„Wenn ich ihnen den Kopf abschneide, mache ich mich nur strafbar“.

TP-Interview mit dem DDR-Flüchtling Gisbert Greifzu.

TP:
Herr Greifzu, Sie waren heute im Politbüro-Prozess gegen Egon Krenz und andere als Zeuge geladen. Könnten Sie bitte noch einmal erzählen, was Ihnen widerfahren ist? Warum mussten Sie heute hier als Zeuge aussagen?

Greifzu:
Ich bin in der Nacht vom 4. auf den 5. September 1984 mit meinem Freund Klaus Koch von Ost nach West geflohen – „emigriert“ aus politischen, privaten Gründen, weil man mich bedrängt hat, SED-Mitglied zu werden. Das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Das war der eine Grund. Der andere Grund war der, dass ich mit Schikanen leben musste bezüglich des Verlassens meines Wohnortes. Ich konnte mich nicht frei in den Fluren bewegen.

TP:
Wie ist das zu verstehen?

Greifzu:
Da ich ein ziemlicher Sportfanatiker bin, habe ich im Sperrgebiet immer ausgedehnte Läufe und Touren per Rad gemacht und wurde halt immer wieder darauf angesprochen, ob ich einen Passierschein hätte. Ohne einen solchen Passierschein kam ich überhaupt nicht in meinen Wohnort und wurde schon unterwegs von dem Bahnpolizisten kontrolliert. Das erinnert mich sehr stark an das Dritte Reich. Auch der ganze Aufbau der Jugendbewegung mit Jungpionier und FDJ war ein Abklatsch der Zeit um die Mitte der 40er Jahre. Und mich oder meine Person dafür herzugeben, konnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Aus diesem Grund habe ich mit meinem Freund, dem es ähnlich erging, die Flucht gewagt.

TP:
Ihre Flucht wäre ja fast gescheitert.

Greifzu:
Ja. Obwohl die Flucht gut geplant und einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre, hätten wir sie im Ergebnis fast über den Haufen werfen müssen, weil ein Hobbyjäger uns an dem Gelingen des eigentlichen Plans hinderte. Als wir an unserem Zielort in der Nähe von Henneberg mit dem Firmenwagen meines Freundes Klaus Koch ankamen, hatten wir ihn an einem Schuppen hinter einer Hecke abgestellt und waren dann in Richtung Grenze gelaufen. Wir mussten dann von diesem Punkt aus noch zwei Kilometer zu dem geplanten Fluchtort laufen. Dort gab es eine zirka 40 Meter lange Rohrleitung, die von Ost nach West führte, die ich 4 Wochen zuvor mit meinem Arbeitgeber verlegt hatte, damit im Frühjahr Schmelzwasser unter der Sperranlage durchgeleitet werden konnte, um nicht die ganzen Sperranlagen zu beschädigen. Durch diese Rohrleitung wollten wir eigentlich in den Westen kriechen.

TP:
Das ging ja nun daneben – warum?

Greifzu:
Genau; denn als ich auf dem Weg zu der Fluchtstelle rückwärts schaute, stellte ich fest, wie jemand mit einem Gewehr aus dem Wald herausgerannt kam. Nach einer Schrecksekunde nahmen wir beide unsere Füße in die Hand und rannten zum Auto zurück. Wir starteten das Fahrzeug, mussten aber – wie wir jetzt erkannten – an dem Jäger vorbei, um auf die Straße zu gelangen. Dieser nahm sofort sein Jagdgewehr, riss es hoch und zielte auf unser Auto, auf mich. Nachdem ich mich hinter der Beifahrertür abgeduckt hatte, hörte ich den Einschlag von Schrotkugeln auf dem Kotflügel vorne rechts. Der Jäger war so nahe dran, er stand zirka 20 Meter von uns, konnte auch das Kfz-Kennzeichen lesen und das Firmenetikett auf der Beifahrertür und hat dann Großalarm ausgelöst.

TP:
Wie reagierten Sie jetzt?

