„Die Delegitimierung einer Diktatur ist für mich eine wichtige Sache“.

TP-Interview mit Joachim Gauck.

TP: Herr Gauck, vor einigen Jahren hatte Friedrich Schorlemmer gefordert: Verbrennt die Stasi-Akten. Heute fordert er, ich zitiere, „nach wie vor einen anderen Umgang mit den Akten“. Ein harscher Vorwurf?

Gauck: Damit wird er mich nicht meinen, denn sonst hätte er mir das gesagt. Die Sache mit dem Aktenverbrennen ist wirklich tot, das hat er selber ausgetreten. Er hat sich in der Frankfurter Rundschau geradezu dafür verflucht. Er neigt dazu, manchmal etwas forciert zu formulieren – sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung. Also dieses Vorhaben hat er überhaupt nicht. Hingegen besucht er die Eröffnung unseres Dokumentationszentrums in der Stadt Halle, wenn wir den Bürgern zeigen, was die Stasi gemacht hat und hat ein starkes Interesse an der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Wenn Sie ihn fragen hierzu, wird er sagen, ihm gefalle nicht, wie die Medien dieses Thema behandeln. Und dann sage ich Ihnen: Das gefällt mir auch nicht immer; denn es gibt sehr komplizierte Sachverhalte, und die hätte ich gerne präzise dargestellt. Aber es gibt Medien, die stellen auch komplizierte Sachverhalte stark vereinfacht dar. Bei genauem Hinsehen ist das aber nicht nur bei dem Stasi-Thema so, sondern es gibt kein politisches oder kulturelles Thema, bei dem es die Unterschiede der medialen Rezeption nicht gibt. Das heißt, es gibt fortwährend Medien, die differenziert darstellen und solche, die simplifiziert darstellen. Da bitte ich dann doch genauer hinzuschauen.

TP: Sie haben gesagt, er habe Sie nicht gemeint, denn sonst hätte er es Ihnen gesagt. Er verlangt das Verbrennen der Stasi-Akten. Sie sind für die Stasi-Akten verantwortlich als Chef der Gauck-Behörde.

Gauck: Er verlangt das Verbrennen nicht, ich habe Ihnen doch gesagt…

TP: Heute verlangt er „nach wie vor einen anderen Umgang mit den Akten“.

Gauck: Wenn er den anderen Umgang mit den Akten verlangt, wird er mich damit nicht meinen. Ich folge ja einem gesetzlichen Auftrag. Und diesen gesetzlichen Auftrag hat er überhaupt noch nicht angegriffen. Er hat möglicherweise neben bestimmten Medien – das kenne ich, was er da meint -, auch eine Entlassungspraxis kritisiert, die nicht meine ist. Er hat vielleicht die Entlassung von Leuten aus dem Öffentlichen Dienst angegriffen, die vor vielen Jahren irgendwann einmal eine Unterschrift gemacht haben und danach nichts mehr. Das müssen sich dann die Leute anhören, die eine solche Entlassungspraxis betreiben. Meine Behörde ist nicht beteiligt an der Entlassung oder Weiterbeschäftigung.

TP: Sie sagen, Sie folgen einem gesetzlichen Auftrag: Haben Sie nicht irgendwie Einfluß hinsichtlich eines anderen Umgangs mit diesen Akten oder verstehen Sie sich nur als jemand, der einen gesetzlichen Auftrag ausführt?

Gauck: Ich habe überhaupt keinen Anlaß, den gesetzlichen Auftrag, den ich habe, zu kritisieren, weil es ein ausgezeichneter gesetzlicher Auftrag ist. Das kann ich Ihnen auch ausführlich begründen, warum ich zu dieser Überzeugung komme. Auf der anderen Seite steht es mir nicht an, Handlungsweisen a) der Medien, b) öffentlicher Stellen, die eigenen Regeln folgen, zu kritisieren. Die Presseleute befolgen das Presserecht, die Beamten das Dienstrecht – was habe ich damit zu tun? Ich kann als Bürger dazu sagen, daß ich die Entlassung mit dem Eisernen Besen nicht schätze, und dazu gibt es mehrere Zitate von mir. Daneben erlebe ich aber eine Praxis, in der überhaupt nichts passiert. Wo jeder Verstrickte oder sogar Schuldige an allen möglichen Stellen weiterpraktizieren kann. So ist dies in diesem Land – höchst unterschiedlich nämlich. Und das hat mit dieser Behörde und ihrem gesetzlichen Auftrag aber nun auch gar nichts zu tun.

