„In die entscheidenden Zentren eingedrungen“.

TP-Interview mit Werner Großmann über die Aufgaben der DDR-Aufklärung und Helmut Kohls Furcht vor MfS-Akten, über Rosenholz und Fürsorgepflicht.

(Generaloberst a. D. Werner Großmann – geb. 1929 – war seit 1986 stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR und Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Er ist Autor des Buches »Bonn im Blick. Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs«. Das Neue Berlin, 2001, 320 Seiten, 17,50 Euro.)

Frage: In einer Agentenserie des DDR-Fernsehens fällt am Schluß einer Staffel der Satz: »Der Osten weiß ja alles!« Wußte der Osten wirklich alles, was im Westen vor sich ging?

Großmann: Nein, natürlich nicht. Das kann man nicht sagen und das ist auch nicht beabsichtigt gewesen. Was versteht man unter »alles«? Unsere Aufgabe war es, in die entscheidenden Zentren in der Bundesrepublik, in Westberlin oder auch in anderen NATO-Staaten einzudringen und dort die Politik gegenüber der DDR bzw. gegenüber dem gesamten sozialistischen Lager zu erkunden. Und das auf politischem und militärischem, vor allen Dingen auf militärpolitischem und militärstrategischem Gebiet. Das war eine unserer Hauptaufgaben: Sicherung des Friedens, Verhinderung militärischer Überraschungen. Weiter auf wirtschaftlich-technischem und wirtschaftlichem Gebiet. Das war Folge der Embargobestimmungen gegenüber den sozialistischen Ländern. Und dann natürlich nicht zuletzt auch die Bekämpfung der gegnerischen Spionage bzw. überhaupt Agententätigkeit gegen die sozialistischen Länder. Unsere nachrichtendienstliche Tätigkeit war also auf Schwerpunkte ausgerichtet und nicht gegen alle und alles.

Frage: Wenn Sie nur einen Teil dessen wissen, was man Ihnen nachsagt: Helmut Kohl klagt gegen die Veröffentlichung seiner Stasi-Akten. Bisher erfolgreich. Was hat er zu verbergen, daß er so vehement gegen die Veröffentlichung seiner Akten klagt, die ja von der Gauck/Birthler-Behörde vorgesehen ist und auch von der Presse gewünscht wird?

Großmann: Ich muß erst einmal sagen, daß ich diese Akten, die ihn so stören, nicht kenne. Das sind Unterlagen, die nicht von uns erarbeitet wurden. Bei uns existierten solche Unterlagen nicht mehr.

Frage: Aber Sie haben Kenntnis davon gehabt?

Großmann: Ja sicher, wir hatten auch unsere eigenen Dossiers, darunter natürlich auch welche über Helmut Kohl.

Frage: Wenn Helmut Kohl von irgendwelchen Dienststellen Ihres Bereiches oder des MfS insgesamt abgehört worden ist, dann dürfte Ihnen doch nicht verborgen geblieben sein, was da zutage gefördert wurde?

Großmann: Wenn abgehört wurde, heißt das nicht, daß wir alles bekommen haben. Das war keine Pflicht einer Diensteinheit, die abgehört hat, uns das vorzulegen. Da gab es keinen Automatismus. Wir haben natürlich bestimmte Anfragen gestellt zu Personen oder Sachverhalten und sind dann informiert worden. Ob wir alles bekommen haben, kann ich nicht sagen.

Frage: Helmut Kohl ist nicht »Hans Müller« und war, als er abgehört wurde, eine wichtige Persönlichkeit. Es ist schwer vorstellbar, daß das, was das MfS durch Abhörmaßnahmen erfahren hat, nicht bis zur HVA durchgedrungen sein soll.

Großmann: Ja natürlich haben uns bestimmte Sachverhalte interessiert, aber nicht alles. Wir haben ganz sicher nicht alles bekommen, was ihn so irritiert oder stört, was da vorhanden ist und bei der Gauck-Behörde – oder wo auch immer – liegt. Da sind sicher Inhalte drin, die wir überhaupt nicht zur Kenntnis bekommen haben und somit auch nichts darüber wissen. Aber das heißt nicht, daß ich keine bestimmte Vorstellung habe, wovor er sich besonders fürchtet. Nämlich Dinge, die seine Person selbst betreffen, gar nicht so sehr politische Entscheidungen, die möglicherweise gefallen sind.

Frage: 0190er-Nummern wird er ja nicht gerade angerufen haben.

Großmann: Nein, natürlich nicht. Aber er hat einen bestimmten Umgang mit seinem Umfeld gepflegt, und es gab auch mal enge Freunde, die es dann später – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr waren. Hinsichtlich dieser persönlichen Dinge, die ja in der Politik oft auch eine ganz entscheidende Rolle spielen, ist sicher in den Telefonaten vieles gesagt und darüber gesprochen und aufgenommen worden. Da wäre möglicherweise einiges ganz unangenehm, wenn das an die Öffentlichkeit käme.

Frage: Und würden seine persönlichen Beziehungen zu irgendwelchen Politikern aus der damaligen Zeit erheblich stören und seinem Image in der Öffentlichkeit schaden?