Greifzu:
Mein Kumpel und ich schauten uns fragend an: Führen wir jetzt nach Hause, müssten wir mit einer Gefängnisstrafe rechnen. So sind wir halt in das nächst beste Waldstück reingefahren, ohne zu wissen, wie der Grenzverlauf ist und wo wir uns befanden. Wir haben dann das Auto abgestellt, offengelassen und sind dann zu Fuß weiter in Richtung Grenznähe gelaufen. Eine Stunde später waren wir dann an dem Signalzaun, auf dem fünf Reihen Stacheldraht, Richtung DDR weisend, aufgespannt waren. Diesen Zaun mussten wir überqueren, ohne zu wissen, wie der Stand der Verfolgung war und ob die DDR-Grenzer schon auf unserer Fährte waren, mit Hunden und so weiter. Wir sind dann über den Zaun rüber und haben diese fünf Reihen Stacheldraht ignoriert.

TP:
Wie haben Sie das denn gemacht?

Greifzu:
Wir sind darauf gestiegen, haben sie irgendwie zusammengedrückt und waren fest davon ausgegangen, dass an irgendeinem Wachturm eine Birne aufleuchtet, die anzeigt, dass an dieser Stelle etwas nicht in Ordnung ist, so dass die Grenzer die besagte Stelle hätten abfahren können und schauen, ob hier durch Menschen oder Wild oder Geröll oder Äste – oder was auch immer – ein Schaden entstanden ist. Mit dieser Annahme …

TP:
… die ja Gott sei Dank unbegründet war …

Greifzu:
… sind wir dann die nächsten Stunden auf allen Vieren durch den Wald gekrochen bis zum nächsten Zaun. Dort angekommen stellten wir fest, dass es derselbe Zaun war, über den wir schon mal drübergestiegen waren. Da waren wir dann am Boden, frustriert und total geschockt. Was machen wir jetzt, dachten wir uns, kehren wir um und werfen alles über´n Haufen?

TP:
Wie entschieden Sie sich?

Greifzu:
Trotz aller Gefahren haben wir uns gesagt: Wir laufen weiter – Wurst egal, ob wir jetzt ein Knacken neben uns hören oder ein Schnaufen, von was weiß ich, Tieren oder Hunden, ist egal, wir laufen weiter. Wir wollten unser Ziel in die Tat umsetzen und sind dann nach zwei weiteren Stunden an die Grenze gekommen. Es wurde dunkel, fing langsam an zu regnen, und man hat schemenartig einen hellen Zaun gesehen, ohne zu wissen, ob es wieder der Signalzaun oder der richtige Grenzzaun war.

TP:
Worin bestand der Unterschied?

Greifzu:
Der Signalzaun befand sich 500 Meter vor dem richtigen Grenzzaun. Der Signalzaun sollte die erste Sperranlage darstellen, also für Leute wie wir, die die DDR widerrechtlich verlassen und ihr freies Leben leben wollten. Der Signalzaun unterschied sich von dem „richtigen“ Grenzzaun noch dadurch, dass beim „richtigen“ Grenzzaun kein Stacheldraht aufgespannt war. Anstelle dieser Drähte waren damals diese SM 70–Selbstschussanlagen installiert. An diesen haben wir uns zu schaffen gemacht. Bekannt war mir die ganze Funktion dadurch, dass ich 26 Jahre im Ostteil Deutschlands gelebt und auch öfter an der Grenze gewesen bin und dort auch gearbeitet habe. Mit einem langen Stock, den wir aus dem Wald mitgenommen hatten, versuchten wir, diese Anlagen auszuschalten. Es ist jedoch nichts passiert. Daher habe ich gedacht, dass die Anlagen abgeschaltet oder funktionsuntüchtig waren. Für meinen Kumpel habe ich dann die Räuberleiter gemacht. Der ist dann drübergeklettert, und es blieb alles ruhig: nichts explodierte, nichts detonierte, und so machte ich mich auch dran, mich auf die mittlere Ebene dieser SM 70–Anlagen zu stellen.

TP:
Wie ging das vor sich?

Greifzu:
Um diese Sache noch einmal zu verdeutlichen: Diese SM 70–Selbstschussanlagen, diese Sprengautomaten, hingen in drei Etagen an dem Zaun, das heißt also ganz unten, zirka 10 Zentimeter über dem Boden, die nächste Etage war etwa 1,20 Meter und die dritte Etage ungefähr 2,80 Meter hoch. Und das Ganze war verteilt auf drei oder vier Pfosten. Die erste hing oben, die zweite in der Mitte, die dritte unten, beim vierten Betonpfahl die erste wieder oben, und so weiter und so fort. Als ich mich daran machte, auf diesen mittleren Automaten zu steigen, habe ich den scharfen Draht oder den zündenden Draht ausgelöst und war dann mitten im Feuerwerk. Ich habe dann nichts mehr gehört, nichts mehr gesehen, mich nur noch irgendwo als Krüppel gefühlt.