TP: In einem Spiegel-Interview von Dezember 1994 hat Herr Generalstaatsanwalt Schaefgen von einer Zwei-Klassenüberprüfung der Gauck-Behörde gesprochen. Sind Sie damit auch nicht gemeint oder gehen Sie hier auch von der vorzüglichen Gesetzeslage aus oder was meint Herr Schaefgen genau?

Gauck: Da müssen Sie Herrn Schaefgen fragen, ich stehe zu Herrn Schaefgen in einem guten Kontakt und was er gemeint hat, weiß ich nicht. Er ist ja nicht weit weg von hier, wir könnten ihn fragen.

TP: Aber Sie kennen das Zitat?

Gauck: Ich weißt nicht, was damit gemeint sein soll. Es gibt mehrere Arten von Überprüfungen, wenn Sie so wollen, 3 oder 4 Klassen. Einmal gibt es die Überprüfung des Öffentlichen Dienstes, dann der Abgeordneten, dann von Verbänden, von Kirchen, so daß es verschiedene Arten von Überprüfungen gibt. Aber er wird wohl schwerlich gemeint haben, daß hier unterschiedliches Recht waltet. Vielleicht hat er auch die Öffentlichen Stellen im Westen gemeint, die keine Anträge stellen. Vergessen Sie bitte nicht, daß nicht wir die Überprüfung machen. Wir reagieren auf Anträge. Das heißt, jene Öffentlichen Stellen, die Anträge stellen – und das sind die Öffentlichen Stellen im Osten -, die bearbeiten wir. Und jene, die keinen Antrag stellen, die bearbeiten wir nicht. Wir haben in Deutschland keine Regelüberprüfung, sondern die Möglichkeit zur Überprüfung. Der Öffentliche Dienst macht die Überprüfung dann, wenn der Öffentliche Druck so ist oder ansonsten das Erfordernis besteht. Im Westen sieht man das nicht so. Das kann ich gut oder schlecht finden, aber es ist so. Im Westen hat die Stasi auch nicht in dem Umfange herrschen können wie bei uns im Osten.

TP: Sieben oder acht Jahre sind es mittlerweile seit der Vereinigung. Wäre es nicht mal an der Zeit, die Akten zu schließen? Einen Schlußstrich einfach zu ziehen? Dient das weitere Öffnen der Akten überhaupt noch dem Versöhnungsprozeß, der eigentlich erforderlich ist, damit endlich einmal, um jetzt auch mal den Politiker Willy Brandt zu zitieren, „zusammenwächst was zusammen gehört“?

Gauck: Ich bin nicht dieser Ansicht, und die Mehrheit der Deutschen ist es nicht, daß man sich besonders gut versöhnen kann, wenn man besonders wenig weiß, besonders wenig wissen will und besonders wenig aufarbeitet. Die Mehrheit der Deutschen – und nicht nur der Intellektuellen – weiß, daß es sich nicht lohnt, politische Schuld und politische Verantwortung unbearbeitet zu lassen und unter den Teppich zu kehren. Und nun frage ich Sie: Für wen sollte es denn ein Vorteil sein, einen Schlußstrich zu ziehen? Vorteile entstehen natürlich für bestimmte Leute, nämlich für die, die die Macht hatten und für die geheimdienstlichen Helfer der Macht. Die Schlußstrichpolitik, so wie sie in einigen Ländern geplant und selten bis zu Ende durchgeführt werden kann, ist eine harte Interessenpolitik. Sie begünstigt die Interessen der Oberschicht, die unterdrückt hat und vernachlässigt die Interessen der Unterschicht, die unterdrückt wurde. Und daher hat die deutsche Gesellschaft von einem Schlußstrich nun wirklich überhaupt nichts – weder politisch noch moralisch.

TP: Schürt man manchmal nicht auch Haß, wenn man zu viel aufdeckt?

Gauck: Ich kann nicht finden, daß dies ein Land des Hasses ist. Es gibt gelegentlich Anflüge von Hysterie, die korrelieren aber mit dem Bedürfnis nach Nostalgie. Dazwischen gibt es mehr Debatten, auch kontroverse Debatten. Aber von Haß sehe ich nichts. Es hat während der revolutionären Zeiten keine einzige blutige Stasi-Nase gegeben. Die vorhergesagte Mord- und Totschlagmentalität der wissenden Bürger nach der Aktenöffnung, so von Diestel und de Maizière und natürlich auf von der PDS immer gerne gebracht, hat sich selbstverständlich nicht eingestellt. Es ist eine Legende der unaufgeklärten Postkommunisten, daß die Opfer von Rachsucht getrieben werden. Das ist nicht so. Die Opfer haben ein starkes Interesse an der Wahrheit. Und wenn die ehemaligen Vertreter der Macht so nachhaltig lügen und sich so schlecht erinnern, dann wird diese Wahrheit manchmal etwas lauter eingefordert, aber von Haß und Rachsucht sehe ich nichts im Lande.

