„Der Rechtsstaat braucht Zeit“.

TP-Interview mit dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis.

TP: Herr Bubis, nach Ansicht von DDR-Funktionären hat die Justiz nicht das Recht die derzeitigen Prozesse gegen sie zu führen, vor allem deswegen nicht, weil die Justiz hinsichtlich der Verbrechen des Nationalsozialismus nicht streng genug durchgegriffen hat. Kann man das unterstreichen?

Bubis: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Nach 1945 lag das Justizwesen in den Händen der Alliierten. Und die prominenten Täter, so will ich sie mal nennen, und handelnden Figuren, wurden von den Alliierten vor Gericht gestellt. Und ob jetzt adäquat oder nicht adäquat, so sind sie aber doch zur Rechenschaft gezogen worden. Allerdings haben die westlichen Alliierten mit Beginn des Kalten Krieges ihre Einstellung auch verändert. Für die deutsche Justiz gab es danach nur eine eingeschränkte Möglichkeit: Wer vor den Alliierten Gerichten gestanden hat, konnte nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. Teilweise hat es auch Prozesse gegeben – da kann man jetzt auch darüber streiten, ob die Urteile adäquat waren oder nicht. Bedauerlich ist es auf jeden Fall, daß die Juristen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu keinem Zeitpunkt angeklagt wurden.

TP: Sie meinen jetzt zum Beispiel die Richter des Volksgerichtshofes?

Bubis: Zum Beispiel, aber nicht nur diese; daß es gegen sie keine Prozesse gegeben hat, ist bedauerlich.

TP: Hätte die bundesdeutsche Justiz die Möglichkeit gehabt, sie zur Rechenschaft zu ziehen?

Bubis: Ja, sicher, hätte sie damals die Möglichkeit dazu gehabt. Die Bundesrepublik hat sich als Nachfolgestaat des Dritten Reiches gesehen. Und dort, wo die Urteile des Volksgerichtshofes bereits gegen das damalige Recht, aber auch gegen Menschenrechte verstoßen haben, wäre die Möglichkeit einer Verurteilung sehr wohl gegeben gewesen. Das hat die Rechtsprechung in der Bundesrepublik jedoch nicht genutzt. Nur will ich jetzt die damaligen Fehler der heutigen Situation nicht entgegenstellen. Aus Schaden darf man ja klug werden.

TP: „Aus Schaden klüger werden“ hieße dann wohl soviel, der Umstand oder das Übel, daß man gewisse Naziverbrechen damals nicht angeklagt hat, wäre demnach kein Grund dafür, die heutigen – die kommunistische Vergangenheit betreffenden – Taten ebenfalls ungesühnt zu lassen?

Bubis: Ja.

TP: Dann stelle ich meine Frage noch etwas konkreter: Stehen die angeklagten Funktionsträger der ehemaligen DDR oder auch die Grenzsoldaten zu Recht vor Gericht?

Bubis: Soweit sie auf Flüchtlinge geschossen haben oder sonstiges Unrecht begangen haben, „ja“. Und ich bedauere, daß damals nicht auch noch mehr Täter vor Gericht gestellt wurden.

TP: Nun hat man ja, z.B. hinsichtlich der Anklage gegen die Politbüromitglieder, etliche Jahre gebraucht. Sehen Sie hierin eine mutwillige Verschleppung?

Bubis: Der Rechtsstaat braucht Zeit.

TP: Geht das mit den Urteilen Ihrer Meinung nach auch in Ordnung: 6 1/2 Jahre für Egon Krenz, jeweils 3 Jahre für Günther Kleiber und Günter Schabowski?

Bubis: Dazu kann ich mich nicht äußern. Ich kenne die Aktenlage und die Einzelheiten nicht. Ich stehe nur auf dem Standpunkt, daß es ungerecht wäre, den kleinen Polizisten, der an der Mauer geschossen hat, zu verurteilen, und gegen den, der den Schießbefehl gegeben hat, keinen Prozeß zu führen.

TP: Nun behaupten ja gerade die sogenannten Großen, man habe bewußt die Kleinen zuerst gehängt, um dann das Argument zu haben, jetzt könne man die Großen erst recht nicht laufen lassen.

Bubis: Bei den Kleinen konnte man die Beweisführung wahrscheinlich viel leichter und viel schneller erbringen. Aber ich weiß das nicht, es ist nur eine Einschätzung von mir. Zu dem Strafmaß selbst kann ich mich nicht äußern. Aber ich habe Vertrauen in die Rechtsprechung der Bundesrepublik. Und wir haben nun einmal einen Mehrfachrechtsweg, mit Berufungs- und Revisionsmöglichkeit. Und wenn jemand in der Bundesrepublik über mehrere Instanzen am Ende verurteilt wird, dann bringe ich soviel Vertrauen dem Rechtsstaat entgegen, daß ich das auch akzeptiere, sonst könnte ich in diesem Staat gar nicht leben.

TP: Von verschiedener Seite wird jetzt schon eine Amnestie angesprochen.

Bubis: Ich bin grundsätzlich gegen Amnestie. Erst recht nicht für diejenigen, die die Unrechtsgesetze in der DDR geschaffen haben. Und genauso habe ich kein Verständnis für früher gehabt. Ich war auch gegen jede Amnestie für Nazi-Verbrecher.

TP: Hier ist ja ein derartiger Standpunkt durchaus vertretbar, daß man sagen kann: bei Nazi-Verbrechen ist eine Amnestie fehl am Platze.

Bubis: An der Grenze zu schießen ist nicht viel anders. Und wir wissen ja heute, wieviele Menschen auch sonst in der DDR durch eine Unrechtsjustiz ihr Leben verloren haben.

TP: War es eigentlich richtig, im Sinne der Entspannung, so hieß es jedenfalls, Honecker 1987 nach Bonn einzuladen?

Bubis: Das ist eine andere Geschichte. Das war eine politische Entscheidung im Interesse der Entspannungspolitik. Ohne diese Entspannungspolitik hätte es die deutsche Einheit gar nicht gegeben. Darüber kann man auch streiten. Es gab ja welche, die gesagt haben: keine Notiz nehmen. Man hat ja auch mit anderen Diktatoren verhandelt. Und hier könnte man genauso gut sagen: Die westliche Welt hat mit Hitler verhandelt, Hitler eingeladen.

TP: Also hindert es nicht, wenn strafbare Handlungen vorgeworfen werden, sie auch entsprechend zu verhandeln?

Bubis: So ist es.

TP: Es wird nun auch gesagt, die DDR war abhängig von der Sowjetunion und hatte zu tun, was von dort vorgegeben wurde.

Bubis: Natürlich waren sie abhängig von den Russen, aber es hat sie keiner gezwungen, sich in diese Abhängigkeit zu begeben.

TP: Die Russen standen also nicht mit dem Knüppel hinter ihnen und befahlen: Ihr müßt jetzt tun, was wir wollen?

Bubis: In der DDR haben sie sich auch untereinander bekriegt und nach Ämtern gestrebt. Sie sind nicht eingesetzt worden par ordre du mufti.

TP: Und demzufolge haben sie sich auch zu verantworten!?

Bubis: So ist es.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: Wolf Stegemann, Dorsten

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