Übergriffe lassen sich ohnehin nicht ganz ausschließen.

Zum morgigen Prozessbeginn gegen einen mutmaßlichen Kindermörder in Potsdam.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Paraderolle für Peter Lorre in Fritz Langs legendärem Film-Klassiker aus dem Jahre 1931 „M – eine Stadt sucht einen Mörder“: Da der Berliner Unterwelt nun auch selbst Razzien und Nachforschungen bei der Suche nach den vermissten Kindern in ihrem „ehrenwerten Geschäftsbereich“ blühen, besinnen sich die Wiederholungs-Kriminellen auf ihre „Bürgerpflicht“ und suchen den mutmaßlichen Täter, einen Kindermörder, auf eigene Faust. Offensichtlich wollen sie der Polizei damit auch zeigen oder beweisen, welch‘ „ehrenwerte Bürger“ sie doch ihrerseits sind, um so von vornherein jeglichen Verdacht zu kaschieren, sie selbst könnten üble Gesetzesbrecher sein oder mit den Kindermorden gar in Verbindung stehen. Selbstverständlich kommen sie ihrer „Bürgerpflicht“ nicht nach, um dann den mutmaßlichen Täter auch konsequent der Polizei auszuliefern (da könnte er ja von Begnadigungen, Amnestien oder einem „Jagdschein“, der ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit gesetzlich schützte, profitieren), sondern um ihn vor ihr eigenes Unterwelt-Tribunal zu zerren und dann zur Todesstrafe zu „verurteilen“.

Als sie den mutmaßlichen Täter (hervorragend: Peter Lorre) schließlich gefasst haben, „erdreistet“ sich dieser sie auch noch nach ihrer Kompetenz zu ihrer offensichtlichen Lynchjustiz zu befragen. Die Kriminellen, einer Antwort nicht verlegen, bezeichnen sich hochtrabend als „Sachverständige in Rechtsfragen“: von sechs Wochen Tegel bis „fuffzehn“ Jahre Brandenburg – der „Vorsitzende“ des Lynchmobs war sogar selbst wegen dreifachen Totschlags verurteilt worden und hat die Strafe wohl in Brandenburg abgesessen. Summa summarum kamen da wohl etliche hundert, wenn nicht sogar weit über tausend Zuchthausjahre als „Sachverständige in Rechtsfragen“ in dem Lynch-Tribunal zusammen. Natürlich alles nur verfilmtes Drehbuch von Fritz Lang und Ehefrau Thea von Harbou, aber offensichtlich authentisch und realitätsnah – nicht nur wegen des damals schon aufblühenden Nationalsozialismus‘ – wiedergegeben in einem dramaturgisch eindringlichen Filmwerk, das als ein Plädoyer gegen die Todesstrafe fungieren und nicht zuletzt eine Art von Propaganda gegen Vorverurteilungen jeglicher Art symbolisieren soll.

In diesen legendären Zuchthäusern Tegel und Brandenburg hat dann wohl so mancher Kriminelle den letzten Schliff für Rechtsansichten und –durchsetzungen eigener Art erhalten und „gelernt“, wie man mit solchen „Elementen“ umzugehen hat, die in der Knasthierarchie nach ihrer Ansicht an ganz unterster Stelle zu stehen haben, nämlich Kindermörder und sonstiges „pädophile Gesindel“.

Keine Paraderolle nun für Silvio S., den mutmaßlichen Kindermörder aus dem Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg, der im letzten Jahr zwei Kinder entführt, sexuell missbraucht und ermordet haben soll: einen sechsjährigen aus Potsdam und einen vierjährigen Flüchtlingsjungen aus Berlin. Eine Berliner Boulevard-Zeitung titelte nach seiner Verhaftung effektheischend in fetten Schlagzeilen: Wie viele noch, Killer? Der Prozess findet zwar nicht vor einem Unterwelt-Tribunal statt, sondern vor dem Landgericht Potsdam und soll am morgigen Dienstag beginnen. Morddrohungen gab und gibt es auch gegen S. zuhauf, auch in der Untersuchungshaft war er bereits massiven körperlichen Übergriffen von Mithäftlingen ausgesetzt, weshalb das Landgericht Potsdam umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat, um jegliche Übergriffe wenigstens während des Prozesses auszuschließen.

