Eine Gruppe von Dunkelmännern und die „Hilfskrücke Radbruch“.

TP-Interview mit dem Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Wolfgang Wieland.

TP: Herr Wieland, zunächst gefragt: Sind die Urteile gegen Grenzsoldaten der ehemaligen DDR, gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, hier insbesondere jüngst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1996, noch vereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen?

Wieland: Man kann sicherlich nicht sagen, daß diese Urteile außerhalb des Rechtsstaates gesprochen werden. Sprüche, wie sie von Teilen der PDS kommen, daß hier Siegerjustiz ausgeübt würde, haben ja selbst innerhalb der PDS-Fraktion im Bundestag zu einer lebhaften Kontroverse geführt; insbesondere Manfred Müller (der Westberliner Manfred Müller) hat sich dafür eingesetzt, daß hier differenzierter argumentiert wird. Für mich ist bedenklich an diesen Urteilen, daß es so viele Fragen, daß es so wenig Zufriedenheit auf allen Seiten gibt. Es besteht die grundsätzliche Schwierigkeit, daß das Strafrechtssystem als in der Regel nur nationalstaatliches Rechtssystem in dem Moment in Schwierigkeiten kommt, wo es um die Aburteilung von Straftaten geht, die entweder von einem untergegangenen oder einem fremden Staat begangen wurden. Unser Strafrecht ist immer noch im Grunde ein Individualstrafrecht, das sehr wenig greift und große Schwierigkeiten hervorruft, wenn dieser Rahmen gesprengt wird, wenn Straftaten kollektiv auf staatlichen Befehl begangen werden.

TP: Nun sind ja die erwähnten Urteile überwiegend mit der sog. Radbruch’schen Formel begründet worden, was so viel heißt, daß positives Recht der DDR zugrunde gelegt wurde, konkret: die vorgeworfenen Taten durch DDR-Recht gedeckt waren. Sind daher die Urteile nicht ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot unserer Verfassung?

