Nicht darin erstarren und verharren.

TP-Interview mit dem Pfarrer der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Martin Germer, zu den Ereignissen um den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz.

TP: Herr Pfarrer Germer, Sie haben hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in den letzten Tagen die Anteilnahme und die Trauer der Menschen hautnah erlebt. Was ist da in Ihnen vorgegangen?

Germer: Na ja, das hat mich bewegt, immer wieder bewegt. Ich empfand es als eine sehr angemessene, würdige Weise, wie die Menschen damit umgegangen sind. Das war ja ein unablässiger Strom von Menschen, die immer wieder – sei es, dass sie hier in die Kirche oder auf den Platz gekommen sind – durch stilles Dastehen, Nachdenken sich mit all den anderen Menschen verbunden gefühlt und an die Opfer und ihre Angehörigen gedacht haben. Man fragt hoffentlich auch danach, was das für uns selbst bedeutet: Wie friedensfähig, friedensbereit sind wir, was ist unsere Toleranz? Und ich bin froh, dass ich jedenfalls in diesen Tagen ganz wenige Äußerungen von Hass oder Ausgrenzung oder ähnliches hier erlebt habe, weil ich fest davon überzeugt bin, dass das hier überhaupt nicht hingehört hätte.

TP: In den letzten Tagen fanden ja hier hauptsächlich Gottesdienste und Andachten der Anteilnahme und Trauer statt. Heute nun ein Gottesdienst, der mit den Anschlägen gar nichts zu tun hatte: Eine Goldene Hochzeit wurde hier gefeiert. Sie haben diesen Gottesdienst nach all den Strapazen der letzten Tage sogar selbst gehalten.

Germer: Ich habe den Gottesdienst selber gehalten und auch das Gespräch mit dem Goldenen Hochzeitspaar, das extra hier nach Berlin angereist ist und sich schon vor einem dreiviertel Jahr dazu angemeldet hatte, geführt.

TP: Also keine Spontanaktion.

Germer: Das Vorgespräch war schon vor ein paar Wochen, wo überhaupt noch nicht daran zu denken war, dass ein solch schrecklicher Anschlag hier geschieht. Und nun habe ich mich natürlich im Vorfeld gefragt: Wie geht das eigentlich, kann man das machen?  Wir haben auch beobachtet, wie sich das hier in den letzten Tagen entwickelt hat. Direkt am Dienstag wäre das nicht möglich gewesen. Da hätte die Situation einfach nicht gepasst. Inzwischen ist es doch so – ich will jetzt nicht so burschikos sagen: Das Leben geht weiter, aber es ist ja jetzt die Aufgabe, vor der wir alle stehen: in der Erschütterung, die das für uns bedeutet, eben nicht nur einfach darin zu erstarren, zu verharren, sondern das mit in unser eigenes Leben mitzunehmen. So wie gestern der Weihnachtsmarkt wieder eröffnet hat; aber nicht so, als wäre nichts gewesen, sondern mit den ganz deutlichen Orten der Erinnerung…

TP:… die man nicht weggeräumt hat…

Germer:… und an denen man weiter gedenken kann, wie wir das auch als Kirche begleitet haben, indem wir das auch mit einer ausdrücklich dafür gestalteten Andacht eröffnet haben, an der auch ganz viele Händler und Schausteller teilgenommen haben, aber auch viel Öffentlichkeit dabei war. So habe ich das eben auch zu sagen versucht, weil das auch für das Ehepaar, das nach 50 Jahren zur Goldenen Hochzeit hier her gekommen ist, von Bedeutung war: Geht das überhaupt an einem solchen Ort, wie sollen sie sich einfach freuen können und dankbar sein, wenn sie wissen, nebenan sind vor wenigen Tagen 12 Menschen furchtbar ums Leben gekommen, umgebracht worden? Ich glaube aber, es war gut und richtig. Ich hatte auch das Gefühl in der Kirche, dass das auch von den vielen anderen Menschen, die dabei waren, mitgetragen wurde, dass sie Anteil auch daran genommen haben, dass sie es eben miteinander verbunden gesehen haben.

