Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Jubiläumsfeier „80 Jahre Süddeutsche Zeitung“ am 17. Juli 2025 in München.
Es gibt in unserem Land eine ganze Reihe von Zeitungen, die aus der demokratischen Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken sind. Und jede hat ihre Geschichte. Jede hat ihr Gesicht. Jede von ihnen zeichnet sich durch einen eigenen Ton, einen eigenen Stil, eine eigene Haltung aus, durch ein besonderes Profil, das man als Leserin oder als Leser mehr oder weniger schätzt. Vieles ist einem sympathisch, manches fordert einen heraus, an anderem reibt man sich gern.
All diese Zeitungen, ob sie auf Papier gedruckt oder über digitale Kanäle verbreitet werden, sind für ihre Leserinnen und Nutzer wie vertraute Weggefährten. Sie begleiten durch den Alltag; sie informieren, bilden und unterhalten; sie bieten in einer unruhigen Welt Orientierung und sind immer gut für eine überraschende Pointe. Die Süddeutsche Zeitung, deren 80-jähriges Bestehen wir heute feiern, gehört ganz zweifellos in den Kreis dieser Persönlichkeiten. Im Englischen würde man sagen: She‘s quite a character.
Aber was genau macht ihn aus, den Charakter der SZ? Ich habe für diese Rede ein bisschen recherchiert und Menschen in meinem Umfeld genau diese Frage gestellt. Man bekommt da natürlich unterschiedliche Antworten. Aber fast alle, mit denen ich gesprochen habe, sehen in der Süddeutschen Zeitung eine liberale, unabhängige und staatsferne Wächterin der freiheitlichen Demokratie, eine selbstbewusste vierte Gewalt, die den Verantwortlichen in Staat und Politik auf den Mund und auf die Finger schaut. Hofberichterstattung und Unterwürfigkeit jedenfalls – ich gebe nur wieder, was ich gehört habe – seien ihre Sache nicht, weder hier in München – liebe Frau Aigner, und auch Herr Söder würde das sicher nicht anders sehen – noch in Berlin; weder in Europa noch in der Welt. Auch wenn das natürlich kein repräsentatives Ergebnis ist: Ich finde, ein größeres Kompliment kann man einem journalistischen Medium gar nicht machen. Und diesem Kompliment schließe ich mich gerne an!
Der eine oder die andere mag sich allerdings fragen, warum diese liberale, unabhängige und staatsferne Zeitung nun ausgerechnet das Staatsoberhaupt als Geburtstagsredner eingeladen hat. Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ich finde: Nein, ganz im Gegenteil. Denn was freie journalistische Medien und gewählte Repräsentanten unseres demokratischen Staates bei aller gebotenen Distanz verbindet, ist ihre Verantwortung für die freiheitliche Demokratie. Und genau diese Verantwortung ist es, die uns heute hier zusammenführt – so habe ich Ihre Einladung jedenfalls verstanden.
In unserer Demokratie gehört es zum Berufsethos von Journalistinnen und Journalisten, Staat und Politik zu kontrollieren und, wenn nötig, hart und klar zu kritisieren – aber nie mit Verachtung und Häme, sondern mit Sachkenntnis, mit Genauigkeit und mit Respekt vor den Institutionen der Demokratie. Und auf der anderen Seite ist es die Aufgabe der Verantwortlichen in Staat und Politik, die im Grundgesetz verankerte Presse- und Meinungsfreiheit zu schützen und, wenn nötig, auch zu verteidigen – und damit eine wichtige Voraussetzung der Demokratie zu bewahren.
Wenn ich das etwas verkürzen und zuspitzen darf: An einem Tag überbringt der Bundespräsident einer unabhängigen Zeitung seine Glückwünsche; am übernächsten Tag wird er von derselben Zeitung kritisiert, weil er sich zu stark in ein politisches Thema eingemischt habe, wofür ihn ein anderes freies Medium aber ganz ausdrücklich lobt; und in der Woche darauf ist es dann bei einem anderen Thema genau umgekehrt – genau so soll und muss es sein in der Demokratie, und genau so soll und muss es bleiben!
Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ich heute mit Ihnen Geburtstag feiern darf. Wobei ich natürlich unbedingt bei den Fakten bleiben will: Der Geburtstag ist eigentlich erst am 6. Oktober. Und es soll ja sogar Unglück bringen, im Voraus zu gratulieren. Aber das ist natürlich ein Aberglaube, der für eine Zeitung, die sich als Kind der Aufklärung versteht, nichts zu bedeuten hat. Deshalb, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Leserinnen und Nutzer: Herzlichen Glückwunsch zu 80 Jahren Süddeutscher Zeitung – und herzlichen Dank für die Einladung!
Am 6. Oktober 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus, wurde das Verlagshaus der Münchener Neuesten Nachrichten in der Sendlinger Straße zum Schauplatz einer Szene, die man sich in Hollywood nicht besser hätte ausdenken können. Im Keller des Gebäudes, das die Bombenangriffe überstanden hatte, versammelten sich damals Offiziere der amerikanischen Militärregierung, der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, die drei Herausgeber der Süddeutschen Zeitung, die kurz zuvor im Rathaus die „Lizenz Nr. 1“ überreicht bekommen hatten, und einige Mitarbeiter und Gäste. Der Reihe nach warfen sie den Originalsatz von Hitlers „Mein Kampf“ in den Ofen des Gießwerks, um aus dem geschmolzenen Blei die Druckplatte für die erste Ausgabe der SZ zu fertigen. Nur wenige Minuten später liefen die ersten Exemplare der neuen Zeitung aus der Rotationsmaschine.
Es war ein Lokalreporter der ersten Stunde, ein gewisser Werner Friedmann, der die Geburt der Süddeutschen Zeitung damals für die Nachwelt festhielt. Er und die anderen Zeitzeugen, schrieb er, hätten während der Zeremonie im Keller das Gefühl gehabt, einer „heiligen Handlung“ beizuwohnen. Aber so kraftvoll das Symbol vor 80 Jahren auch war: Heute wissen wir längst, dass es im Westdeutschland der Nachkriegsjahre keine rituelle Reinigung, keine „Stunde Null“ gab. Die deutsche Gesellschaft ließ sich nicht einfach umschmelzen wie eine Druckplatte, und auch der Süddeutschen Zeitung wurde ihr liberaler Charakter nicht in die Wiege gelegt.
Der amerikanischen Militärregierung war es schwergefallen, überhaupt unbelastete Verleger und Journalisten für die neue Zeitung zu finden, die zur „Reeducation“ der Deutschen und zum Wiederaufbau einer lebendigen Demokratie beitragen sollte. Und wie in so vielen Unternehmen und Institutionen der jungen Bundesrepublik gab es dann auch bei der Süddeutschen einige führende Köpfe, die in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen waren. Wie stark sie in den Gründungsjahren das Redaktionsklima prägten, wie sehr Schuld und Mitschuld zunächst auch in der SZ verharmlost, verdrängt und beschwiegen wurden, das hat Ihr früherer Redakteur Knud von Harbou vor einigen Jahren ans Licht gebracht. Ich finde, seine Recherchen sind ein beeindruckendes Beispiel für aufklärerischen Journalismus!
Dass die Süddeutsche Zeitung ihren liberalen Charakter entwickeln und festigen konnte, das ist nicht zuletzt jenen Gründungspersönlichkeiten zu verdanken, die Gegner des Nationalsozialismus und überzeugte Demokraten waren. Schon am 6. Oktober 1945, bei der feierlichen Übergabe der Lizenz Nr. 1 im Münchner Rathaus, hatte Herausgeber Edmund Goldschagg den freien, aber verantwortungsbewussten Journalismus, wie er „gute demokratische Gepflogenheit“ sei, zur Aufgabe der Süddeutschen Zeitung erklärt. Und es war jener Werner Friedmann, der das Blatt dann als erster Chefredakteur der SZ auf diesen Kurs brachte und zum Lehrmeister des Journalismus in der jungen Bundesrepublik wurde.