Wieland: Nein, das ist nicht meine Kritik. Die Radbruch’sche Formel ist von meiner Generation immer verteidigt worden, wenn es um die NS-Taten ging. Wir hatten darunter gelitten, das muß man ganz buchstäblich nehmen. Wir haben als Jurastudenten darunter gelitten, wenn sie nicht angewendet wurde. Wenn beispielsweise der beisitzende Richter am Volksgerichtshof Herr Rehse, der Beisitzer von Freisler, freigesprochen wurde und letztlich nie, wie alle Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof, bestandskräftig verurteilt wurde, weil man ihm eben zugute gehalten hat, daß er die Rechtsnormen des damaligen Staates angewendet hat. Wobei ich deutlich sage, daß ich die DDR niemals mit dem NS-Regime gleichsetze. Aber ich vergleiche einzelne Aspekte, und der einzelne Aspekt war eben hier auch, daß Rehse strikt darauf bestand, er habe als Richter doch nur die NS-Gesetze angewendet. Auf die Frage des damaligen Vorsitzenden Richters an den Brillenträger Rehse: Wenn es ein Gesetz gegeben hätte, wonach alle Brillenträger zu erschießen wären, hätten Sie es dann angewendet?, sagte Brillenträger Rehse: Selbstverständlich!, und wurde daraufhin freigesprochen, weil er ja Rechtsanwender und nicht Rechtsbeuger war, gerade eben Rechtsanwender.
Das hat uns seinerzeit schier in die Verzweiflung getrieben. Und deswegen ist die Radbruch’sche Formel nicht in Frage zu stellen. Es ist eine Hilfskrücke – ohne jede Frage, die aber im Ausnahmefall angewendet werden kann. Das Rückwirkungsverbot wird damit ausgehebelt, und das war eben auch bei Radbruch immer streitig, so daß es ein extremer Ausnahmefall sein muß, wo die angewendeten Gesetze so erkennbar und so eklatant zu allgemeinen Menschenrechtsgrundsätzen im Widerspruch stehen, daß jeder – ohne großartig darüber nachzudenken oder sich darüber beraten zu lassen – erkennen muß, daß das, was er nach diesen Gesetzen tun soll, nicht vereinbar ist mit den allgemeinen Grundsätzen der Menschlichkeit. Und da meine ich, das muß man bei Mauerschützen sagen, das war so einmalig, und das mußte im Grunde jeder tatsächlich erkennen. Nicht, daß die Festnahme an der Grenze besonders verwerflich war – das war allgemein üblich. Aber daß die Prioritätensetzung „Besser ihr erledigt den Mann, als daß ihr ihn fliehen läßt“ nicht in Ordnung war, haben nach meiner Überzeugung auch die Grenzsoldaten gewußt und erkennen können. Das ganze Vertuschen hinterher, daß man den Verwandten gegenüber verschleiert hat, daß es sich hier um Maueropfer handelt, daß man sie teils anonym in Krankenhäuser eingeliefert hat, verscharrt hat, daß also die ganze Praxis auf Vertuschung angelegt war, ist ein Indiz dafür, daß dieses ganze Grenzregiment eben auch immer wußte, daß man eigentlich etwas Verbotenes tut, daß man auch etwas tut, womit man nach außen nicht renommiert. Nach innen wurde belobigt. Wer erschoß, wurde nach innen belobigt, aber er kam natürlich nicht auf Seite 1 des Neuen Deutschland als der Held, der wieder einen Bürger erschossen und dadurch am Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik oder am Grenzdurchbruch gehindert hat. Nein, man hat sich hier mehr wie eine Gruppe von Dunkelmännern verhalten, die etwas zu verschleiern hatten. Man lese die Protokolle, auch das, was im Prozeß um den Nationalen Verteidigungsrat dort auf den Tisch gelegt wurde. Die Formulierung: Es wird rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch gemacht! ist eine Formulierung, die bei mir sofort, das sage ich auch ganz frank und frei, die Assoziation an Göhring nach der Machtergreifung freisetzt, der dort die Parole: Von jetzt ab macht die Polizei von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch! ausgab. Auch da mußte klar sein, daß es hier nicht um normales polizeiliches Vorgehen geht, orientiert am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sowas hat es ansonsten in der DDR-Gesetzgebung, wenn auch unentwickelt, durchaus gegeben. Also keinen Schußwaffengebrauch gegen Frauen zum Beispiel steht in den Gesetzen drin. Auch nicht gegen Menschen, bei denen man erkennt, daß es Kinder sind, d.h. der rücksichtslose Gebrauch der Schußwaffe entsprach nicht der Gesetzeslage, aber in Bezug auf das Grenzregime wurde er gefordert und wurde er auch praktiziert, so daß ich wirklich nicht sage, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung – die Untergerichte haben es vorher schon in großem Stile getan – zu Unrecht die Radbruch’sche Formel angewendet. Meine Frage ist viel grundsätzlicher: war es überhaupt richtig, mit dem Mittel des Strafrechts an diese Vergangenheit heranzugehen. Wenn man es tut, dann muß man wohl die „Brücke Radbruch“ nehmen und muß man wohl zu den Ergebnissen kommen, zu denen jetzt letztlich das Bundesverfassungsgericht gekommen ist.

TP: Radbruch bräuchte man heutzutage m.E. nicht, wenn man 1952, als man die Europäische Menschenrechtskonvention in innerstaatliches Recht umgesetzt hatte, den Artikel 7 Absatz 2, der das Rückwirkungsverbot ja relativiert, nicht außen vor gelassen hätte. Das hat man in der Bundesrepublik selbst bis heute nicht für nötig erachtet. Daher meine Frage in bezug auf diese Unterlassung und auf die Anwendung der Radbruch’schen Formel noch einmal: Wird hier überhaupt nach rechtsstaatlichen Kriterien bei der DDR-Vergangenheit mit der Anwendung der Radbruch’schen Formel gehandelt?