TP: Bei einer jungen Frau, die am Altar einen Text vorgetragen hat, habe ich auch starke Tränen wahrgenommen.

Germer: Das war eine Enkeltochter des Hochzeitspaares. Sie hatte eine vorbereitete Fürbitte verlesen, dabei hat sie die Rührung für einen Moment sprachlos gemacht. Das kann ja einfach so sein, dass sich hier Rührung aus Liebe zu den Großeltern ausgedrückt hat. Ich halte es aber auch für denkbar, dass hier einfach die große Spannung dieser Tage ihr erst mal die Stimme genommen hat. So wie ich das in den letzten Tagen auch an mir selber immer wieder erlebt habe. Nicht, dass ich jetzt selbst ganz schwer  erschüttert wäre, so wie diejenigen, die es unmittelbar miterlebt haben. Mir scheint eher, dass darin das Untergründige, was sich so in unserer Seele abspielt, zum Ausdruck gekommen ist.

TP: Man wird in Anbetracht solcher Ereignisse eben halt mal von seinen Gefühlen überwältigt.

Germer: Ja, so kann man das durchaus sagen, ohne dass die Gefühle dabei ausdrücklich werden, aber sie sind einfach da – und ihre Widersprüchlichkeit. Einerseits macht man sich bewusst, was da Schlimmes geschehen ist; natürlich auch die Sorgen, die das bedeutet, weil sich die Frage stellt: Wann gibt es einen nächsten solchen Anschlag, wo gibt es ihn, was kann getan werden, um das zu verhindern? Woher kommt diese schreckliche Gewalt, was kann man dagegen tun? All diese Fragen sind ja da, aber gleichzeitig ist es auch ein ganz starkes Gefühl von Zusammenhalt, das man jetzt hier erleben kann. Das hat auch etwas Stärkendes über die Situation hinaus.

TP: Eine Frage möchte ich Ihnen nicht ersparen, nämlich die nach Anis Amri. Der ist ja heute Vormittag in Mailand erschossen worden. Was haben Sie gedacht als Sie von dem Tod des mutmaßlichen Attentäters erfahren haben?

Germer: Ich habe das heute Vormittag auch gehört. Durch die Tatsache, dass er die Waffe, mit der der polnische LKW-Fahrer erschossen wurde, bei sich führte, spricht ungefähr alles dafür, dass er der Täter hier auf dem Breitscheidplatz gewesen ist. Aber nichtsdestotrotz, es ist ja im Moment noch nicht definitiv so mitgeteilt worden. Da gibt es natürlich viele Facetten für die Aufklärung des Ganzen. Es ist schlimm, weil es vonseiten der Ermittlungsbehörden ein großes Interesse gegeben hätte, aus ihm noch irgendetwas rauszuholen. Für ihn ist es möglichweise so, dass er sogar darauf hingewirkt hat, ums Leben zu kommen. In der Berichterstattung ist ja schon im Vorfeld deutlich geworden, dass er sich als Selbstmordattentäter sieht. Das ist etwas Furchtbares, wenn Menschen in eine solche seelische Verwirrung geraten, bei diesem Mann ja schon durch einen ziemlich verfehlten Lebenslauf, wo man gar nicht weiß, was da alles dahintersteht, was dann solche Impulse sind, sich in so etwas hinein zu steigern. Aber es ist doch einfach nur schlimm und erschreckend. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich mit so jemanden Mitleid empfinde; aber es ist jedenfalls auch so, dass ich erschrecke, wenn jemand wie eben, der eine Mann, einfach nur sagt, der soll jetzt in die Hölle.

TP: Der Kirchenbesucher hier vor wenigen Minuten.