TP: Das Aufdecken der Akten zieht in relativ vielen Fällen Strafverfahren nach sich. Sind Sie der Meinung, daß diese Strafverfahren unbedingt notwendig sind zur Bewältigung einer Vergangenheit, wie sie in der DDR existiert hat?

Gauck: Ob sie unbedingt nötig sind, weiß ich nicht. Das ist immer schwierig in der Politik, die unbedingten Ziele zu beschreiben. Aber ich halte sie für die bessere Variante als nichts zu tun. Bei der Aufarbeitung einer diktatorischen Vergangenheit gibt es nie den Idealmodus. Die deutsche Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur ist in drei Richtungen vorzunehmen – so heißt es jedenfalls im Stasi-Unterlagengesetz. Es soll die politische, juristische und historische Aufarbeitung gefördert werden. Insbesondere dadurch, daß die Akten der Stasi, aber auch der Partei und der Staatsorgane geöffnet werden. Dies ist eine Erwiderung auf das historisch-politische Trauma des Nachkriegsdeutschland, als dies eben nicht oder nur unzureichend geschehen ist. Nun zu Ihrer Frage direkt: Für mich persönlich ist die Delegitimierung einer Diktatur eine ganz wichtige Sache. Die Menschen müssen erfahren und begreifen, wie stark die Diktatur sich unterscheidet von einer Demokratie – und sei diese Demokratie auch noch so problematisch. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:

a) die der Öffentlichen Berichterstattung und der Öffentliche Debatte, der Behandlung von Vergangenheitsthemen auf Seminaren und in der Presse, in der Literatur,

b) die wissenschaftliche Bearbeitung von Fakten aus der Diktatur, die bislang verborgen waren. Und dazu ist die Aktenöffnung ebenfalls sehr hilfreich und

c) die juristische Aufarbeitung bedeutet, daß die zu Unrecht in die Gefängnisse Eingesperrten sich rehabilitieren können, daß sie die Akten dafür benutzen können, daß sie nicht wie Bettler vor verschlossenen Archiven stehen, so wie sie früher hinter verschlossenen Gefängnismauern waren und daß – nun kommen wir zu den Tätern – bei einigen Tätern gefragt wird, ob das, was sie getan haben, nicht nur moralisch verwerflich, politisch schädlich war, sondern ob das auch Strafrechtsnormen tangiert hat. Und ich nenne Ihnen ein ganz simples Beispiel: In der DDR zum Beispiel war Wahlfälschung verboten. Wenn einer unserer Freunde und Bekannten – als Wahlhelfer eingesetzt – einmal Wahlen gefälscht hätte, wäre er selbstverständlich bestraft worden. Die führenden Kommunisten selbst haben es für nötig gehalten, die Wahlen zu fälschen. Und ich sehe nicht ein, warum man sie deshalb nicht vor Gericht stellen kann. Da wir die DDR nicht mehr haben, müssen wir Gerichte nehmen, die wir jetzt haben und insofern gibt es einige Bereiche, eben diese Strafverfolgung, wenn die Schuld tatsächlich relevant ist. Und da beginnt jetzt die Schwierigkeit.

TP: Ich zitiere noch mal Friedrich Schorlemmer. Im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Krenz, Schabowski und Kleiber hat er kürzlich geschrieben: Sie haben zwar kein Dankeschön verdient, daß sie die Mauer aufgemacht haben, sie haben aber auch keine 5, 6, 7, 8 oder wieviel Jahre auch immer verdient. Ist Strafe nicht ungeeignet, das Problem zu lösen?