Wieland: Ich widerspreche Ihnen nicht, daß es bei einer besseren Vorsorge im zwischenstaatlichen Bereich, im internationalen Bereich heute nicht nötig wäre, auf die „Hilfskrücke Radbruch“ zurückzugreifen. Aber wir haben eben leider keinen Internationalen Gerichtshof für derartige Fälle. Wir bauen sozusagen von Fall zu Fall, im Moment im Beispiel Ex-Jugoslawien, so etwas auf und machen es wieder zu, wenn wir der Ansicht sind, das war’s gewesen. Das ist nach Nürnberg so geschehen, nach den alliierten Kriegsverbrechertribunalen, das wird nach Jugoslawien wieder der Fall sein. Natürlich fehlt, angesiedelt auf Ebene der Vereinten Nationen, ein solcher internationaler Gerichtshof als ständige Einrichtung. Seine Normen, auch seine Rechtsprechung müßten anerkannten, von den zivilisierten Völkern jedenfalls anerkannten Charakter haben. Wir hätten es dann in der Beurteilung auch aktuell vieler Staaten erheblich einfacher, Beispiel Iran, Beispiel Indonesien, Beispiel China. Es könnte nicht immer gesagt werden: „Mischt euch nicht in unsere inneren Angelegenheiten!“, es könnte nicht immer gesagt werden, „Was in einem islamischen Staat geschieht, ist etwas völlig anderes, vergeßt eure Maßstäbe“ oder „Was in einem kommunistischen Staat geschieht, ist mit bürgerlichen, mit kleinbürgerlichen, mit sonstigen Maßstäben nicht zu messen, bleibt bei euren Leisten“.
Eigentlich ist das große Versäumnis, daß man nach Besiegen des Nazifaschismus, nachdem man Nürnberg durchgeführt hatte, eigentlich auch mit recht gutem Erfolg mitgetragen von allen vier Alliierten, also auch von den Sowjets, dann infolge des Kalten Krieges, infolge der einsetzenden Blockkonfrontation sich nicht mehr in der Lage gesehen hat, einen solchen Gerichtshof mit allgemeinverbindlichen Urteilen und Sprüchen, mit einem allgemeinverbindlichen Verfahrenskodex einzurichten und natürlich auch mit Übereinkünften über Menschenrechte, die dem zugrunde gelegt werden. Das konnte sich im Kalten Krieg nicht weiter entwickeln. Nach Ende des Kalten Krieges, meine ich, müßte dies viel stärker als Aufgabe gesehen werden. Es müßte viel stärker betrieben werden, statt nun wieder wie wild aufzurüsten und statt zu glauben, man könne nun mit Militär überall Situationen befrieden. Mal überlegen, ob nicht auch das Recht ein solches Befriedungsinstrument sein kann. Wenn es denn da ist und wenn es dann eingesetzt werden kann, und, wie gesagt, hier ist noch eine Herkulesarbeit zu leisten, dann wird man möglicherweise lächelnd auf solche Versuche zurückblicken, wie sie im Moment in der Bundesrepublik mit Straftaten, die in der DDR begangen wurden, geschehen.

TP: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts werden in der ehemaligen DDR Stimmen laut, die besagen, die Verfassung gilt für die Westdeutschen uneingeschränkt, für die Ostdeutschen nur noch eingeschränkt. Ist es abwegig zu sagen, diese Äußerungen sind nicht nur aus der Luft gegriffen?

Wieland: Mach‘ ich mir nicht zu eigen. Mir wäre es viel lieber gewesen, wenn wir das Strafrecht nicht angewendet hätten. Seinerzeit hatten wir auch im Rahmen von Anwaltsorganisationen in diese Richtung gedacht und auch argumentiert. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich bereits im Jahre 1990 im Haus der Kirche (in Berlin, Anm. d. Verf.) mit Friedrich Wolf (Honecker-Verteidiger, Anm. d. Verf.) und Uwe Wesel (Rechtsprofessor an der FU Berlin, Anm. d. Verf.) über diese Frage: „Soll man überhaupt Strafrecht anwenden? Soll man überhaupt ahnden, was in der DDR war?“ diskutiert habe. Unsere Vorstellung war damals noch, zu sagen – und ich habe das damals ganz apodiktisch vertreten: Strafrecht nein, Berufsrecht ja, Aktion „Eiserner Besen“ ja. Die wurde damals von Thomas Krüger, der im Magistrat von Berlin für Inneres zuständig war, vertreten. Er führte sozusagen die erste Säuberungswelle im Öffentlichen Dienst der DDR durch. Ich sagte: Das ist nötig. Man kann den Leuten, wenn sie in eine Behörde gehen, nicht zumuten, von den gleichen Vopo-Stasi-Leuten angeschnauzt zu werden, bedient zu werden, denen sie 40 Jahre lang ausgesetzt waren. Aber wir waren eigentlich alle, die wir dort saßen, sehr strafrechtskritisch vor dem Hintergrund, daß natürlich das Strafrecht und insbesondere der Strafvollzug dann, der darauf folgt, der Resozialisierung dienen soll, der Wiedereingliederung des Einzelnen in die Gesellschaft.