Großmann: Ja, das scheint mir das Wichtigste zu sein.

Frage: Einige DDR-Funktionäre wurden in den Prozessen nach 1990 freigesprochen oder erhielten äußerst milde Strafen – darunter Ihr Vorgänger als HVA-Chef Markus Wolf, der Chef der »Kommerziellen Koordinierung« Alexander Schalck-Golodkowski und Sie. Auch heute noch wird gemunkelt, die Betreffenden wüßten zuviel. Was ist da dran?

Großmann: Da ist überhaupt nichts dran, das ist völliger Quatsch, eine solche Einschätzung zu treffen. In der Umbruchszeit, also 1989/1990, noch vor der Einheit, war auch auf der bundesdeutschen Seite, insbesondere initiiert durch Kohl und auch durch Wolfgang Schäuble, eine Amnestie vorgesehen. Es gab einen Vorschlag im Bundestag, der dann von SPD-Seite, insbesondere vom damaligen Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, abgelehnt wurde. Man ging davon aus, die deutsch-deutsche Spionage, die von beiden Seiten betrieben worden ist, sei ein, wie Schäuble es immer formuliert hat, »teilungsbedingtes Delikt«. Mit der Beseitigung der Teilung, der Herstellung der Einheit, sei es auch beseitigt, erledigt und man sollte Schluß damit machen und nicht mehr lange darüber reden. Schließlich wurde Spionage von beiden Seiten betrieben, rechtmäßig betrieben. Denn es war legitim, daß jeder Staat seine Auslandsnachrichtendienste hatte. Diese Auffassung wurde dann, wie ich es eben sagte, insbesondere von der SPD nicht mitgetragen. Insofern kam es zu keinem Beschluß, es kam zu keinem Gesetz, und die Justiz bzw. die Strafverfolgungsbehörden hatten freie Hand. Da hat man dann zunächst versucht, mit geballter Kraft sowohl die hauptamtlichen Mitarbeiter unseres Dienstes und des Aufklärungsdienstes der Nationalen Volksarmee, also der Nachrichtendienste der DDR, die nach Westen gearbeitet haben, und vor allen Dingen unsere inoffiziellen Mitarbeiter (IM) und Kundschafter zu verurteilen und zu bestrafen. Gegen hauptamtliche Mitarbeiter der HVA wurden circa 4000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, gegen IM und Kundschafter circa 2000. In meinem Prozeß – mit mir waren vier weitere leitende Mitarbeiter angeklagt – ist die Anklage in Berlin beim Kammergericht erhoben worden, und das Kammergericht hat die Sache dann dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt, weil es, ich sage das jetzt mal so, die Linie, wie sie anfangs von der CDU vertreten wurde, offensichtlich für richtig und nicht für strafwürdig hielt, was wir getan haben. Das Bundesverfassungsgericht hat dann am 15. Mai 1995 einen entsprechenden Beschluß gefaßt, der für die hauptamtlichen Mitarbeiter der DDR-Nachrichtendienste ein Strafverfolgungshindernis festschrieb.

Frage: Also für diejenigen Mitarbeiter, die direkt vom Boden der DDR aus agiert haben.

Großmann: Ja. Andere, die zeitweilig in der Bundesrepublik gelebt und gearbeitet hatten und für uns tätig waren, dann wieder in der DDR gelebt haben, wurden weiter strafrechtlich verfolgt und verurteilt und unsere Kundschafter natürlich erst recht. Richtig gewesen wäre, die strafrechtliche Verfolgung auch der inoffiziellen Mitarbeiter einzustellen. Damit wäre auch ein vielgebrauchtes Argument hinfällig, daß man die kleinen bestraft und die Großen laufen läßt.

Frage: Ein Problem des MfS war, daß nach 1990 viele sogenannte Westagenten, d. h. Ostagenten im Westen, aufgeflogen sind, und zwar nicht durch Verrat von Überläufern oder Doppelagenten, sondern durch nicht vernichtete Unterlagen, die u.a. in der Gauck-Behörde gefunden worden sind. Neutral gefragt: Läßt die Fürsorgepflicht von Geheimdiensten gegenüber ihren Mitarbeitern nicht zu wünschen übrig, wenn sie nicht von vornherein dafür Sorge tragen, daß ihre Mitarbeiter nicht mehr identifiziert werden können – innerhalb und außerhalb des Dienstes. Sehen Sie hier ein Defizit von Geheimdiensten, hier speziell Ihres Geheimdienstes, der HVA?