TP:
Wo wurden Sie getroffen?

Greifzu:
Durch diese in zirka 1,20 Meter Höhe detonierte SM 70–Anlage, die einen riesigen Knall verursacht hat, wurde mein Gehör lahmgelegt und durch die Helligkeit der Detonation mein Augenlicht stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich habe mich mental nur noch als ein Krüppel gesehen.
Außerdem erlitt ich durch diese Detonation noch einen Schock und habe somit den Schmerz, den mir die Explosion im Oberschenkel zugefügt hat, nicht gespürt. Durch den Druck der Detonation ist der rechte Oberschenkelmuskel bis zum Knochen durchgetrennt worden. Aber, wie schon gesagt, durch den Schock, habe ich davon erst mal nichts mitbekommen. Ich habe bloß nichts mehr gehört und gesehen.

TP:
Haben Sie auch nicht gemerkt, dass Ihnen Minensplitter in die Lunge eingedrungen sind?

Greifzu:
Das mit den Minensplittern in der Lunge kam erst noch. Zunächst habe ich mich erst einmal da hingesetzt und darauf gewartet, dass sie mich jetzt abholen.

TP:
Sie meinen jetzt, dass Sie auf den Greiftrupp der DDR-Grenzer warteten bzw. damit rechneten, von ihnen jetzt ergriffen zu werden.

Greifzu:
Ja, aber irgendwie hat mein Kumpel mir Mut gemacht und immer wieder gerufen: „Gisbert komm´ her, du musst hierher.“ Gott sei Dank war in der Nähe kein Grenzposten, der mich davon abhalten konnte, wieder an den Grenzzaun zu humpeln. Also bin ich wieder an den Zaun, habe versucht mit einem mitgebrachten Seilhaken drüber zu kommen. Aufgrund meiner Schwäche – oder warum auch immer – habe ich es aber nicht gepackt. Irgendwie habe ich schon aufgeben wollen und gesagt: „Klaus geh´ weiter, ich schaffe es nicht.“ Dann bin ich doch an diese Stelle gekommen, an diesen explodierten Automaten, der ja dann Gott sei Dank unscharf war und habe mich dann – irgendwie habe ich es geschafft – oben drauf gestellt, habe mich lang gemacht, habe das obere Ende des Zaunes ergriffen, habe mich hochgezogen; und in dem Moment, wo ich oben drüber will, habe ich die obere Partie-Etage dieser SM 70–Anlagen ausgelöst. Bei dem Schmerz, den ich nun gefühlt habe, dachte ich, es ist ein Splitter auf die Rippe aufgeschlagen oder irgendwie so was. Dann habe ich mich irgendwo herunterfallen lassen, dabei leicht abgefangen, und mein Kumpel hat mich aufgefangen. Er hat mir den Rucksack abgenommen, und wir mussten dann immer noch zirka 20 oder 30 Meter DDR-Gebiet überwinden, um dann zu sehen, dass diese Schwarz-Rot-Goldenen Farben mit dem DDR-Wappen das Ende der DDR signalisierten und gleich nebenan die Blau-Weißen Farben den Freistaat Bayern anzeigten. So, jetzt wussten wir also, dass wir die DDR widerrechtlich verlassen hatten. In dem Moment wusste ich natürlich nicht, dass sich irgendwo zwei Splitter in meine Lunge reinfressen, reinbrennen. Mein Kumpel hat mich dann auf bundesdeutscher Seite abgelegt und dann versucht, im nächsten Ort Hilfe zu holen. Ich habe da eine Weile gelegen, bis ich merkte, dass die Grenzposten auf DDR-Seite zwischenzeitlich wachgeworden sind, den Schlag der Detonation gehört hatten und dann den ganzen Grenzverlauf abgefahren sind, bis sie die Stelle erreicht hatten, an der wir über den Zaun gestiegen waren und dort Schmauchspuren feststellten und erkannten, dass dort tatsächlich eine Detonation stattgefunden hatte. Sie haben an dieser Stelle alles abgeleuchtet, mich aber Gott sei Dank nicht gesehen, weil es im Wald war und sie mich hinter ungerodeten Waldstückhecken, es war auch alles hochgewachsen und unwegsam, nicht ausmachen konnten. Dieser ganze Spuk dauerte zirka 10 oder 15 Minuten, dann war ich wieder mit meinen Problemen alleine. Da habe ich mir so meine Gedanken gemacht: mit der Atemluft, weil es nicht gepasst hat, ich nicht richtig, nur ganz flach atmen konnte, Druck im Körper verspürte, der Oberkörper, über den ich mit meiner rechten Hand strich, war warm und feucht.