Während es sich in Fritz Langs Film um wieder auf freiem Fuß befindliche Geldschrankknacker und andere „harte Jungs“ handelte, die das Zuchthaus „von sechs Wochen Tegel bis ‚fuffzehn‘ Jahre Brandenburg“ bereits hinter sich hatten und nun wieder ungestört von der Polizei ihrer „ehrenwerten Tätigkeit“ nachgehen wollten, handelt es sich bei den Übergriffen im Gefängnis auf Silvio S. um Gefangene, die nicht befürchten mussten und müssen, dass etwa Diebesgut oder andere gefährliche Sachen, schon gar keine entführten Kinder, bei ihnen gefunden werden, die ihnen strafrechtlich zum Verhängnis werden könnten.

Ihre Motivlage liegt wohl auf anderer Ebene.

Für Thomas Galli, lange Jahre Mitglied der Anstaltsleitung in der bayerischen Justizvollzugsanstalt Straubing und nun Anstaltsleiter in der sächsischen JVA Zeithain, auch Jurist, Kriminologe und Psychologe (nicht zu unterschlagen: selbst Vater dreier kleiner Kinder und derzeit auf Elternurlaub), der die Gesinnung und Motive von solchen Leuten aus eigener beruflicher Erfahrung wie aus dem „ff“ kennt, „weckt das in fast allen von uns große Wut und Hass, wenn Kinder missbraucht und getötet werden“. Nur wenige schafften es, „diese Wut nicht allein auf den Täter zu projizieren, sondern vor allem auch auf die Tat. Sie sehen daher nicht, dass es nichts wieder besser macht, wenn man sich nun an dem Täter vergeht. Das ist im Gefängnis so wie draußen auch“, so Galli gestern gegenüber der TP-Presseagentur.

Im Gefängnis kämen jedoch, so Galli weiter gegenüber der TP-Presseagentur, ein paar weitere Mechanismen hinzu:

„Fast alle Menschen scheinen andere Menschen zu brauchen, auf die sie herabsehen können, um sich selbst besser zu fühlen. Das ist ja auch einer der Gründe, warum sich das Gefängnis wider jede Vernunft so gut halten kann. Und die im Gefängnis brauchen auch jemanden, auf den sie herabsehen können, und das sind dann oft die, die Kinder missbraucht und getötet haben.

Hinzu kommt, dass es vollkommen menschenunwürdig ist, Menschen in Gefängnissen auf engstem Raum auf Jahre und Jahrzehnte einzusperren. Dass es da zu Spannungen, Aggression und auch Gewalt kommt, ist ganz normal. Und die Gewalt sucht sich dann oft ein Ziel, bei dem man sich der größten Zustimmung der Masse sicher ist. Das macht es für die Gefängnisverwalter zu einer großen Herausforderung, Übergriffe zu verhindern. Ganz ausschließen lassen sich solche Übergriffe ohnehin nicht, weder im Gefängnis noch außerhalb, aber man kann die Gefahr doch reduzieren, indem man solche gefährdeten Gefangenen besonders im Auge behält und grundsätzlich viel mit den Gefangenen redet. Auch die, die vielleicht zur Gewalt greifen würden, lassen sich in Gesprächen oft davon überzeugen, dass das Unsinn wäre.“

Anstaltsleiter Thomas Galli ist vor einigen Monaten mit seinem Buch „Die Schwere der Schuld“ und vor allem mit seiner strikten Forderung nach Abschaffung der Gefängnisse bundesweit bekannt geworden. In dem Buch, in dem er sich eingehend mit den Biographien der Häftlinge befasst, kommt er zu dem bemerkenswerten Schluss: Es sei „oft genug sogar erstaunlich, dass derart sozialisierte Menschen, nach allem, was sie selbst erlebt haben, nicht noch viel Schlimmeres getan haben“.

Ob er dazu auch Silvio S. zählen würde, mag dahin gestellt sein.

