Geschichte kann nicht durch Strafjustiz bewältigt werden – persönliche Verantwortung bleibt!

TP-Interview mit Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin.

TP: Frau Däubler-Gmelin, in Berlin wird seit einigen Monaten der Prozeß gegen ehemalige Mitglieder des Politbüros, darunter Egon Krenz, geführt. Von ihnen wird der Standpunkt vertreten, und das haben sie u.a. in persönlichen Erklärungen zum Ausdruck gebracht, es werde ein politischer Prozeß gegen sie geführt. Muß um die Unabhängigkeit der Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland gefürchtet werden?

Däubler-Gmelin: Nein, das glaube ich nicht. Es gibt auch im vorliegenden „Prozeß Krenz“ keine Hinweise dafür; und lassen Sie mich sagen: das unterscheidet die Strafgerichtsbarkeit heute von der SED-abhängigen DDR-Strafjustiz. Daß im übrigen Angeklagte Erklärungen zu Beginn oder während eines Prozesses abgeben, die sie für sich persönlich für günstig halten, das ist normal, das haben wir in vielen anderen Strafprozessen auch, das gehört zu den Rechten der Angeklagten. Aber damit ist natürlich nicht gesagt, daß diese Erklärungen inhaltlich zutreffen.

TP: Es stellt sich bei diesen Prozessen zwangsläufig die Frage nach der Beteiligung von Richtern aus der ehemaligen DDR. Ist Ihnen bekannt, wieviele Richter aus der ehemaligen DDR an der juristischen Aufarbeitung des sogenannten DDR-Unrechts beteiligt sind?

Däubler-Gmelin: Nein: Der Begriff „Aufarbeitung des sogenannten DDR-Unrechts“ ist ja nun auch eine außerordentlich vage Formulierung.

TP: Sind ehemalige DDR-Richter grundsätzlich ungeeignet, an der Aufarbeitung des sogenannten DDR-Unrechts mitzuwirken – aus welchen Gründen auch immer?

Däubler-Gmelin: Ich darf nochmals sagen: Was genau angesprochen ist, läßt sich mit den Worten juristischer Aufarbeitung des DDR-Unrechts nicht präzise und nicht genau genug abgrenzen. Deswegen bin ich der Auffassung, daß man nicht sagen kann, alle DDR-Richter seien für alle denkbaren Fälle ungeeignet. Um klar zu machen, was ich inhaltlich meine, nur zwei Beispiele: Wenn jemand ein anständiger, guter DDR-Richter für Mietrecht oder für Familienrecht war, warum soll der oder warum soll – wenn es sich um eine Frau handelt – diese Richterin ungeeignet sein, bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts mitzuarbeiten? Auf der anderen Seite: Es gibt natürlich eine Menge Richter, die, wie ich es schon erwähnte, in der SED-abhängigen DDR-Strafjustiz tätig waren; daß man hier, wenn man sie überhaupt als Richter wieder einstellte, den Bock zum Gärtner machen würde, ist zweifelsfrei auch richtig. Man wird sich also genau anschauen müssen, mit wem man’s zu tun hat.

TP: Glauben Sie, daß Richter politisch generell nach der Pfeife der SED getanzt haben?

Däubler-Gmelin: Das ist eine Beurteilung, die mir nicht zusteht. Es gibt jedoch Beispiele, die mich erschrecken.

TP: Von Angeklagten und Verteidigern wird die Völkerrechtswidrigkeit der jetzt durchgeführten Prozesse angeprangert. Ihre Anträge zielen z.B. auf die Einholung von völkerrechtlichen Gutachten, die bislang abschlägig von den Gerichten beschieden wurden trotz einer noch ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das sich in einem vergleichbaren Fall u.a. mit dieser Problematik beschäftigt. Sind vollendete Tatsachen schon längst geschaffen?

Däubler-Gmelin: Sie fragen mich nach Details des unmittelbar laufenden Prozesses. Sie werden verstehen, daß ich mich dazu nicht urteilend äußere. Nur soviel: Die Aspekte des Vorbringens der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft muß selbstverständlich von den zuständigen Richtern geprüft werden. Das ist genau ihre Aufgabe, und diese Richter kennen die Gesetze, und sie kennen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts natürlich genauso gut wie Sie oder ich.

TP: Wäre die Erfüllung der Forderung von Angeklagten und Verteidigern nicht rechtsstaatlich geboten, die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten, bevor der Prozeß gegen Egon Krenz u.a. weitergeführt wird?

Däubler-Gmelin: Auch da kann ich nur sagen, wenn das so ist, wird das Gericht das veranlassen.

TP: Von Verteidigern im Politbüroprozeß wird auch die Verletzung des verfassungsrechtlich gebotenen Rückwirkungsverbotes gerügt. Die Angeklagten bestätigen konsequent, sie hätten stets nur nach den geltenden Gesetzen der DDR gehandelt. Wenn das Rückwirkungsverbot, z.B. durch die Radbruchsche Theorie keine Anwendung finden wird oder soll, warum nicht konsequenterweise eine Anklage gegen alle Volkskammerabgeordneten, die die Gesetze beschlossen haben?