TP:
Feucht von Blut?

Greifzu:
Von Blut, ja. Letztendlich erst später, als ich´s dann im Krankenhaus gesehen habe, war´s dann Blut. Aber durch den Schock habe ich das erst gar nicht so wahrgenommen, war diesbezüglich auch schmerzunempfindlich.

TP:
Wie ist Ihnen schließlich geholfen worden?

Greifzu:
Ja gut, zu der Hilfe noch mal: Der bundesdeutsche Zoll, der genauso wie die ostdeutschen „Kollegen“ die Detonation gehört hatte, ist praktisch die andere Seite des Grenzverlaufs abgefahren, hat parallel da gestoppt, wo auch die DDR-Grenzer halt gemacht hatten. Weil ich so ein anderes Motorengeräusch gehört hatte, wusste ich zunächst nicht, wie ich reagieren sollte. Schließlich habe ich all meine Kräfte zusammengenommen, bin aufgestanden und durch die Hecken gekrochen, und da war dann schon ein Zollbeamter, der mich in Empfang genommen hat. Eigentlich wollten die bundesdeutschen Beamten schon wegfahren, aber weil ein Hund bellte, kam einer raus und hat mich dann gesehen und in Empfang genommen. Zunächst hat man mich notdürftig verarztet, also Erste Hilfe geleistet, und ich wurde dann ins Krankenhaus nach Mellrichstadt gefahren. In diesem Krankenhaus wurde ich zum ersten Mal durchgecheckt: Spritze gegeben, Beruhigungsspritze, dann geröntgt und den Oberschenkel, der, wie gesagt, bis zum Knochen durchgetrennt war, zusammengeflickt. Dann wurden die Splitter, die sie ohne Operation haben entfernen können, herausgenommen. Es waren so zirka 60 – 80 Stück, kleinere und größere. Die Lunge, wie gesagt, war lädiert, was man in dieser Nacht jedoch nicht behoben hat. Nach einer Nacht Intensivstation kam ich dann am nächsten Tag zu meinem Freund auf´s Krankenzimmer.

TP:
Was hatte er für Verletzungen?

Greifzu:
Er hatte, so viel ich weiß, beim Absprung sich die Haxe verletzt, das heißt, er war auf einen Stein aufgesprungen, aber von diesen SM 70–Anlagen ist er nicht getroffen worden. Er war unwesentlich später nach mir ins Krankenhaus gekommen. Er hatte in der Nähe der Grenze, in der Ortschaft Willmar, Leute alarmiert, die dann Polizei und Krankenwagen verständigten.

TP:
Sehen Sie eigentlich in denjenigen Funktionären, die jetzt auf der Anklagebank sitzen, die Verantwortlichen für das, was Ihnen widerfahren ist?

Greifzu:
Die Frage muss ich mit Ja beantworten, weil alle Befehle, die, sagen wir mal, die Grenzsoldaten, die kleinen Grenzsoldaten ausgeführt haben, ja irgendwie auf Gesetze zurückzuführen sind, die seinerzeit im Politbüro beschlossen wurden oder von ihm ausgingen. Und diese Köpfe, die damals das Sagen gehabt hatten, mache ich für diese ganzen Toten und Verletzten oder Inhaftierten oder für das ganze Unleid, das damals an der Grenze passiert ist, verantwortlich. Die Frage ist jedoch zu stellen, ist dieser Prozess sinnvoll, hat er einen Nutzen oder schadet er nur unseren Steuergeldern.
Das Problem ist halt dies: Die wahre Strafe bekommen diese Herren, glaube ich, sowieso nicht. Wenn sie irgendwo kein Gewissen haben, dann leben sie unbehelligt bis an ihr Lebensende. Musterprozesse haben wir, glaube ich, schon zur Genüge gehabt. Ich finde, dieser ganze Aufwand, der da betrieben wird und das Produkt, das am Ende dabei herauskommt, steht in keinem Verhältnis zu diesem Aufwand.