Gauck: Friedrich Schorlemmer läßt seine Gefühle manchmal zu schnell zu politischer Prosa werden. Sehen Sie, wenn ich als normaler Staatsbürger mich frage, brauche ich das für mein Wohlbefinden in der Demokratie, daß Krenz im Knast ist, dann sage ich „nein“, ich brauche das als Demokrat nicht. Gleichzeitig erhebt sich die Frage, ob wir Diktatoren, die ja immer noch in allen Teilen der Welt ihr Unwesen treiben, ermutigen sollten, indem wir das, was sie getan haben, immer nur mit der Waage der Moral wägen. Nein, einige haben auch Unrecht getan, das man bestrafen kann. Und wenn wir – und wir leben ja nun mal nicht im Himmelreich, sondern in einem rechtsförmig gestalteten Gemeinwesen, in dem es nun mal die Norm des Strafrechts gibt -, so tun, als hätten jene Personen, die selber ja Normen gesetzt haben, einen normenfreien Raum verdient aus Dank oder vielfach, weil die Geschichte über sie hinweggegangen ist, dann glaube ich, ist das Schwäche, es ist eine politische Schwäche. Ich möchte nicht, daß die Demokratie ein Areal der politischen Schwäche ist. So wie sie gegen ihre aktuellen Gegner auch das Element des Strafrechts einzusetzen hat – nicht nur, sondern auch -, so muß sie auch bei der Aufarbeitung von vergangenem Unrecht das Element des Strafrechts mit nutzen. Und wir sehen eine Vielzahl von Verfahren und sehr wenige Verurteilungen. Das Strafrecht ist relativ stumpf, und ich warne alle, insbesondere die Opfer, die im Gefängnis gesessen und massives Unrecht erlitten haben, auch nur darauf zu hoffen, daß ihr Gerechtigkeitsbedürfnis durch das Strafrecht ausreichend beantwortet wird. Das wird nicht geschehen. Aber einen bestimmten Bereich sollten wir auch so bearbeiten, auch um künftigen Mißbrauch, jedenfalls insofern ein Stück zu bekämpfen, als daß wir sagen: Wer einen Flüchtling, der sein eigenes Land verlassen will – was ihm in einer Norm des eigenen Landes sogar gewährt wird, in der Konvention über zivile und politische Rechte der Bürger ist dies geschehen -, totschießt und dies nicht als kriminelles Unrecht ansieht, sondern nur als eine Frage der politischen Moral, der irrt.

TP: Man will ja mit dieser Ausarbeitung auch irgendwo erreichen, daß so etwas nicht wieder geschieht, auch begreifen, wie es geschehen ist. Verhindert man das mit dem Strafrecht nicht eher?

Gauck: Schauen wir einmal in die Gebiete der Welt, wo diese Aufarbeitung nicht erfolgt. Ich höre solche Argumente von einem, dessen Äußerungen ich zu diesem Sachgebiet nicht teile, und das ist Reinhard Höppner. Er hat neulich auf dem Kirchentag diese Auffassung vertreten. Da kann ich nur sagen: Gute Reise mal in die Länder, die Diktaturen erlebt und nicht unsere Variante haben. Ist es denn so, daß dort die ehemaligen Täter, die das Kriegsrecht ausgerufen oder die Menschen umgebracht haben durch Apartheid und andere Taten, daß die nun vor die Öffentlichkeit treten und ihr „Mea Culpa“ sprechen? Die Frage zu stellen, heißt schon, sie zu beantworten: Natürlich ist es nicht so! Da kann man nur darüber lachen über eine solche törichte pastorale Vorstellung. Es ist eben nicht so, daß das politische Leben sich den Moralvorstellungen von besonders engagierten protestantischen Intellektuellen fügt. Sondern wir haben nicht ohne Grund neben den Pädagogen in den Gemeinwesen das Strafrecht und auch Zwangsmittel des Rechtsstaates. Das ist nicht so, weil wir das alles lieben, das Strafrecht und diese Zwangsmittel, sondern die Menschen so sind wie sie sind. Es geht nicht an, daß man eine sehr reale Form von Diktatur mit einer höchst idealen Gedankengymnastik beantwortet. Da würden wir zu kurz greifen, und es wäre alles andere als menschlich. Wäre es so, daß wir einigen Grund hätten anzunehmen, daß durch die Aussetzung des Rechtsstaates sowohl so etwas wie Gerechtigkeit oder Sühne oder die Wiederherstellung der Würde der einst Unterdrückten gefördert würde, indem die Schuldigen kämen und sagen: „Jawohl es war so“, wäre ich der erste, der diese Variante auch betreiben würde. Aber ich habe Ihnen das Beispiel genannt, was dagegen spricht, und ich kann Ihnen auch ein Inlandsbeispiel geben: Als Offiziere der HVA straffrei gestellt wurden für ihre Aktivitäten im Westen, fingen sie dann an, die Öffentlichkeit und die Wissenschaft zu belehren über das was sie getan hatten? Nein, sie schwiegen genauso hartnäckig weiter.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: Bundesregierung/Jesco Denzel

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