Däubler-Gmelin: (lacht) Wissen Sie, diese Argumentation – ich weiß nicht, ob sie im einzelnen von den Verteidigern oder von den Angeklagten vorgebracht wurde – klingt merkwürdig. Zunächst darf ich nochmals wiederholen, daß die verantwortlichen Richter selbstverständlich prüfen werden, was rechtsstaatlich geboten ist und was nicht. Aber das Politbüro – jetzt abgesehen von allen anderen Details – mit der Volkskammer gleichzusetzen, das erscheint mir aus dem Mund, z.B. eines Herrn Krenz – wenn er‘ s denn gesagt haben sollte – eigentlich ziemlich lächerlich.

TP: Er sagt zum Beispiel, daß alle Gesetze von der Volkskammer beschlossen wurden.

Däubler-Gmelin: Ohne Zweifel richtig; aber die politische Bedeutung und die machtmäßige Einflußmöglichkeit des Politbüros mit der Volkskammer zu vergleichen oder gar gleichzusetzen, scheint mir in Anbetracht der Geschichte, die er so gut kennt wie Sie oder ich, wie gesagt, ziemlich lächerlich.

TP: Hans Modrow sagte mir in einem Interview, wir müssen die Globalität der Zeit begreifen. Wären geschichtliche Belange demzufolge nicht schon bei der Tatbestandsprüfung zu würdigen?

Däubler-Gmelin: Es ist bekannt, daß ich Herrn Modrow sehr schätze; und ich glaube auch, daß er recht hat mit der Forderung, die Globalität der Zeit heute wie damals zu begreifen. Ich denke auch, daß der Allgemeinplatz richtig ist, daß unsere Geschichte nicht durch die Strafjustiz bewältigt werden kann. Daß es freilich strafrechtlich relevante persönlich zurechenbare Taten gibt – übrigens gerade auch von Menschen, die einer Regierung angehört oder die politische Macht ausgeübt haben -, die dann auch individuell verfolgt und bestraft werden können, ja müssen, auch heute, ist im übrigen ebensowenig zu bestreiten.
Was für die aktuellen Prozesse gegen Krenz und Co. zutrifft, das freilich muß das Gericht beurteilen.

TP: Wie souverän war die DDR Ihrer Meinung nach in Grenzfragen wirklich? Spielte das eine Rolle bei der nun vor Gericht zu klärenden Frage der Toten und Verletzten an Grenze und Mauer? Oder sind Grenze und Mauer und Sicherung derselben zwei paar Schuhe?

Däubler-Gmelin: Ich wage nicht zu beurteilen, wie politisch souverän die DDR in Grenzfragen wirklich war. Ich glaube auch nicht, daß das für alle Zeiten gleich beurteilt werden kann. Das ist auch Sache der Historiker, das zu beurteilen. Aber ich halte es für falsch, die Anordnung und den Vollzug, also die Umsetzung des Schießbefehls an der DDR-Grenze ganz außerhalb der persönlichen Verantwortlichkeit gerade der Machthaber und der Regierenden zu stellen, wie das Ihre Frage andeutet. Oder soll die Frage andeuten, die Herren Krenz und Co. hätten im Befehlsnotstand gehandelt, also seien unter Druck der sowjetischen Machthaber in Moskau gestanden als sie den Schießbefehl beschlossen haben und umsetzen ließen?

TP: Jedenfalls behaupten sie, daß die Grenze von den Warschauer Vertragsstaaten beschlossen wurde und sie daran nichts ändern konnten.

Däubler-Gmelin: Das ist eine interessante Ausführung, obwohl sie nach Schutzbehauptung klingt. Das wird belegt werden müssen, dann wird darüber zu befinden sein.

TP: Wie beurteilen Sie die von der Verteidigung in Anspruch genommene These von den beiden Lebenslügen in Deutschland: Solange die DDR bestanden hat, wurde ihre Existenz nach Kräften geleugnet. Heute nach ihrem Untergang tut man alles, um sie so souverän wie möglich zu machen. Insoweit würde der Prozeß in Berlin zu einem verlogenen Verfahren.

Däubler-Gmelin: Auch das halte ich für eine Äußerung, die wohl eher die Funktion hat, von der persönlichen Verantwortlichkeit von Machthabern und Regierenden abzulenken. In meinen Ohren klingt so etwas reichlich schäbig, wenn ich mir überlege, wie viel an Leid und auch wie viel an menschlicher Bitterkeit gerade die Umsetzung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze mit sich gebracht hat.

TP: Gibt es für Sie einen Beweis, daß es einen Schießbefehl in der DDR gegeben hat?

Däubler-Gmelin: Diese Frage verstehe ich schon überhaupt nicht. Warum soll es jetzt „für mich“ einen Beweis geben…, ob oder daß der Schießbefehl bestanden hat, ist doch keine Frage meiner persönlichen subjektiven Meinung.