Großmann: Ich möchte erst einmal sagen, daß das – Sie bezeichnen das als Fürsorgepflicht – in unserer Tätigkeit eine ganz große Rolle gespielt hat. Wir haben uns immer für unsere Mitarbeiter – ob nun hauptamtlich oder inoffiziell, also diejenigen, die, wie wir damals gesagt haben, im Ausland beschäftigt waren – eingesetzt. Wir haben uns gegenseitig Fürsorgepflicht, Hilfe und so weiter versprochen, auch in Situationen, wenn man in Schwierigkeiten kommt. Und ich muß dazu sagen, daß wir uns auch zu jedem enttarnten Mitarbeiter von uns bekannt haben. Hier gibt es Unterschiede zu den westlichen Geheimdiensten. Wir haben unseren Leuten stets Hilfe zuteil werden lassen: In erster Linie Hilfe durch Anwälte. Das ist ja immer das Notwendigste gewesen. In den Ländern, in denen wir diplomatische Vertretungen hatten, sind dann auch Besuche erfolgt und man hat Pakete geschickt und so weiter. Wir haben die Leute in den Gefängnissen nicht im Stich gelassen. Das war uns eine heilige Pflicht. Jetzt muß man natürlich sehen, daß Ende 1989 bis zur endgültigen Auflösung des Dienstes im Juni 1990 eine Situation bestand, wo vieles nicht mehr exakt funktionierte, wo vieles nicht mehr überschaubar war, wo also viele Handlungen begangen werden konnten, die man nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das ist einfach Fakt. Durch die Verunsicherung, die natürlich auch für viele Mitarbeiter da war – wie ihre Zukunft aussieht, was sie mal tun werden, wie sie überhaupt überleben werden mit ihren Familien – war das natürlich noch potenziert. Eine korrekte Dienstausübung war in der letzten Zeit sehr erschwert.

Frage: Gewissermaßen wurde vorausgesehen, daß der Geheimdienst seine Karten offenlegen muß – der Reißwolf war ja stellenweise schon am Arbeiten, es wurden auch Brandstellen gefunden. Hat man es nicht mehr geschafft, den Rest auch noch zu vernichten?

Großmann: Eine unserer Maßnahmen war, den Beschluß zu fassen, alle Unterlagen zu vernichten, um eben die Sicherheit insbesondere unserer inoffiziellen Mitarbeiter zu gewährleisten. Wir haben auch entgegen gegebener Weisungen, auch regierungsseitig, keine Akten mehr zu vernichten, es dennoch getan, haben uns also nicht daran gehalten.

Frage: Im Interesse der Mitarbeiter ja verständlich.

Großmann: Natürlich. Das ist auch mit großem Aufwand gemacht worden und mit großem Engagement von vielen. Das kann man auch im Nachhinein nur als eine Tat bezeichnen, die immer darauf ausgerichtet war, Schutz und Sicherheit für anvertraute Personen zu gewährleisten. Was jetzt bekanntgeworden ist, sind insbesondere zwei Dinge. Das ist einmal das sogenannte Rosenholz-Material, Unterlagen, die bei der CIA gelandet sind und wovon 1993 die ersten Unterlagen an die bundesrepublikanischen Dienste gegeben wurden. In der Folge gab es dann noch eine ganze Reihe von Enttarnungen und Verhaftungen von Kundschaftern, die bis dahin noch nicht bekannt waren. Darunter fällt zum Beispiel auch Rainer Rupp, der gehört mit in diese Kategorie. Bis dahin wußte man zwar, daß es einen »Topas« gab, wußte aber nicht, wer es war.

Diese Unterlagen sind entgegen den vielen Medienveröffentlichungen nicht von einem unserer Mitarbeiter in einem Koffer nach Karlshorst getragen und von dort nach Moskau und dann an die Amerikaner verkauft worden. Das ist für meine Begriffe völliger Unsinn. Erstens ist es schon nachweisbar, daß es eben so nicht stimmt, was der Mitarbeiter gemacht haben soll. Er selbst sagt, er habe gar keine Kenntnis gehabt, was in diesem Koffer war. Auf gar keinen Fall diese Unterlagen. Für mich gibt es hier nur Verrat. Hier ist irgend jemand aus unserem Dienst – wer auch immer, ist bis heute nicht bekannt, oder auch mehrere – zum Verräter geworden, hat sich in den Besitz dieser Unterlagen gebracht und hat sie den Amerikanern verkauft. Etwas anderes kann es gar nicht gewesen sein. Das ist eine ganz schlimme Sache. Das war das wichtigste Material – ich hielt es für vernichtet. Nun kann man einen Personenkreis eingrenzen, sicher, aber ob es nun die wenigen, die da in Frage kämen, wirklich auch gewesen sind – wer weiß es? Aber eines Tages wird es bekannt werden. Wie alles andere auch eines Tages bekannt wird.

Das Zweite sind die sogenannten SIRA-Unterlagen. Das ist das, was Sie ansprachen, was bei der Gauck-Behörde liegt. Das sind auf Magnetbänder gespeicherte Unterlagen gewesen, die nicht vernichtet wurden. Das widerspricht eigentlich einer damaligen Regierungsanordnung, alle Datenträger physisch zu vernichten. Da gab es auch eine Weisung unsererseits. Und hier gibt es tatsächlich eine Fehlhandlung von Mitarbeitern bei uns. Statt die Bänder physisch zu vernichten, haben sie die Bänder mehrere Male mit bestimmten Zeichen überspielt in der Annahme, daß damit das Gespeicherte gelöscht ist und nicht mehr sichtbar gemacht werden kann.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: Lutz Helmdach

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