lässt sich auch bereits etwas anderes entnehmen, nämlich das grundsätzlich dem Völkerstrafrecht zugrunde liegende Prinzip der doppelten Subsidiarität.

Dies bedeutet:
An erster Stelle ist es das Recht und eigentlich auch die Pflicht der tatnahen Staaten – Tatortstaat und Heimatstaat des Täters – die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betreiben.

• Keine Strafverfolgung in der Türkei

Hier ist eine Strafverfolgung der angezeigten Taten in der Türkei jedoch nicht zu erwarten. Zum einen gibt es das bereits seit Langem bestehende Problem der Straflosigkeit von Taten durch Sicherheitskräfte, hinsichtlich derer es im Jahresbericht 2015 bei Amnesty-International heißt:

„Auch 2015 mussten Staatsbedienstete, die Übergriffe begangen hatten, nicht mit Bestrafung rechnen. Ermittlungen wurden behindert, da die Polizei wichtiges Beweismaterial wie Dienstpläne von Einsatzkräften und Aufzeichnungen von Überwachungskameras zurückhielt und die Staatsanwaltschaft dieser Behinderung nicht energisch entgegentrat. Weil die seit langem versprochene unabhängige Institution für Beschwerden gegen die Polizei noch immer nicht eingerichtet worden war, bestand wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage. Wenn doch einmal strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden, waren sie häufig mit Fehlern behaftet.“

Bei Human Rights Watch (HRW) heißt es hinsichtlich der Aufklärung der Ereignisse während der Ausgangssperren in Cizre, Silvan und Nusaybin:

„Die Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen wegen der angezeigten schweren Straftaten gegen diese zivilen und militärischen Vorgesetzten ist zusammengefasst aus politischen Gründen nicht zu erwarten. Dies entspricht nicht der Staatsraison der Republik Türkei, die alle militärischen und polizeilichen Maßnahmen in diesem Konflikt als Maßnahmen gegen „Terrorismus“ oder „Separatismus“ für gerechtfertigt hält.“
und weiter:

„Während es aufgrund von Beweisen, die durch lokale Gruppen gesammelt wurden, klar bewiesen ist, dass die Anzahl von Toten und Verletzten wesentlich höher ist, braucht es einer umfassenden Untersuchungen, um die präzise Anzahl zu ermitteln und zu ermitteln ob jemand von dieser größeren Anzahl an den Kämpfen beteiligt war.

Hinsichtlich der 15 Toten, die durch HRW dokumentiert wurden, haben die Behörden es versäumt, umfassende Ermittlungen durchzuführen, trotz einer klaren Verpflichtung dazu aufgrund nationaler türkischer wie auch internationaler Menschenrechte.

Die türkischen Behörden haben eine Geschichte im Unterlassen von effektiven Ermittlungen in Tötungen im Südosten der Türkei, insbesondere in Fällen, in den vermutet wird, das staatliche Agenten für extralegale Hinrichtungen verantwortlich sind, festgestellt in einer Reise von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Türkei das Recht auf Leben verletzt hat.“…

Diese Tradition der Straflosigkeit soll nun in der Türkei auch gesetzlich fixiert werden. Eine entsprechende Gesetzesvorlage ist im Juni in das türkische Parlament eingebracht worden.

Dazu heißt es in der Zeit vom 11.06.2016

„Ein weiterer Passus der Gesetzesvorlage aber könnte unabsehbare Folgen für den ohnehin geschwächten Rechtsstaat haben. Er sieht vor, dass Militärangehörige im Kontext des Anti-Terror-Kampfes vor einer unabhängigen Strafverfolgung geschützt werden. Auch soll die Justiz gegen Kommandeure und den Generalstabschef nur noch mit Einverständnis des Ministerpräsidenten ermitteln, sie festnehmen oder gar anklagen dürfen. Selbst für die strafrechtliche Verfolgung einfacher Soldaten bedarf es zukünftig der Zustimmung der jeweiligen von der Zentralregierung direkt eingesetzten Distriktverwaltung. Zivile Gerichte sollen bei der Verurteilung von Armeeangehörigen keine Rolle mehr spielen. Das neue Gesetz würde damit vor allem die Ahndung möglicher Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte in den umkämpften Städten im Südosten massiv erschweren.“
Dies kann nur als eine quasi Immunität für das Vorgehen des Militärs in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei bezeichnet werden. Eine Strafverfolgung in der Türkei ist somit nicht zu erwarten.

• Keine Strafverfolgung beim Internationalen Strafgerichtshof


• (IstGH)

Kommt der tatnahe Staat, hier die Türkei, seiner völkerrechtlichen Strafverfolgungspflicht nicht nach, kann grundsätzlich zunächst an zweiter Stelle ein internationales Strafgericht die Strafverfolgung übernehmen, somit der IstGH.

Hinsichtlich dessen Zuständigkeit besteht jedoch bei der Türkei das Problem, dass die Türkei (ebenso wie im Übrigen bspw. USA und Russland) den dem IStGH zugrunde liegenden völkerrechtlichen Vertrag, das sog.Rom-Statut, nicht unterzeichnet hat. Aber nur für Taten, die auf im Gebiet eines solchen Staates oder von dessen Staatsangehörigen begangen werden, ist der IStGH zuständig (Art. 12 IStGH-Statut).

Taten anderer Staaten können nur vor den IStGH gebracht werden, wenn der UN-Sicherheitsrat dies beschließt, was hinsichtlich der Türkei jedoch bisher nicht passiert ist.
Damit kommt Deutschland als sog. Drittstaat eine besondere Verantwortung zum Eingreifen zu, da die Angriffe auf die Gemeinschaftsinteressen ansonsten straflos blieben.