TP:
Empfinden Sie Rache?

Greifzu:
Ich meine, ich habe es im Prozess bei der Vernehmung schon gesagt: Es ist passiert. Die können es nicht mehr ungeschehen machen. Wenn ich Ihnen jetzt den Kopf abschneide, mache ich mich strafbar. Dafür sind die Gesetze da. Aber, sage ich mal, diese ganze Geschichte liegt auch schon so lange zurück.

TP:
Gäbe es Ihnen Genugtuung, wenn die Politbüro-Mitglieder z.B. inhaftiert würden, also hier ein Urteil rauskommt, das sie für – was weiß ich wie viele – Jahre in den Knast führt?

Greifzu:
Natürlich würde mich das, sagen wir mal, nicht befriedigen, aber ich würde schon sagen, es ist okay, sie wären wenigstens für das bestraft worden, was sie in der Vergangenheit angestellt bzw. „verbrochen“ haben. Wobei man halt irgendwo wieder sagen muss, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Der Albrecht…

TP:
… ehemaliges Politbüromitglied und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates, der zusammen mit Erich Honecker und Erich Mielke, auch Heinz Keßler und Fritz Streletz auf der Anklagebank saß und zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 1 Monat verurteilt worden ist…

Greifzu:
… der zu seiner Zeit auch Chef des Bezirks Suhl war, der saß, glaube ich, schon im Gefängnis, und solche Leute wie der Krenz und Kleiber und wie sie alle heißen …, diese Konsorten laufen noch immer auf freiem Fuß herum. Und dann berufen sie sich halt immer wieder darauf, dass sie nach DDR-Recht gehandelt haben und nach bundesdeutschem Recht nicht verurteilt werden können. Ich meine, dieser ganze Hickhack zieht sich elend in die Länge. Ich meine, wir schreiben jetzt das Jahr 1997, die DDR gibt es schon seit sieben Jahren nicht mehr oder acht. Seit dieser Zeit wird schon prozessiert. Wenn man jetzt mal die Rechnung aufmachen würde, was dieser ganze Prozess für Gelder verschlungen hat, also einen Strich machen würde, wenn der Prozess vorbei ist und dann sieht, was unter dem Strich dabei herauskommt, dann sähe es nicht gerade gut aus. Ich glaube, wenn eine Firma so wirtschaften würde, wäre sie schon lange bankrott.

TP:
Dass Prozesse viel Geld kosten, darf ja kein Kriterium dafür sein, die Beweisführung einzuschränken, wenn sie von irgendwelchen Prozessbeteiligten als notwendig angesehen wird, selbst wenn sie sich in die Länge zieht.

Greifzu:
Nein, das ist ein zweischneidiges Schwert.
TP:
Was wäre Ihrer Meinung nach zu tun?

Greifzu:
Natürlich müssen solche Leute irgendwo an den Pranger gestellt oder vor Gericht gestellt werden. Aber die andere Frage ist halt die wieder: Was bezweckt man damit? Was kann ich diesen Leuten, die halt, sagen wir mal, in der Regel vielleicht noch 10 Jahre leben, an den Hals wünschen? Man sollte sie natürlich nicht unbehelligt gehen lassen, man sollte sie irgendwo in Gewahrsam nehmen, was weiß ich, Strafarbeit, etwas in diese Richtung irgendwo spüren lassen, also langsam spüren lassen, dass sie in sich gehen und sich sagen: Okay, das, was ich damals gemacht habe, war nicht richtig.

TP:
Sehen Sie da eine Chance, dass die Leute in Ihrem Sinne in sich gehen?

