Das Strafrecht als Instrument der Vergangenheitsaufarbeitung überschätzt.

TP-Interview mit dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag Horst Eylmann.

TP: Herr Eylmann, in der Bundesrepublik Deutschland wird die DDR-Vergangenheit bewältigt – es fanden und finden Prozesse statt gegen Grenzsoldaten, gegen Richter und Staatsanwälte, gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und kürzlich wurde sogar das Urteil gesprochen gegen Politbüro-Mitglieder wie Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber. Diese Personen behaupten z.B. unter anderem, die Bundesrepublik sei das einzige Land, wo es solche Prozesse gibt, im Ausland nicht. Gehen wir nicht zu hart mit dieser DDR-Vergangenheit in strafrechtlichem Sinne um?

Eylmann: Nein, wir gehen völlig korrekt damit um. Wir haben im Vertrag über die Deutsche Einheit festgelegt, daß Straftäter nur dann verfolgt werden können, wenn ihre Taten auch in der DDR Straftaten waren, wenn es also dort entsprechende Straftatbestände gab. Und wir haben noch zusätzlich gesagt, es muß auch heute noch nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland strafbar sein. Wir wenden also nicht etwa rückwirkend neue Gesetze an. Wenn es sich auch um politisch motivierte Straftaten handelt, ändert das nichts daran, daß es Straftaten sind. Straftaten verlieren ihre Strafwürdigkeit nicht dadurch, daß sie aus politischen Gründen begangen werden. Wenn wir das für alle geltende Strafrecht hier nicht durchsetzen würden, könnten viele andere, die wegen nicht politisch motivierter Straftaten verurteilt werden, eine Ungleichbehandlung rügen. Diesen Vorwurf sollten wir uns nicht zuziehen.

TP: Wollen wir mal dahingestellt sein lassen, ob diese Taten, die hier teilweise vorgeworfen wurden und werden und für die auch Urteile gesprochen wurden und werden, nach DDR-Recht wirklich strafbar sind. Insofern sie es nicht waren, wurde mit der sogenannten Radbruch’schen Formel argumentiert und wie mir ein Professor in Bonn sagte, ist die überwiegende Mehrheit der deutschen Rechtslehrer der Meinung, daß sich hier eine Strafbarkeit nicht begründen läßt. Ist diese Radruch’sche Formel überhaupt geeignet, hier im rechtsstaatlichen Sinne die Urteile zu begründen?

Eylmann: Das glaube ich schon. Wir haben in der NS-Zeit gelernt, daß das Gesetz, das positive Recht, sich mit grundlegenden Gerechtigkeitserfordernissen in Widerspruch setzen kann. Wenn man diese Radbruch’sche Formel entsprechend eng faßt – und sie ist bisher sehr vorsichtig angewandt worden -, dann ist das nach rechtsstaatlichen Kriterien unbedenklich. Unsere Gerichte sind bisher sehr vorsichtig vorgegangen. Insbesondere im Strafmaß waren die Entscheidungen eher sehr milde als zu scharf.

TP: Mal unabhängig davon, ob sie zu milde waren oder sind, geht es hier um die Grundsatzfrage: Hinsichtlich der Internationalen Konvention für Menschenrechte ist ausgerechnet dieser Art. 7 II, der das Rückwirkungsverbot relativiert hatte, in der Bundesrepublik Deutschland nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden. Auch später, als der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte vorbehaltlos übernommen worden ist, ist genau eins unterlassen worden, nämlich diesen Art. 15 II, der etwa gleichlautend ist mit dem Art. 7 II der Menschenrechtskonvention, im Grundgesetz zu verankern. Heute behelfen wir uns mit der sogenannten Radbruch’schen Formel. Ist das nicht Inkonsequenz?

