„Wir erwarten keine Gefälligkeit, sondern Gerechtigkeit“!

TP-Interview mit dem Verteidiger von Günther Kleiber, Rechtsanwalt Dr. Manfred Studier

TP: Im Mittelpunkt der letzten 10-15 Verhandlungstage stand die Zeugenvernehmung des Oberstaatsanwaltes Wilhelm Schneider aus München, der die Angeklagten im Politbüroprozeß in den Jahren 1992/93 vernommen hat. Ihr Mandant Günther Kleiber wurde im Gegensatz zu anderen Angeklagten, die zunächst als Zeugen vernommen wurden, von Beginn an als Beschuldigter gehört. Ging es Ihrer Meinung nach bzw. nach Ansicht Ihres Mandanten bei der Vernehmung mit rechten Dingen zu bzw. war die Vernehmung Ihres Mandanten durch Oberstaatsanwalt Schneider korrekt?

Dr. Studier: Ja, die Vernehmung war korrekt.

Herr Kleiber hätte sich nicht anders geäußert, wenn er als Zeuge vernommen worden wäre. Er machte keinen Unterschied zwischen einer Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung und sagte alles, was er zur Sache wußte.

Der damalige Vernehmungsbeamte, den wir jetzt in unserem Verfahren als Zeugen hören, Herr Oberstaatsanwalt Schneider, hat bestätigt, daß Herr Kleiber sehr offen war und glaubwürdig. Die weiteren Ermittlungen hätten seine Angaben bestätigt.

TP: Und dennoch steht Herr Kleiber nun aufgrund dieses Staatsanwaltes, der ihm Glaubwürdigkeit bescheinigt, vor Gericht – und Sie erwarten einen Freispruch!? Worauf beruhte denn die Glaubwürdigkeit Herrn Kleibers – in sich be- oder entlastenden Aussagepunkten?

Dr. Studier: Die Einzelheiten lassen sich hier natürlich nicht so rasch darlegen. Kleibers Angaben zu seiner Rolle und den Verhältnissen in der DDR sind aber durchaus unwiderlegt geblieben. Die Anklage geht indessen spekulativ davon aus, daß ein Einschreiten Kleibers gegen die Grenzverhältnisse diese mit Sicherheit verändert hätte. Das aber wird nie mehr zu beweisen sein und ist auch keine Frage der Glaubwürdigkeit von Herrn Kleiber.

TP: Aufgrund der Vernehmung Ihres Mandanten durch Oberstaatsanwalt Schneider wurde eine Kluft Ihres Mandanten insbesondere mit Egon Krenz sichtbar. Hat Herr Kleiber die Vernehmung zum Anlaß genommen, sich endlich einmal von der Seele zu sprechen, was ihm aufgrund seiner Funktion in der ehemaligen DDR jahrzehntelang versagt geblieben ist oder ging er davon aus, daß Egon Krenz von der Vernehmung nichts erfährt?

Dr. Studier: Krenz und Kleiber sind nach meiner Einschätzung recht verschiedene Charaktere. Ich halte Krenz für einen stark ideologisch geprägten Mann, für einen Berufspolitiker, als den er sich ja auch heute in der Verhandlung noch darstellt, während Kleiber doch stets sehr pragmatisch ist und auch in seinen damaligen Funktionen, besonders also auch im Politbüro, in erster Linie technische und wirtschaftliche Fragen beantwortete. Der Beruf prägt den Menschen. Man merkt, daß Kleiber Diplom-Ingenieur ist.

Er ist auch ein freimütiger Mann. Natürlich hat er nichts hinter dem Rücken von Herrn Krenz sagen wollen, etwa in der Hoffnung, daß dieser es nicht erführe. Es war ohnehin selbstverständlich, daß jeder der heute Angeklagten die Erklärungen der anderen zur Kenntnis bekäme.

Ob zwischen beiden eine Kluft besteht, kann ich nicht beurteilen. Sicherlich haben sie aber ein persönlich distanziertes Verhältnis und auch manchmal unterschiedliche Verteidigungsstrategien.

TP: Ihre Verteidigungsstrategie unterscheidet sich wesentlich von der der Anwälte der anderen Angeklagten. Wollen Sie nicht als Querulant gelten oder pflegen Sie generell einen eher zurückhaltenden Verteidigungsstil, der Ihrem Mandanten möglicherweise eine Sympathie der Staatsanwaltschaft und des Gerichts einbringen soll?