Die Opfervereinigung „netzwerkB“, die von der TP Presseagentur ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten wurde, hatte der Stellungnahme von Thomas Galli nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen, sie „reflektiert voll und ganz die Perspektive von netzwerkB“.
Ihr Vorsitzender Norbert Denef: „Um den Opfer-Täter-Opfer-Täter-Kreislauf zu durchbrechen, muss es ein Ende jeglicher Gewalt geben.
Wir von netzwerkB setzen uns dafür ein, die Gesellschaft vor Gewalttätern zu schützen – jedoch nicht gewaltvoll mit ihnen umzugehen.“

Als in Fritz Langs Film am Schluss, nachdem die Polizei ihn unmittelbar vor dem Lynchmord des Unterwelt-Mobs „im Namen des Gesetzes“ befreien kann, gerade das Urteil gegen „M“ gesprochen werden soll – diesmal offensichtlich vor einem rechtmäßigen Gericht (die Richter trugen wenigstens Roben) – sagt eine betroffene Mutter eines getöteten Kindes verzweifelt und hilflos: Davon werden unsere Kinder auch nicht mehr lebendig, man muss halt besser auf die Kinder Acht geben. Das Urteil bleibt am Ende offen.

Paraderolle auch für den „Unterwelt-Verteidiger“ von „M“ (wohl der einzig wahre „Sachverständige in Rechtsfragen“, der sich von dem Flehen und den Argumenten des „Angeklagten“ – u.a.: „…aber ich kann doch nichts dafür“ – überzeugen ließ), und der seinen „Zuchthausbrüdern“ (vergeblich aber eindrucksvoll!) klar zu machen versuchte, dass man einen Menschen nicht für Taten töten könne, für die er strafrechtlich nicht verantwortlich sei.

Ob das im Falle Silvio S. auch so ist, darüber werden dann die üblichen Sachverständigen befinden oder haben dies bereits im Auftrage des Gerichts getan.

Im Falle Silvio S. hat ihn seine eigene Mutter auf Fahndungsfotos erkannt und dann vorsorglich der Polizei ausgeliefert. Ihr war wohl ebenfalls klar, dass davon die ermordeten Kinder nicht mehr lebendig werden, aber vielleicht ging sie ja davon aus, dass sie evtl. noch leben oder ggf. auch keine weiteren mehr ihrem Sohn zum Opfer fallen würden.

Foto: Dr. Thomas Galli (rechts im Bild) neben dem Berliner Rechtsanwalt Dr. Jan Oelbermann auf einer Strafvollzugskonferenz der Linksfraktion im brandenburgischen Landtag in Potsdam

Foto/Bildquelle: TP Presseagentur Berlin

3 Antworten

  1. Dass sich „das Gefängnis wider jede Vernunft … halten kann“, meint Hr. Galli, den Sie offenbar wörtlich zitieren. Die Einrichtung, der er als Regierungsdirektor oder Ltd. Regierungsdirektor vorsteht, mithin nicht schlecht bezahlt wird, ist also „wider jede Vernunft“. Man staunt. Muss das nicht (irgendwie) zu einer kognitiven Dissonanz bei einem Mitverantwortlichen „wider jede Vernunft“ führen …?
    Ah, ich verstehe, er will Schlimmeres verhindern. Na, dann werde ich mal das Buch lesen, wie er das gemacht hat.

  2. Gutes Hintergrundwissen, gepaart mit Vergleichen, Geschichte, Filminhalt und reellem Dasein in deutschen Gefängnissen. Kann ich aus meiner Berufserfahrung nur bestätigen und bin auch gespannt, wie es beim LG Potsdam weitergeht. Dem sich offenbar in Elternauszeit befindlichen Dr. Galli wünsche ich rasche Rückkehr an „seinen“ Platz im Gefängnis, um seinen Thesen, Erfahrungen und Zielen der JVA-Abschaffung wenigstens ein Stück näher zu kommen. Er scheint dafür der ideale Kenner zu sein, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu offenbaren. Schon die berühmte „Ersatzfreiheitsstrafe“ ist ein Kreuz für jede Anstalt. Ab es gibt noch viele andere „Gefahren“ und Nöte für Gefangene – natürlich auch für weibliche. Sicherlich bleibe ich gespannt nun auf weitere lesenswerte (Hintergrund-)Beiträge von der TP-Presseagentur – ich weiß wovon ich spreche (siehe TP-Beitrag vom 18.06.2016),

    http://tp-presseagentur.de/ich-habe-solche-straftaten-nicht-vollbracht/

    denn sie sind ausgewogen und lassen alle Betroffenen zu Wort kommen bzw. erfüllen de facto die Mindeststandards des aufrichtigen Journalismus!

    RA & Fachanwalt für Strafrecht Helfried Roubicek, http://www.strafverteidiger-ostsee.de

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