Eylmann: Nein, wenn wir das nicht täten, dann würden wir z.B., wenn es um die Rechtsbeugung geht, genau wieder den Fehler machen, den die Gerichte in den 50iger Jahre gemacht haben, als die Richter aus Solidarität mit den Richtern in der NS-Zeit eine Rechtsbeugung selbst bei den gröbsten Verstößen gegen elementare Rechtsgrundsätze nicht bejahten. Ich halte diese Rechtsprechung für legitim. Ich verstehe eigentlich auch den Widerstand nicht so recht. Soll denn nun plötzlich alles das, was in der DDR geschehen ist, nicht mehr strafbar sein? Hat man eigentlich vergessen, wie sehr die Menschen in der DDR unter diesem Regime gelitten haben? Sollen plötzlich die Schüsse an der Mauer nicht mehr kriminelles Unrecht sein?

TP: Die Kritik richtet sich insbesondere gegen den Umstand, wie man formell damit umgeht. Wir haben ein Rückwirkungsverbot in der Verfassung, im Grundgesetz. Wir hätten es schon längst analog der Europäischen Menschenrechtskonvention relativieren können, aber statt dessen lassen wir es – nach wie vor – bleiben und behelfen uns mit dieser Radbruch’schen Formel, die nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Strafrechtslehrer ungeeignet ist, die Urteile zu begründen.

Eylmann: Daß das die überwiegende Meinung der Strafrechtlicher ist, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls sind die Gerichte bis zum BGH davon ausgegangen, daß die Anwendung dieser Formel korrekt ist und nicht mit der Verfassung und mit dem Rückwirkungsverbot im Widerspruch steht.

TP: Friedrich Schorlemmer fordert eine Generalamnestie zum 09. Oktober 1999. Ist seine Forderung unter dem Aspekt, daß nach 10 Jahren generell mal Schluß sein muß mit der strafrechtlichen Aufarbeitung, berechtigt?

Eylmann: Diese Forderung, es müsse generell Schluß sein mit der Auseinandersetzung um die DDR-Vergangenheit, kann ich nicht unterschreiben.

TP: Im strafrechtlichen Sinne selbstverständlich.

Eylmann: Richtig ist, daß man die Möglichkeiten des Strafrechts als Instrument für die Aufarbeitung der Vergangenheit überschätzt hat. Deshalb habe ich schon 1995 eine Amnestie gefordert für die kleinere und mittlere Kriminalität. Diese Amnestie wäre auch deshalb angebracht gewesen, weil wir nach den Zahlen feststellen können, daß es nur in wenigen Fällen zu einer Verurteilung gekommen ist. Zur Anklageerhebung hat es vielleicht in zwei Prozent der Ermittlungsverfahren gereicht, zur Verurteilung in allenfalls einem Prozent; man kann also sagen, der juristische Berg hat gekreißt und ein Mäuslein geboren. Ich sehe keinen Sinn darin, diese Verfahren fortzuführen, zumal auch die ausgeworfenen Strafen wegen der langen Zeitdauer zwischen und Tat und Verurteilung außerordentlich milde sind und die Opfer ohnehin nicht zufriedenstellen. Hier wäre also eine Amnestie am Platze gewesen, spätestens wäre sie jetzt notwendig. Aber die Entwicklung ist ja eher gegenläufig; man will diese Verjährungsfrist ein weiteres Mal verlängern. Inzwischen lohnt allerdings auch der ganze Streit nicht mehr, denn im Jahre 2000, im Oktober 2000 tritt ohnehin die absolute Verjährung ein. Danach wird es nicht mehr zu Verurteilungen kommen, dann ist also endgültig Schluß. Ausgenommen Kapitalverbrechen, also z.B. Verbrechen gegen das Leben. Hier droht keine Verjährung. Für diese Taten möchte ich auch keine Amnestie. Ich rede nur von der kleineren und mittleren Kriminalität mit Strafandrohungen bis zu 5 Jahren.