TP: Auch der Funktionsträger?

Wieland: Ich will jetzt gerade unterscheiden: Bei dem einfachen Mauerschützen ist das ja viel schwieriger. Der war zum Teil seit 20 Jahren ‚raus aus der NVA: Der ist, wenn man ihn heute vor Gericht sieht, der deutsche Untertan par excellence. Er bekommt dann in der Regel seine Freiheitsstrafe mit Bewährung. Und da stell‘ ich mir die Frage: Muß das eigentlich sein? Es bindet 1. Ressourcen, es kostet auch Geld – man wird in diesen Tagen auch mal über Geld reden dürfen; der einfache Mauerschütze war davor völlig integriert, er ist danach völlig integriert. Nun ist es kein Terrorurteil, wenn er Freiheitsstrafe mit Bewährung bekommt; also um da mal ein Gegengewicht zu nehmen: Der gute Dieter Kunzelmann bekommt für den Wurf eines Frischeies an die Windschutzscheibe des Wagens von Diepgen zur gleichen Zeit Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Der Mauerschütze hat einen Menschen getötet. Das zeigt aber auch schon gleich, also nicht nur die Maßlosigkeit des Kunzelmann-Urteils, sondern zeigt auch schon gleich ein bißchen, daß die Justiz, die Strafkammern selber nicht so recht überzeugt sind: Sollen sie da eigentlich noch mal reinhauen? Sie tun es nicht, man rettet sich in die Formel, die hier gerne von der Berliner Justizsenatorin gesagt wird und die auch von Jutta Limbach gesagt wurde, als sie noch Justizsenatorin war: Diese Strafverfahren sind nötig, um klarzumachen, daß das verboten war, daß ein Staat seine Bürger an der Grenze nicht erschießen darf. Sozusagen aus diesen der historischen Wahrheit oder der historischen Aufarbeitung verpflichteten Gründen müssen wir diese Urteile aussprechen. Für diesen Effekt, für diese Logik hätte es gelangt, sich an die Funktionsträger zu halten, an die, die den Apparat installiert haben. Möglicherweise auch an die – so weit hat man ja noch gar nicht gedacht -, die entsprechende Gesetze in der Volkskammer verabschiedet haben. Im Moment ist man bei der exekutiven Ebene, was die Mauer angeht. Man ist bei der Ebene der Richter, bei der Rechtsbeugung. Zur sogenannten parlamentarischen Ebene ist man noch nicht gekommen. Möglicherweise erleben wir auch das noch.

TP: Nun ist es ja auch so gewesen, daß man sich in der alten Bundesrepublik vorher hätte überlegen können, wie man mit dem Unrecht in der DDR umgeht. Statt dessen ist man hingegangen und hat Honecker seinen Lebenswunsch erfüllt, daß er noch zu Amtszeiten als Staatsoberhaupt in die Bundesrepublik einreisen durfte. Ist es nicht irgendwo unglaubwürdig, wenn man ein Staatsoberhaupt mit allen militärischen und sonstigen Ehren empfängt und nachdem dessen Staat zusammengebrochen ist, ihn auf einmal vor Gericht stellt? Hat man das möglicherweise nicht mehr aus Renommee-Gründen getan denn für das Ziel, mehr Freiheit für die Ostdeutschen zu erreichen?

Wieland: Das ist leider eine ganz schwierige Frage. Solange die DDR existierte, war es einfach im Interesse der Menschen notwendig, korrekte Beziehungen von Staat zu Staat zu unterhalten. Es ist auf humanitärer Ebene ja auch etwas dabei herausgesprungen. Man hat dabei allerdings des Guten oft zu viel getan. Das muß man ganz deutlich sagen. Der Staatsbesuch von Honecker in Bonn war besonders herzlich, und wer nicht mit eingeladen war auf westlicher Seite, fühlte sich brüskiert, bei diesem großen Ereignis nicht dabei zu sein. Aber ich bitte noch mal zu bedenken, wie damals nun gerade auch die triumphiert und gesagt haben: „Ihr CDU, die ihr immer vom Phänomen DDR geredet habt“, so Kiesinger, „und diese ewigen Anführungsstriche und ’sog. DDR‘ gebraucht habt, jetzt habt auch ihr endlich die Realitäten anerkennen müssen.“