Seitdem hat sich die Süddeutsche Zeitung, wie sollte es anders sein, stark verändert. Sie ist sehr, sehr langsam, aber unaufhaltsam auch weiblicher geworden; sie hat immer mehr digitale Angebote entwickelt und verkauft mittlerweile mehr Digital- als Print-Abos; sie hat das historische Gebäude in der Sendlinger Straße verlassen und ist in den SZ-Tower in Zamdorf gezogen, der fast so hoch ist wie die Türme der Frauenkirche. Was aber über all die Jahre geblieben ist, das ist der Anspruch, freien, aber verantwortungsbewussten Journalismus auszuüben, einen Journalismus, der sich der Demokratie und der Menschenwürde zutiefst verpflichtet fühlt.
Mit diesem Journalismus hat die Süddeutsche Zeitung – gemeinsam mit den anderen großen meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften – die demokratische Öffentlichkeit und die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt. Und Sie alle leben diesen Journalismus bis heute, und das eben auf Ihre ganz besondere Art und Weise. So wie die New York Times für Gesine Cresspahl, die Heldin in Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“, eine „Tante aus vornehmer Familie“ ist, so ist die Süddeutsche für mich so etwas wie eine Kosmopolitin aus München – elegant gekleidet, aber mit einer gewissen intellektuellen Lässigkeit ausgestattet; klug und kritisch, offen und neugierig, ironisch und schlagfertig, aber immer mit Respekt vor dem einzelnen Menschen.
Die Süddeutsche steht für Reporterinnen und Korrespondenten, die aus München, Bayern, Deutschland, Europa und aller Welt berichten und in Kriegs- und Krisengebieten immer wieder ihr Leben riskieren und auch verloren haben. Sie steht für die lange Reportage auf der berühmten „Seite Drei“; für Autoren und Autorinnen wie Herbert Riehl-Heyse, Evelyn Roll, Annette Ramelsberger, Renate Meinhof oder Elisa Schwarz; für gut erzählte Geschichten und das reflektierende Sich-Einlassen auf die Welt. Sie steht für investigativen Journalismus, der Missstände aufdeckt, Debatten anstößt und zu politischen Korrekturen führt, die „Panama Papers“ sind nur das bekannteste Beispiel. Und sie steht, nicht zuletzt, für das „Streiflicht“, das uns immer wieder vor Augen führt, dass sich demokratische Debatten bei allem gebotenen Ernst auch humorvoll, charmant, geistreich und in einer schönen Sprache führen lassen, dass es sogar ganz heilsam sein kann, ab und an die Luft aus den Dingen zu lassen und sich selbst nicht für den Mittelpunkt der Welt zu halten, jedenfalls für einen Moment.
Ich bin überzeugt: Gerade jetzt, in diesen unruhigen und beunruhigenden Zeiten, gerade jetzt brauchen wir diese Art von Journalismus. Denn wir erleben ja, dass viele Menschen angesichts von Krisen, Veränderungen, Kriegen und Desinformation ein besonders großes Bedürfnis nach Orientierung haben. Und wir erleben zugleich, dass die ökonomische Logik der sozialen Medien – blitzschnell verkürzen, zuspitzen, skandalisieren, polarisieren und eskalieren –, dass dieser rücksichtslose Kampf um Klicks gerade nicht geeignet ist, das Bedürfnis nach Orientierung zu erfüllen.