TP: Die Strafzwecke erreicht man mit diesen Verurteilungen, z.B. bei Funktionären, aber auch bei Grenzsoldaten, nicht. Und um Opfergenugtuung zu erreichen, sind die Strafmaße vielen Leuten einfach zu milde. Also was will man eigentlich mit diesen Urteilen?

Eylmann: Wer an der Grenze Menschen erschossen hat, den will ich schon verurteilen, damit in Zukunft jeder weiß, daß das rechtswidrig und strafbar ist.

TP: Und es wird z.B. mit einem Jahr – ausgesetzt zur Bewährung – geahndet – wem wollen sie das klarmachen?

Eylmann: Ich will damit jedem klarmachen, daß hier kriminelles Unrecht vorliegt, mag auch viel dafür sprechen, daß eine milde Strafe angebracht ist. Wir haben auch sonst bei Tötungsdelikten bei Vorliegen besonderer Umstände milde Strafen. Aber es muß klar sein: Nicht jeder staatliche Befehl rechtfertigt die Tötung eines Menschen, und es muß auch klar sein, daß politische Motive nicht ausschließen, daß die Tötung eines Menschen eine kriminelle Handlung ist.

TP: Wie wollen Sie beispielsweise künftig so etwas verhindern mit solchen milden Strafen, wobei ich meine Frage nicht dahingehend
verstanden wissen möchte, daß ich für harte Strafen plädiere?

Eylmann: Indem ich der Öffentlichkeit klarmache, wie ich eben gesagt habe, das hier kriminelles Unrecht vorliegt.

TP: Das reicht also aus, künftig so etwas zu verhindern?

Eylmann: Nein, natürlich nicht. Mit welchem Recht will ich denn eigentlich in Zukunft einen Totschläger, einen jungen Menschen, der einen anderen Menschen ohne politischen Hintergrund getötet hat, noch verurteilen – wenn ich die Mauerschützen und diejenigen, die dahinter standen, die die Befehle gegeben haben, von Strafe freistelle? Mit welcher Begründung?

TP: Im Politbüroprozeß, insbesondere dort, aber auch im Prozeß gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates wurde häufig argumentiert, man habe bewußt zunächst die Kleinen angeklagt und verurteilt, um dann besser begründen zu können, eine Handhabe dafür zu haben, daß man die Großen ja eigentlich nicht laufen lassen kann.

Eylmann: Nein, es ist häufig so, daß man diejenigen, die unmittelbar die Tat ausgeführt haben, die also näher an der Tat dran waren, schneller anklagen und auch aburteilen kann, weil der Sachverhalt klar ist. Bei den mittelbaren Tätern, die im Hintergrund geblieben sind, bei den Schreibtischtätern, ist die Aufklärung des Sachverhalts wesentlich schwieriger und deshalb dauert es in aller Regel länger. Das war auch bei den Straftaten in der NS-Zeit so. Insofern scheint mir die Behauptung abwegig zu sein, man habe die Grenzsoldaten deswegen eher angeklagt, um nachher ein Argument zu haben, auch Krenz und Konsorten verurteilen zu können.

TP: Ich gehe mal auf die beiden milderen Strafen im Politbüroprozeß ein: Schabowski 3 Jahre, Kleiber 3 Jahre. Ist es eigentlich noch verhältnismäßig, diese Strafen, wenn sie denn so bestätigt werden von den obersten Gerichten, nach 10 Jahren nach der Wiedervereinigung noch zu vollstrecken?

Eylmann: Doch, das meine ich schon, zumal die Strafen ja niedrig genug sind. Im übrigen halte ich es nur dann für seriös, jetzt einzelne Strafen, die vom Gericht gesprochen worden sind, auf ihre Berechtigung zu überprüfen, wenn man selbst über den gleichen Erkenntnisstand verfügt wie das Gericht. Das ist bei mir nicht der Fall, und deshalb halte ich mich generell mit der Bewertung von Urteilen sehr zurück.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: gutzitiert.de

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