Und da war auch ein richtiger Kern drin. Diese Realitätsleugnung, die DDR gibt’s gar nicht, hatte auf westlicher Seite zum Teil etwas Friedensgefährdendes und hatte auch eine aggressive Note. Das soll man ja nicht vergessen. Es war dann die Entspannungspolitik Willi Brandts, die tatsächlich zur Friedenswahrung in Mitteleuropa beigetragen hat. Mein schlechter Beigeschmack liegt nur tatsächlich in der Herzlichkeit und daß man nicht bei gleicher Gelegenheit ganz deutlich auch auf diese Menschenrechtsverletzungen in der DDR eingegangen ist. Das gleiche gilt in die andere Reiserichtung. Viele, auch bei der Sozialdemokratie, müssen sich vorwerfen lassen, wenn sie in die DDR gereist sind, wenn sie nach Ostberlin gereist sind, daß sie den Weg in den Palast und in die Regierungsgebäude gefunden haben, aber nicht den Weg zur Bürgerbewegung, nicht den Weg in die Kirchengemeinden, nicht den Weg zu den Oppositionellen. Da gibt es nur wenige positive Ausnahmen. Alle Parteien – auch Grüne – müssen hier sehr, sehr selbstkritisch sein und dürfen nicht selbstgefällig in dieser Frage sein. Auch wir haben in der Regel zu wenig die Opposition seinerzeit unterstützt in der DDR.

TP: Gäbe es für Sie irgendwo Alternativen zu diesen Prozessen, die heute geführt werden?

Wieland: Wir sind inzwischen im Jahre 1997. Die Prozeßlawine läuft. Die ist jetzt nicht zu stoppen. Das wäre 1990 möglich gewesen, wenn der Vereinigungsprozeß anders gelaufen wäre. Da haben wir auch darüber diskutiert.
Sie haben vorhin gefragt, ob sich sozusagen der DDR-Bürger nicht verarscht vorkommen muß oder der Funktionsträger selber, daß die gleichen, die ihnen ein Jahr zuvor noch Honig um den Mund schmierten, ihnen nunmehr die Polizei und die Staatsanwaltschaft ins Haus schicken. Das ging ja noch in den Einigungsprozeß hinein. Schäuble hat ja im Grunde die Ostseite durch ein An-die-Wand-malen einer Amnestielösung dazu gebracht, den Einigungsvertrag zu unterschreiben. Das war sozusagen ein, wenn auch nicht vertraglich fixiertes, aber doch an die Wand gemaltes „So was wird kommen“. Dann wurde es ja auch versucht mit den Spionen und scheiterte zunächst, weil es auch isoliert eine sehr merkwürdige Vorstellung war. Aber es wurde sowohl die Möglichkeit einer Amnestie an die Wand gemalt als auch die Festlegung vorgenommen auf die Verurteilung nur nach DDR-Strafrecht im Einigungsvertrag. Beides schien der Ostseite eine Garantie dafür zu sein, es wird uns da nichts Schlimmes passieren auf strafrechtlichem Gebiet. Und dann hat dagegen die Bevölkerung ziemlich rebelliert und hat gesagt: So geht es ja nun auch nicht, daß ihr euch einfach in die Westparteien reinrettet, daß ihr zum Teil Jobs in Versicherungskonzernen bekommt, in Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen, sozusagen, daß das Fett wieder oben schwimmt und dann noch nicht mal Strafrecht angewendet wird. Dieser Ruf auch nach Rache und dieses „Jetzt wollen wir euch aber auch vor den Schranken des Gerichts sehen“ ist für mich auch eine Folge der Ungerechtigkeiten, die der Einigungsprozeß mit sich brachte – ich erwähne nur die Symbolfigur Schalck-Golodkowski am Tegernsee. Das war so eine Erfahrung: Der alte Bonze Ost mit dem alten Bonzen West immer noch vertraut. Es gab aber auch andere Vorbilder, das Schlucken der Blockparteien, damals ja noch gedacht samt Vermögen, samt Parteizentralen hier in Berlin und in anderen Städten. Und die haben dazu geführt, daß für einen solchen Gedanken einer Amnestie kein Platz mehr war. Wenn man es geschafft hätte, daß die alten Eliten ihre politische Verantwortung bekennen, daß sie auch wirklich ihre Schuld zugestehen, daß sie Reue zeigen, daß sie sagen: „Wir sehen ein, daß wir uns jetzt selber entfernen müssen aus verantwortlichen Positionen, wir haben so viele Verbrechen begangen, wir haben so viel unsägliches gemacht, jetzt verordnen wir uns selber eine gewisse Karenzzeit“, dann wäre es möglicherweise anders gelaufen. So wurde vertuscht, so wurden Akten vernichtet, was ja auch sehr wichtig ist zu erwähnen; die ganze Stasiaktenvernichtung hat natürlich auch bei der Bevölkerung diese Stimmung „Die machen sich jetzt aus dem Staub und jetzt soll hier gar nichts mehr aufgearbeitet werden von der Vergangenheit, jetzt sind wir wieder die Dummen“ breit werden lassen, so daß man sehr schnell nicht mehr mit den Menschen in den neuen Bundesländern über eine solche Möglichkeit des Verzichts auf das Strafrecht sprechen konnte. Und das wäre dann tatsächlich nur noch durch ein Amnestiegesetz des Bundes gegangen. Und ein solches Amnestiegesetz des Bundes hätte im Grunde Konsens in der Bevölkerung in Ost und in West – entscheidend in Ost – vorausgesetzt. Und dieser Konsens ist sehr schnell erkennbar nicht mehr dagewesen.