Dr. Studier: Querulant bin ich sowieso nicht und Gott sei Dank bin ich auch nur ganz selten genötigt – gewissermaßen aus Verteidigernotwehr – gegen gerichtliche oder staatsanwaltliche Unzumutbarkeiten Verfahrensobstruktionen zu betreiben.

Im Politbüroverfahren hat es dazu noch niemals Anlaß gegeben, und ich hoffe, das wird so bleiben.

Der Vorsitzende Richter Hoch führt die Verhandlung sachlich und mit sehr konziliantem Stil.

Sympathie der Staatsanwaltschaft und des Gerichts kann nicht das erste Interesse der Verteidigung sein, sondern Respekt und Aufmerksamkeit für ihre Argumentation. Wir erwarten in diesem Prozeß keine Gefälligkeit, sondern Gerechtigkeit.

In diesem Sinne halten Kleiber selbst, mein Mitverteidiger und ich aber gar nichts von Wiederholungen von Anträgen, die wir fast alle schon im Vorverfahren gestellt haben oder von selbstdarstellerischen Statements, die sich manchmal mehr an das Publikum als an das Gericht richten.

TP: Wird durch diesen Prozeß Ihrer Meinung nach das Rückwirkungsverbot verletzt?

Dr. Studier: Die Gefahr besteht.

Die Anklage hat ja zunächst noch versucht, das Rückwirkungsverbot zu beachten. Sie wissen, daß nur Mückenberger und Hager als Täter angeklagt worden sind, während Dohlus, Krenz, Kleiber und Schabowski sich bei Anwendung des Strafgesetzbuches der DDR, zu der sich die alte Bundesrepublik im Einigungsvertrag verpflichtet hatte, der Beihilfe durch Unterlassen angeklagt worden sind.

Das hat sachlich damit zu tun, daß nur Mückenberger und Hager als sehr frühe Mitglieder des Politbüros noch an den Grenzgesetzen mitgewirkt haben, während die später Hinzugekommenen Dohlus, Krenz, Kleiber und Schabowski nach Auffassung der Anklage als Politbüromitglieder später den Schußwaffengebrauch, die Minen und die Selbstschußanlagen geduldet hätten, obwohl sie sie nach Auffassung der Anklage hätten abschaffen können.

Die Anklage hat versucht, dem sehr engen Täterbegriff im DDR-Strafrecht, der sich von unserem im bundesrepublikanischen Recht unterscheidet, Rechnung zu tragen; eine Beihilfe durch Unterlassen gab es aber auch nach DDR-Strafrecht, freilich unter zwei Bedingungen.

a) Voraussetzung für die Strafbarkeit war das Bestehen einer Erfolgsabwendungspflicht im Sinne des § 9 StGB/DDR.
Darunter verstand man die sich aus einer besonderen Position ergebende Rechtspflicht und persönliche Verantwortung für den Schutz der Gesellschaft oder des einzelnen vor Schäden und Gefahren.

b) Die zweite Voraussetzung ist aber in unserem Prozeß noch viel entscheidender: Die Untätigkeit der Angeklagten muß kausal für die Verhältnisse an der Grenze gewesen sein. Es muß eindeutig bewiesen sein, daß es Tote und Verletzte an der Grenze nicht mehr gegeben hätte, wenn die Angeklagten, jeder für sich oder im Kollektiv, dagegen eingeschritten wären.

Wenn sich das Schwurgericht auf die Beantwortung dieser Frage in diesem Prozeß beschränken würde, würde das in Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz kodifizierte Rückwirkungsverbot möglicherweise nicht verletzt sein.

Das Schwurgericht hat aber bei der Prüfung der Anklage offenbar schon selbst vorausgesehen, daß sich der Anklagevorwurf nach DDR-Recht, das es anzuwenden gilt, nicht halten lassen würde und deshalb den Vorwurf verschärft. Es hat die Anklage wegen des Verdachts der Täterschaft aller Angeklagten zugelassen. Das läßt sich aber nur mit dem Recht der Bundesrepublik begründen. Alle Klimmzüge im Eröffnungsbeschluß täuschen nicht darüber hinweg. Die Staatsanwaltschaft hält deshalb – man könnte fast sagen paradoxerweise – an der alten Auffassung ihrer Anklage fest.

Der BGH hat in seinen bisherigen Entscheidungen in sogenannten Mauerschützenprozessen – aber auch in dem Verfahren gegen Keßler, das jetzt dem Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung vorliegt – die Auffassung vertreten, daß die Anwendung der Schußwaffe, die auch westliche Grenzgesetze vorsehen, dann gerechtfertigt sei, wenn die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern sei, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt oder um Personen zu ergreifen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.