• Ermessen der Staatsanwaltschaft

Dennoch soll nicht verkannt werden, dass, da sich keiner der Angezeigten derzeit in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und insofern täterseits kein sog. Deutschlandbezug besteht, die Generalbundesanwaltschaft bei der Frage, ob sie Ermittlungen anstellt, gem. § 153f Strafprozessordnung (StPO) ein sog. Ermessen eingeräumt wird.

Bei der Frage, wie dieses ausgeübt wird, wird die Generalbundesanwaltschaft jedoch folgendes zu berücksichtigen haben:

– opferbezogener Inlandsbezug

Ein Deutschlandbezug besteht, solange keiner der Angezeigten oder ein sonstiger, wenn auch den Anzeigerstatter_innen unbekannter Tatverdächtiger, sich in Deutschland aufhält mindestens über die Opfer. So hat, wie in der Anzeige (Teil B, 4. Teil B II) näher ausgeführt wird, das Auswärtige Amt den Deutschlandbezug für den Tod von Frau Berjin Demirkaya aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit ihres Bruder, Herrn Hasan Demirkaya, der sich über seinen Anwalt an das Auswärtige Amt gewandt hatte, bereits bejaht.

– Ermittlungsansätze in Deutschland

Zudem bestehen konkrete Ermittlungsansätze in Deutschland. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass das sog. Ermittlungsziel bei Völkerstraftaten anders zu definieren ist, als bei normalen Strafverfahren. Im normalen Strafverfahren geht es in der Regel um die Durchführung eines innerstaatlichen Strafverfahrens. Im völkerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren wird dieses Ziel jedoch ersetzt durch ein möglicherweise erst etliche Zeit später durchzuführendes völkerstrafrechtliches Gerichtsverfahren vor einem inländischen, ausländischen oder internationalen Gericht.

Genau daraus hat sich die Praxis einer antizipierten Beweissicherung ergeben. Dies bedeutet Folgendes:
Für den Fall, dass hinsichtlich einer Konfliktsituation Beweismittel im Inland zugänglich sind, wird in einem zweiten Schritt zur förmlichen Beweissicherung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei handelt es sich um ein sog. Strukturermittlungsverfahren, das sich nicht gegen einen bestimmten Beschuldigten richtet, sondern sich auf einen völkerstrafrechtsrelevanten Sachverhalt an sich bezieht. Reist eine Person, gegen die sich im Laufe der Ermittlungen ein täterbezogener Verdacht verdichtet hat, nach Deutschland ein, wird schließlich ein einem dritten Schritt im Rahmen eines neues Verfahrens die individualisierte Strafverfolgung eingeleitet.

Ein Strukturermittlungsverfahren findet gegenwärtig zudem im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen in Syrien statt. Anders als das Verfahren gegen Gaddafi wird das Verfahren gegen Unbekannt geführt, auch ist es nicht an eine förmliches Ermittlungsverfahren beim Internationalen Strafgerichtshof gekoppelt. Das Verfahren wird zum Zweck der Beweissicherung, insbesondere der Aufnahme von Zeugenaussagen, geführt.

Hier drängt sich mindestens eine derartige antizipierte Beweissicherung im Rahmen eines Strukturermittlungsverfahrens bereits auf, weil sich der Zeuge Faysal Sariyildiz derzeit in Deutschland aufhält. Er hat sich während beider Ausgangssperren nahezu die gesamte Zeit in Cizre aufgehalten. Er war Zeuge vieler der hier angezeigten Taten sowie teilweise auch Opfer. Wie der Zeuge der Unterzeichnerin gegenüber vor wenigen Tagen angab, hat er seine Beobachtungen stets in kurzen Nachrichten bei Twitter festgehalten und gespeichert. Diese Eintragungen sind weiterhin vorhanden. Er ist einer der Hauptzeugen, der hier angezeigten Taten. Er wird sich noch länger in Europa und auch Deutschland aufhalten und ist zu einer Aussage bereit.

Bei ihm handelt es sich um ein, wenn nicht das zentrale Beweismittel vieler der hier angezeigten Taten. Er war derjenige, der mit den Menschen in den Kellern gesprochen hat, er ist beispielsweise diejenige Person, die von dem später getöteten Mehmet Tunc per Telefon erfahren hat, wie der 16jährige Abdullah Gün, als er sich zum Krankenwagen begeben wollte, erschossen wurde. Da Mehmet Tunc tot ist, ist Faysal Sariyildiz somit das tatnächste Beweismittel.

Die Aufnahme von Ermittlungen, mindestens in Form einer antizipierten Beweisaufnahme drängt sich nach alledem auf.

Bei all dem ist die Hoffnung aber nicht zu hoch bei den Anzeigenden, dass die Strafanzeige auch von Erfolg gekrönt sein wird.

Die komplette Strafanzeige wird kurzfristig ebenfalls auf die TP-Homepage gestellt.

Foto(von links nach rechts): Rechtsanwältinnen Petra Dervishaj und Britta Eder, Rechtsanwältin Heike Geisweid, Vorsitzende des MAF-DAD e.V., Faysal Sariyildis, HDP-Abgeordneter aus Sirnak, Michael Knapp, Übersetzer, Rechtsanwalt Ercan Kanar aus Istanbul und Senem Tepe, Übersetzerin.

Foto/Bildquelle: TP-Presseagentur Berlin

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