TP: 1989 ist dann alles sehr schnell gegangen: Die Mauer fiel und 1990 kam die Wiedervereinigung. Egon Krenz nimmt heute für sich in Anspruch, die Mauer geöffnet zu haben. Halten Sie das für eine ehrliche Haltung oder ist es auch so zu verstehen, daß er sie nur geöffnet hat, weil er keine Rückendeckung mehr von seiten der damaligen UdSSR gesehen hat?

Wieland: Ich denke, beides ist richtig. Egon Krenz kann sich wirklich nicht als deutscher Gorbatschow hinstellen. Die Situation war die: Ungarn hatte die Hintertür aufgemacht und schließlich die damalige CSSR mit den Botschaftsflüchtlingen auch. Gorbatschow hatte das akzeptiert. Und es macht keinen Sinn mehr, die Vordertür verrammelt zu halten, wenn die Hintertür auf ist. Das heißt, die Mauer hatte ihren Sinn verloren. Auf der anderen Seite hätte Krenz natürlich auch einen starken Abgang hinlegen können. Er war der Befehlshaber der bewaffneten Mächte. Darauf hat er verzichtet, so daß ich als Richter, oder besser, wäre ich sein Verteidiger, natürlich zu seinen Gunsten immer das Ausbleiben der chinesischen Lösung anführen würde…

TP: …die Egon Krenz aber noch verteidigt hat, sagt man…

Wieland: …ja, Sie fallen mir ins Wort, dabei aber auch nicht vergesse, daß er im Grunde der letzte war aus der DDR, der nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens dort noch seine Aufwartung gemacht hat. Also er ist nun wahrlich keine Lichtgestalt der Geschichte. Schabowski sehe ich da schon anders, insbesondere wie er sich jetzt hinterher vor Gericht verhalten hat, wie er geradezu rührend in sehr hohem Alter noch bei einem Anzeigenblatt seinen Lebensunterhalt fristet; bei ihm sehe ich aber beinahe auch als einzigem tatsächlich so etwas wie echte Reue und meine, das muß ganz stark zu seinen Gunsten berücksichtigt werden.

TP: War die DDR Ihrer Meinung nach souverän? Souverän insofern, daß sie ihr Grenzregime auch voll souverän ausgestalten konnte?