Germer: Ich rede auch ansonsten immer davon, dass die Vorstellung,  dass  Menschen „in die Hölle müssen“, für mich eine Verwirrung des Glaubens  darstellt – selbst wenn es so in der Bibel steht. Wenn wir an die Vergebung der Sünden glauben, wirklich daran glauben, also es für uns als Gewissheit annehmen – dann kann ich menschlichen Höllenfantasien kein Recht zusprechen. Nun müssen wir hier jetzt  nicht gleich von Vergebung der Sünden reden – wem kommt das schon zu, dies große Wort in den Mund zu nehmen; was hätte ich persönlich denn in diesem Zusammenhang zu vergeben? Aber selbst einen Menschen, der solch ein schreckliches Verbrechen  begangen hat, doch nicht zu verdammen, das, glaube ich, ist uns als Christen aufgetragen.

TP: Besteht jetzt nicht die Gefahr, dass noch mehr Rache und Hass geschürt wird bei den Unterstützern des mutmaßlichen Täters, der – wenn auch durch eigenes Verschulden –  erschossen wurde, aber dadurch weitere Anschläge in gewissem Sinne provoziert werden?

Germer: Auch diesen Gedanken habe ich schon gehabt, dass es nicht auszuschließen ist, dass so jemand zu einem Märtyrer in einem völlig falsch verstandenen Sinne gemacht wird. Wenn jemand selbst brutale Gewalt ausübt – nicht etwa so wie die Widerständler gegen Hitler, um etwas Schreckliches damit zu beenden, sondern einfach nur so, um Terror auszuüben, dann ist es natürlich abwegig, so jemanden als Märtyrer zu bezeichnen. Trotzdem ist es nicht auszuschließen, dass das so instrumentalisiert wird. Insofern wäre es dann auch wieder ein Stück Drehen an der Spirale der Gewalt, wenn man dieses Bild jetzt verwenden will. Umso mehr wäre es wünschenswert gewesen, dass eine Festnahme gelingt, die nicht tödlich ausgeht. Aber es ist ja wohl bei einer Verkehrskontrolle gewesen, wo der Beamte dann in einer möglichen Notwehrsituation gehandelt hat.

TP: Herr Pfarrer Germer, vielen Dank für diese deutlichen Worte nach der doch äußerst strapaziösen Woche, die Sie hier durchgemacht haben.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur Berlin (geführt am 23.12.2016)

Foto: Pfarrer Martin Germer

Bildquelle: TP Presseagentur Berlin/dj

Zu Pfarrer Germer:

Pfarrer Martin Germer wurde 1956 in Würzburg geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Er ist verheiratet.

Theologie hat er an der Kirchlichen Hochschule Berlin und in Göttingen studiert.
Sein Vikariat absolvierte er in Berlin.
1986-1990 war er Assistent im Fach Praktische Theologie in Berlin bei Prof. Bloth.

1990 – 2005 war er als Pfarrer an der Auenkirchengemeinde in Berlin-Wilmersdorf tätig. In diese Zeit fallen sechs Jahre, in denen er nebenamtlich als Kreisjugendpfarrer tätig war, sowie drei Jahre als stellvertretender Superintendent im Kirchenkreis Wilmersdorf.
Seit September 2005 ist er Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.

Von sich selbst sagt er: „Mich fasziniert immer wieder, wie Geschichten, Worte und Bilder aus der Bibel in unser Leben hinein sprechen, wie sie Erfahrungen deuten helfen und Orientierung geben können. Dabei begegne ich ihnen als denkender und fragender Mensch meiner Zeit und suche von daher nach Verstehens- und Glaubensmöglichkeiten für uns heute. Ich setze mich ein für eine Kirche, die die Menschen wahrnimmt und ernst nimmt in dem, was sie bewegt und was sie jeweils mitbringen, und die genauso ernsthaft den Schatz der ihr anvertrauten Tradition pflegt und lebendig erhält.“

Hier der Trauergottesdienst in voller Länge:

 

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*