In der DDR indessen sei die tatsächliche Handhabung der – äußerlich gewissermaßen harmlos erscheinenden – Grenzgesetze Fluchtverhinderung gewesen und deshalb wegen Verletzung vorgeordneter auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und auch wegen eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip kein Rechtfertigungsgrund.

Das ist aber in der DDR anders gesehen worden. Wenn wir von dieser damaligen Rechtswirklichkeit abgehen wollen und diesen Rechtfertigungsgrund in der tatsächlichen Grenzpraxis nicht finden wollen, kollidieren wir mit dem Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes.

Die bisherigen Entscheidungen des BGH haben postuliert, daß nicht die DDR-Staatspraxis Rechtsmaßstab bleiben dürfe, sondern das Recht der DDR an den Grenzen seines Wortlautes im Lichte der Verfassung der DDR so auszulegen sei, daß den völkerrechtlichen Bedingungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen werde.

Wir kommen zur Radbruchschen Formel, die 1946 für das Unrecht im 3. Reich gefunden war und besagt, daß das positive Recht Unrecht sei, wenn der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz der Gerechtigkeit weichen müsse. Es ist die sogenannte Unerträglichkeitsformel.

Sie geht davon aus, daß der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, d.h. in unserem Falle der Gültigkeit der DDR-Gesetze und damaligen Rechtsmaßstäbe zunächst und in erster Linie dahin zu lösen sei, daß das positive durch Satzung und Macht gesicherte Recht Vorrang behält, auch wenn es inhaltlich ungerecht ist. Nur jenseits einer Unerträglichkeitsgrenze würde es „unrichtiges Recht“ und habe dann der Gerechtigkeit zu weichen.

Ob also die Grenzverhältnisse der DDR diesem „konkreten Prüfungsmaßstab“, wann Menschenrechtsverletzungen vorliegen, nicht mehr standhalten, ist die auch vom Bundesverfassungsgericht jetzt im Verfahren Keßler zu entscheidende Frage.

Der BGH hat jedenfalls in den Mauerschützenprozessen die auch von der DDR übernommenen Maßstäbe für die Verletzung von Menschenrechten aus dem internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte angewendet. Es ist zur Strafbarkeit gekommen.

TP: Es wird vielfach gefordert, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsbeschwerden von Keßler u.a. abzuwarten, bevor hier weiterverhandelt wird. Gehen wir mal hypothetisch davon aus, die Entscheidung des Verfassungsgerichts fällt negativ aus. Wäre das dann nicht präjudizierend für die Angeklagten im hier vorliegenden Verfahren, die Richter sozusagen an den Spruch des BVerfG gebunden, auch wenn sie vorher anderer Rechtsansicht gewesen sein mochten?

Dr. Studier: Auch wenn das Bundesverfassungsgericht zu der Auffassung käme, daß die Bestrafung von nach DDR-Recht straflosen Tötungen und Verletzungen an der Grenze durch bundesdeutsche Gerichte nicht gegen das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot verstoße und damit das Schwurgericht an diese Auffassung natürlich auch gebunden wäre, bedeutete das aber doch noch längst nicht für die der Unterlassung Angeklagten, daß sie auch schuldig sind. Denn es bleibt auch dann die Aufgabe des Prozesses, herauszufinden, ob die hier Angeklagten eine sogenannte Garantenstellung, also eine Rechtspflicht zum Handeln hatten, und zweitens das Grenzregime abgeschafft worden wäre, wenn sie dagegen etwas unternommen hätten.

Die Mitglieder des Schwurgerichts sind übrigens augenscheinlich nicht der Meinung gewesen, daß der Prozeß das Rückwirkungsverbot verletzt, sonst hätten sie die Anklage gar nicht erst zulassen dürfen.

TP: Die Entscheidung des BVerfG läßt auf sich warten. Ist es möglich, daß Frau Limbach und Kollegen diese Gefahr der Präjudizierung durch eine verfrühte Entscheidung voraussehen, also durch eine jetzt noch nicht erlassene Entscheidung einen – mal abgesehen davon, daß der Eröffnungsbeschluß für sich sprechen könnte – Einfluß auf dieses Verfahren vermeiden möchten?