TP: Aber es geht in diesem Prozeß darum, einen eventuellen Schießbefehl zu beweisen, daß das Politbüro die Verantwortung getragen hat für Tote und Verletzte an der Grenze.., es wird ihnen aktives Tun vorgeworfen und demzufolge muß doch ein schriftlicher Befehl oder Beschluß vorgelegen haben.

Däubler-Gmelin: Es sind zwei Dinge nötig, nämlich 1. daß ein Befehl vorgelegen hat und daß er umgesetzt wurde. Ich weiß nicht, worin Sie darin irgendwelche Zweifel sehen und 2. daß die persönliche Verantwortlichkeit festgestellt und zugerechnet werden kann. Um die Klärung beider Dinge werden sich die Richter in diesem Prozeß sicherlich bemühen.

TP: Ich konfrontiere Sie lediglich mit den persönlichen Angaben der Angeklagten, die einen Schießbefehl partout bestreiten.

Däubler-Gmelin: Ja nun, ich hab‘ ja schon gesagt, jeder Angeklagte hat selbstverständlich in einem rechtsstaatlichen Prozeß, wie wir ihn kennen, das Recht Erklärungen abzugeben, die er selber oder die sein Verteidiger für günstig hält. Deshalb müssen sie noch lange nicht stimmen.

TP: Ich kenne natürlich als Prozeßbeobachter die Anklageschrift, und ein Schießbefehl als solcher ist mir da nicht untergekommen.

Däubler-Gmelin: Das ist Ihre Meinung.

TP: Unterstellt, die DDR existierte noch – könnten Sie sich vorstellen, daß ihre Staatsoberhäupter heute noch ungehindert auf Staatsbesuch in die Bundesrepublik einreisen könnten bzw. die Justiz Prozesse führen würde, wie es heute nach dem Zusammenbruch der DDR geschieht?

Däubler-Gmelin: Das ist eine hoch interessante Frage, und ich glaube, das ist Stoff für einen Schriftsteller, der dort bestimmt mit viel Kreativität und mit mancher spitzen Feder zuschlagen würde.

TP: 131 Abgeordnete der DUMA haben am 15. Mai einen Brief an den Deutschen Bundestag geschrieben. In diesem Schreiben wird u.a. darauf Bezug genommen – ich zitiere: „Im Grunde genommen wurden die Bürger der ehemaligen DDR, von geringen Ausnahmen abgesehen, von den Prozessen der Privatisierung des staatlichen Eigentums der DDR ausgeschlossen, von dem fast ausschließlich Bürger der früheren Bundesrepublik Besitz ergriffen haben. Eine Diskriminierung besteht auch in bezug auf die Höhe der Entlohnung und der Sozialleistungen. Hunderttausenden von ehemaligen Mitarbeitern im Staatsdienst, Funktionären gesellschaftlicher Organisationen, Lehrern, Ingenieuren und Offizieren ist das Recht genommen, ihrer Ausbildung entsprechend arbeiten zu dürfen. Es gibt dafür nur einen Grund – das Bestreben, die DDR aus der deutschen Geschichte zu streichen, an ihr und ihren aktiven Bürgern Rache zu nehmen dafür, daß es sie gegeben hat. Die Sache geht bis zur Lächerlichkeit. Moderne und nutzungsfähige Gebäude im Zentrum von Berlin werden allein deshalb abgetragen, weil sie zu Zeiten der DDR errichtet worden sind und an sie erinnern.“

Schwere Vorwürfe von den DUMA-Abgeordneten, Frau Däubler-Gmelin?

Däubler-Gmelin: Es sind nicht d i e DUMA-Abgeordneten, es sind genau 131; ich weiß nicht, welcher Teil der DUMA-Abgeordneten unterschrieben hat, weil mir die Unterschriften selbst nicht vorliegen. Ich denke aber, wir Bundestagsabgeordneten sollten bald mit den Kolleginnen und Kollegen der DUMA über die Fakten reden. Ich glaube, daß sie die Situation hier in der Bundesrepublik genauso wenig kennen wie manches andere. Das verwundert mich nicht sehr, weil ich auch nicht voraussetzen kann, daß unsere Kolleginnen und Kollegen im Bundestag über die Situation in Rußland heute genau informiert sind. Aber ich denke, so falsch dieser Brief inhaltlich auch ist, so einseitig er die jetzt im Augenblick angestrengten Prozesse gegen Krenz und Co. auch beschreiben mag, so deutlich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, mit den Kolleginnen und Kollegen der russischen DUMA zu sprechen, gerade auch, damit falsche Argumente sich nicht einprägen oder ein falscher Eindruck die Beziehungen unserer beiden Länder trüben könnte.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Herta Däubler-Gmelin ist Mitglied des Bundestages seit 1972, seit 1994 Vorsitzende der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der SPD-Fraktion.

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