Entkernung bis zu Wirkungslosigkeit.

Rolf Bossi hat ein weiteres Buch geschrieben.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Für Rolf Bossi, Anwalt aus Überzeugung, steht fest: Es gibt Justizunrecht in Deutschland. Die Hypothek der Nazizeit wurde nie getilgt. Eine Stunde Null in der Justizgeschichte hat es nicht gegeben. So schleppe eine Justiz, die niemals offiziell und institutionell mit dem Unrecht gebrochen habe, das sie in zwölf Jahren Hitlerdiktatur beging, den Ungeist Tausender von Rechtsbeugungen als ewige Last mit sich herum.
Nicht genug: In der Tradition jener NS-Rechtsbrecher stehend und in dem aus Erfahrung sicheren Bewusstsein, weitgehend ungestraft zu bleiben, beugten sie auch heute das Recht und produzierten eigene „revisionssichere“ skandalöse Unrechtsurteile.
Dass sie dafür nicht belangt werden können, liegt für Bossi daran, dass die Justiz den Straftatbestand der Rechtsbeugung, der ein zentrales Gegengewicht zur Macht der richterlichen Unabhängigkeit darstelle, bis zur Wirkungslosigkeit entkernt habe. Statt den Mut und die Kraft zu einer Selbstreinigung aufzubringen und die schweren Rechtsbeugungen ihrer braunen Berufskollegen angemessen hart zu bestrafen, wäre die Justiz nach 1945 mehr und mehr bestrebt gewesen, den entsprechenden Paragraphen 336 (Rechtsbeugung) des Strafgesetzbuches immer restriktiver auszulegen. Bis heute würde durch diese Erblast eine effektive Selbstkontrolle und Selbstkorrektur der Justiz verhindert. Es sei daher an der Zeit, so Bossi, dass man den Paragraphen 336 des Strafgesetzbuches wieder zu einem Instrument des deutschen Rechtsstaates mache, mit dessen Hilfe die richterliche Rechtsbeugung tatsächlich anklagbar – und sogar bestrafbar – werde.
An der heutigen Rechtsprechung bemängelt Bossi insbesondere, dass es bei Verfahren vor den Landgerichten keine weiteren Tatsacheninstanzen mehr gäbe. Anhand vieler Fallschilderungen macht er plastisch deutlich, wie Tatsachen und Aussagen verfälscht, verdreht, ja geradezu auf den Kopf gestellt werden und so der Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt würde. Und weil die Möglichkeit einer erneuten Tatsachenüberprüfung nicht bestehe, renne er gegen viele Fehlurteile vergeblich an.
Bossi nimmt kein Blatt vor den Mund. Hier rechnet jemand mit einer Justiz ab, davon scheint er zutiefst überzeugt, die die Freiheit der Beweiswürdigung „in die Möglichkeit zur Erfindung höchst eigener Wahrheiten verwandelt“ habe.
Am Beispiel eines Lübecker Schrotthändlers, der mit einem Kettenfahrzeug die Eingangshalle des Gerichts durchbrochen hatte, zeigt Bossi auf, dass es auch anders geht. So habe es ein Richter „mit augenzwinkernder Weisheit“ verstanden, ohne Haft oder kostspieligen Resozialisierungsmaßnahmen den Täter in 30 Minuten zur Vernunft zu bringen. Ansonsten, so Bossi, scheine aber in vielen ehrwürdigen Gerichtsgebäuden „nicht nur die Technik, sondern auch die Gesinnung noch in jenem 19. Jahrhundert zu stecken, dem wir unsere Strafprozessordnung verdanken“.

Dietmar Jochum, TP Berlin

Rolf Bossi: Halbgötter in Schwarz. Deutschlands Justiz am Pranger. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005, 280 Seiten, 22,90 Euro.

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