Greifzu:
Ich habe gerade schon gesagt, wenn diese Leute kein Gewissen haben, dann werden sie mit dem, was sie „verbrochen“ haben, ihr Lebensende erreichen oder es mit ins Grab nehmen. Wenn sie aber irgendwo ein kleines bisschen Anstand haben und ein bisschen Denken in diese Richtung, was sie für ein Leid zugefügt haben: Familien getrennt, Ehepartner, auf Dauer Menschen haben zu Krüppeln werden lassen und, und, und …, dann bin ich der Meinung, dass das Ganze einen Sinn hat. Aber sie berufen sich ja darauf, dass sie nach Recht und Gesetz gehandelt haben. Und sie waren ja das Gesetz. Ich meine, dass sie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention schon damals verstoßen haben. Das bleibt immer außer acht. Das haben sie selber schon gewusst. Aber der Mensch ist ja von Natur aus herrschsüchtig, rachsüchtig, und das haben diese Herren ja auf das Schamloseste ausgenutzt. Sie haben die Meinungs- und Pressefreiheit unterbunden, damit sie als die Übermenschen sich dort sämtlichen Reichtum des Sozialismus aneignen konnten. Deswegen habe ich ja anfangs im Prozess gesagt, dass die Theorien von Marx, Engels und Lenin nicht die schlechtesten waren. Bloß die Umsetzung war nicht möglich, weil die Leute damals den Menschen vergessen haben, den Menschen an sich. Und diese Herren im Politbüro haben das, wie gesagt, schamlos ausgenutzt und dadurch, dass wir keine Pressefreiheit hatten in der DDR damals, alles noch schön unter den Teppich kehren können. Jetzt kommen ja sämtliche Machenschaften hervor. Was weiß ich, diese Villen, diese Jagdreviere, die Herr Honecker und solche Konsorten dort gehabt haben – und diese Strafe dafür!? Ich weiß nicht, ob das irgendwo vor Gericht entschieden werden kann.

TP:
In Anbetracht dessen, was Ihnen widerfahren ist: Würden Sie eine solche Flucht noch einmal wiederholen? Bereuen Sie eventuell Ihre Flucht in Anbetracht Ihrer großen gesundheitlichen Schäden, die Sie davon getragen haben?

Greifzu:
Die angeführten gesundheitlichen Schäden sind zwar riesig, aber diese menschliche Entwicklung, die ich seit dieser Zeit durchmache, wiegt alles andere wieder auf. Ich habe mein Leben selber in den Griff gekriegt. Damals ist es ja so gewesen, dass man sich nie Gedanken gemacht hat, was alles zum Leben dazugehört. Man hat praktisch das gemacht, was einem vorgegeben wurde. Man war ein unmündiger Mensch, man hat die Ziele verfolgt, die parteilich ausgegeben wurden oder was der Vater gesagt hat, war in Ordnung. Man hat das nicht irgendwie angezweifelt, man hat überhaupt keine eigenen Gedanken haben dürfen.

Wenn man, sagen wir mal, z.B. einen Kolchosen- oder LPG-Vorsitzenden damals irgendwo als „dummer Hund“ oder als „krumme Sau“ tituliert hat, dann musste man schon damit rechnen, dass man inhaftiert wurde. Ich meine, diese Fälle sind bekannt, bei uns im Ort ist das gewesen: Wer irgendwo, gerade am Biertisch in der Kneipe so´n bisschen Unmutsäußerungen von sich gegeben hat – und das nicht ein Mal, es waren etliche Male -, der wurde dann eben für zwei Jahre hinter Gitter gesteckt. Das sind eben alles solche Fälle, wo man halt sagt: Wo leben wir denn?

TP:
Haben Sie damals im vollen Bewusstsein des Risikos die Flucht angetreten?

Greifzu:
Ja gut, ich meine, das Risiko war uns nicht bewusst, weil wir wollten ja durch die Rohre kriechen, und da wäre uns überhaupt nichts passiert. Dass wir über den Zaun mussten, war ja nicht eingeplant. Das war ja praktisch dieser Notplan, den wir eigentlich gar nicht in Betracht gezogen haben, wenn uns der Jäger nicht dazwischengefunkt hätte.

TP:
Also die Verzweiflung war es sozusagen, die Sie und Ihren Freund dann doch ein Risiko haben eingehen lassen?

Greifzu:
Ja, das war praktisch nur noch die Flucht vor dem Gefängnis, was uns geblüht hätte, wenn wir von dem Jäger oder sonst wem dann gefasst worden wären. Ansonsten wären wir das Risiko wahrscheinlich so nicht eingegangen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 3.3.1997

Foto: privat Gisbert Greifzu

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*