Wieland: Die DDR hat keinen Satz so sehr benutzt wie den Satz „Wir sind ein souveräner Staat“. (Wieland betont diesen Satz in stark sächsischem Akzent, Anm. d. Verf.) Das ist immer so, wenn ich etwas stark betone, dann beweise ich, daß ich es eigentlich doch nicht bin. Das ist wie mit Berlin und der Metropolenfunktion. Eine Stadt, die in jedem dritten Satz sagt „Wir sind eine Metropole“, ist eigentlich nicht wirklich eine Metropole. Das heißt, es gab bei der DDR die Souveränitätsmängel, die alle Ostblockstaaten – zum Zeitpunkt der Breschnew-Doktrin jedenfalls – hatten. Anders dann bei Gorbatschow. Gorbatschow hat sie von der Leine gehen lassen und hat dies auch vorher angekündigt und hat gesagt: Sie könne ihren eigenen Weg gehen. Und da hat ja die DDR geradezu geweint und gejammert und gesagt: Wo ist denn jetzt unser großer Bruder, an den wir uns anlehnen können? Das war ja eine ganz fürchterliche Perspektive, auf einmal tatsächlich souverän werden zu können für die Politbürokraten und Politgreise in der DDR. Das heißt, man muß die Phasen unterscheiden. Zeitweilig war die Souveränität tatsächlich beschränkt. Auf der anderen Seite, meine ich, hilft ihnen das im Strafprozeß doch herzlich wenig. Sie können keinen Befehl aus der Tasche ziehen, der besagt: Ihr müßt an eurer Grenze schießen. Die innerdeutsche Grenze hat sich doch stark von den anderen Ostblockgrenzen unterschieden, wo es ja durchaus Grenzen zu Österreich, zu Italien gegeben hat und wo es dieses, wie Lothar Löwe es mal genannt hat, „Abknallen der eigenen Staatsbürger wie die Hasen“ eben nicht gegeben hat. Das heißt, bitte nicht die eingeschränkte Souveränität als Rechtfertigungsgrund dafür heranziehen, daß man so an der Grenze handeln mußte, wie man’s gemacht hat. Es ist auch nicht richtig. Bei großen internationalen Ereignissen wurde ja geradezu befohlen, nicht zu schießen, weil man um diese Zeitpunkte herum, z.B. Weltjugendfestspiele oder anderes, keine Toten an der Mauer wollte. Das heißt, das Grenzregime wäre auch ohne Tote möglich gewesen.

TP: Angenommen – Sie sind ja auch Rechtsanwalt – , Krenz hätte Ihnen ein Mandat übertragen, hätten Sie’s übernommen?

Wieland: Wäre ich nicht Politiker der Grünen, das muß ich ganz deutlich sagen, wäre es sehr reizvoll gewesen. So aber wäre es immer eine Verwischung oder wäre die Gefahr dagewesen, daß ich unter Berücksichtigung dessen, was ich politisch hier leisten muß, wo ich auch eingebunden bin, wo ich natürlich auch Rücksichten nehmen muß, behindert wäre in meiner Verteidigungstätigkeit. Das heißt, in dieser Konstellation hätte ich es auch gar nicht machen dürfen, weil Egon Krenz wie jeder andere einen Anspruch darauf hat, daß der, der ihn verteidigt, auf niemanden Rücksicht nimmt, daß der, der ihn verteidigt, nur auf die Interessen des Egon Krenz Rücksicht nimmt.

TP: Also spielen auch gewisse politische Anschauungen eine Rolle bei der Übernahme eines Mandats?

Wieland: Das sind keine Anschauungen, ich bin eingebunden…

TP: … oder Einstellungen …

Wieland: Das will ich gar nicht sagen. Natürlich ist jeder Verteidiger, wenn er nun nicht besonders bescheuert ist, politisch eingestellt, indem er seine Vorlieben, seine Überzeugungen hat; er wird sich irgendwo einsortieren – spätestens am Wahlabend macht er irgendwo sein Kreuz, das heißt, er verortet sich selber irgendwo politisch. Das ist aber etwas anderes, als wenn ich aktiver Parteipolitiker bin, sogar noch einer, der hier Mandatsträger und Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus ist. Ich sage in gewisser Weise „leider“, weil für mich natürlich politische Mandate an sich was sehr reizvolles immer waren und immer sind, sei es Fritz Teufel seinerzeit im Lorenz-Drenckmann-Prozeß oder sei es jetzt die Nebenklage im Mykonosverfahren. Da besteht aber nun keine Gefahr, daß ich irgendwie mit dem, was meine Organisation denkt, ins Gehege komme. In der Verteidigung von Egon Krenz wäre diese Gefahr durchaus dagewesen. Daß ich zu seinen Gunsten Angriffe fahren muß, z.B. auf die Anwendung der Radbruch’schen Formel, die ich im politischen Geschäft und in der politischen Auseinandersetzung so nicht fahren würde. Da verteidige ich diese Formel. Und derartige Kollisionsmomente muß ein Anwalt frühzeitig erkennen, da muß er die Hände davon lassen und da darf er sich gar nicht in die Nähe begeben – ist meine Überzeugung. Andere sehen es nicht ganz so eng, aber ich bin da ein Purist und sehe es ganz eng.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: bundestag.de

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