Dr. Studier: Ich kenne die Gründe, aus denen wir jetzt schon sehr, sehr lange auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes warten, nicht. Ob dahinter taktisches Kalkül steckt oder nur eine Arbeitsüberlastung, weiß ich nicht.

Eines läßt sich aber wohl vor allem vermuten: Daß die Beantwortung der dem Bundesverfassungsgericht gestellten Fragen ungeheuer schwierig ist.

TP: Ist die Radbruchsche Formel Ihrer Meinung nach geeignet, das Rückwirkungsverbot zu ignorieren? Sollte unser Strafrecht nicht einmal vor dem Fall einer Diktatur darauf eingestellt werden, die juristische Bewältigung von staatlichem Unrecht zu gewährleisten, ohne daß die garantierten Verfassungsrechte betroffen sind bzw. die Verfassung gleich darauf eingestellt werden, ohne daß ihre Artikel – welch noblen Theorien auch immer – zum Opfer fallen?

Dr. Studier: Die Radbruchsche Formel ist der Weg, am Rückwirkungsverbot vorbeizukommen.

Verfassungsrechtlich zu versuchen, einerseits eine Rechtsgarantie dafür zu geben, daß nur nach den Maßstäben strafrechtlich zu urteilen ist, die zur Zeit der Tat galten, andererseits aber einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, daß sich gerade Diktatoren immer ungeheuer rechtspositivistisch geben und alles „Recht und Gesetz“ ist (auch die Nürnberger Judengesetze waren ja formal Gesetz). Das ist die Quadratur des Kreises.

Eine neue Diktatur würde auch als erstes eben gerade solche verfassungsrechtlichen Garantien relativieren oder abschaffen – auch wieder im Namen der Gerechtigkeit und des angeblichen Volkswillens. Welche verfassungs- oder strafrechtliche Vorsorge sollten wir für die Zeit danach treffen?

TP: Siegerjustiz – wie stehen Sie dazu?

Dr. Studier: Auch eine schwierige Frage!

Ich hoffe, daß sich das Schwurgericht auf seine Aufgabe beschränkt und das Handeln der Angeklagten an den auch für sie geltenden Maßstäben des DDR-Rechts mißt und daß Herr Krenz nicht recht behält mit seiner Erklärung, daß das Gericht verurteilen müsse und die Bestrafung sowieso schon feststünde.

Wenn das Gericht vorurteilsfrei urteilt, ist mir um Kleibers Freispruch nicht bange.

TP: Glauben Sie, daß politischer Einfluß auf das Verfahren ausgeübt wird?

Dr. Studier: Daß von allen Seiten auf ein solches Verfahren politischer Einfluß ausgeübt wird, ist zwangsläufig.
Ich hoffe, daß die Verurteilungserwartung mancher Kreise das Gericht bei seiner Entscheidung nicht beeinflußt.

TP: Ist die Anklage für Sie eine Konstruktion, wie Uwe Wesel sich ausdrückt?

Dr. Studier: Der in der Anklage geschilderte Sachverhalt enthält Lücken für das Verständnis und richtigen Beurteilung. Aber sie lassen sich in der Hauptverhandlung noch ausfüllen.

Die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes ist kompliziert durch die Anwendung des DDR-Rechts im Vergleich zum Recht der Bundesrepublik. Eine willkürliche und rechtsferne Konstruktion würde ich die Anklage aber nicht nennen. Sehr wohl freilich den Eröffnungsbeschluß.

TP: Es werden jetzt verschiedentlich Urkunden zum Selbstleseverfahren vom Gericht verteilt. Sehen Sie hierdurch das Mündlich- und Öffentlichkeitsprinzip verletzt?

Dr. Studier: Sie haben recht, die Zuhörer erfahren vom Inhalt dieser Urkunden nichts. Der Gesetzgeber hat aber im § 249 Abs. 2 StPO diesen Nachteil an Transparenz ausdrücklich wegen der erheblichen prozeßökonomischen Vorteile in Kauf genommen. Stellen Sie sich vor, wir müßten in unserer Hauptverhandlung alle Politbüroprotokolle verlesen! Ich gehe im übrigen davon aus, daß die für die Entscheidung wirklich wichtigen Urkunden in der Hauptverhandlung ohnehin mündlich erörtert werden und dadurch auch zur Kenntnis der Zuhörer gelangen.

TP: Hätten Sie auch die Verteidigung von Egon Krenz übernommen?

Dr. Studier: Ja, wenn er sich auf meine Verteidigungsvorstellungen eingelassen hätte.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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