Ganz im Gegenteil: Die permanente Lautstärke, der rüpelhafte Ton, die ständig neuen Empörungswellen, der tägliche Wettbewerb um größtmögliche Skandalisierung des Banalen, all das führt nicht dazu, dass wir uns besser zurechtfinden, sondern dass wir uns schlechter fühlen – erschöpft, gereizt, ängstlich und ohnmächtig, oft wie gelähmt. Viele Menschen versuchen, sich vor diesen Gefühlen zu schützen, indem sie einfach abschalten, sich abschotten und zurückziehen. Die mediale Dauerapokalypse raubt Kraft, Mut und Zuversicht. Sie ist Gift für unser Miteinander und unsere Demokratie!
Genau deshalb brauchen wir freien und zugleich verantwortungsbewussten Journalismus, und wir brauchen ihn auf allen Kanälen! Der Journalismus, den ich meine, informiert verlässlich, sachlich und wahrheitsgemäß über das Geschehen. Er ist sich seiner eigenen Fehlbarkeit und Grenzen bewusst, legt eigene Fehler offen und korrigiert sie. Er bemüht sich nach bestem Wissen und Gewissen darum, die Welt in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit abzubilden, so genau wie möglich, so umfassend wie nötig – und im Zweifel lieber sorgfältig als schnell.
Der Journalismus, den ich meine, prüft Fakten, entlarvt Lügen und Gerüchte, klärt Unklares, entwirrt Verworrenes, sucht und sammelt auch das, was sich noch nicht im Netz finden lässt. Er trennt Wichtiges von Unwichtigem, ordnet Ereignisse ein, erklärt Zusammenhänge. Er kommentiert erst dann, wenn er die Tatsachen kennt, macht sich nicht mit einer Sache gemein.
Der Journalismus, den ich meine, verfügt über soziale, emotionale und praktische Intelligenz. Er reflektiert seine Arbeit, berichtet auch über Themen, die gerade nicht ganz oben im Strom schwimmen, beginnt immer dann zu zweifeln, wenn alle in eine Richtung rennen. Er bleibt durch seine Sprache und seine Themenauswahl unterscheidbar von der digitalen Dauererregung über alles und nichts. Und er zeigt vor allen Dingen auch, wie wir Probleme lösen und unsere Welt ein Stück besser machen können. Ich bin überzeugt: Wir brauchen auch Berichte über Erfolgsgeschichten, denn auch das sind schließlich Tatsachen, und es sind Tatsachen, die gute Laune und Lust auf Zukunft machen – gerade jetzt, in dieser krisenhaften Zeit, in der beunruhigende und belastende Nachrichten so schnell aufeinanderfolgen.
Ein solcher Journalismus trägt dazu bei, dass wir in unserem Land in einer gemeinsamen Wirklichkeit leben. Er versagt sich dem Schwarz-Weiß. Behält Mut zur Differenzierung. Er schafft die Voraussetzungen für eine vernünftige, zivilisierte, respektvolle Debatte. Er öffnet Räume, in denen eine Gesellschaft sich über sich selbst verständigen kann, in denen Kompromissbereitschaft und Zusammenhalt wachsen. Und nicht zuletzt: Ein solcher Journalismus gibt Bürgerinnen und Bürgern die Mittel in die Hand, die sie brauchen, um sich politisch zu orientieren, sich ein fundiertes Urteil zu bilden, sich an Debatten zu beteiligen und demokratische Entscheidungen zu treffen. Es ist, mit einem Wort von Roger de Weck, ein demokratiefreundlicher Journalismus.
Und ich befürchte, eines hat sich in unserer Gesellschaft noch nicht weit genug herumgesprochen: Ein solcher Journalismus lässt sich nicht von Künstlicher Intelligenz betreiben, auch wenn die Technik im Arbeitsalltag nützliche Dienste leisten kann. Und ein solcher Journalismus wird sich von den sozialen Medien niemals gleichwertig ersetzen lassen. Für freien, aber verantwortungsbewussten Journalismus, der diesen Namen verdient, braucht es Redaktionen, die ihr Handwerk und ihr Fachgebiet beherrschen, braucht es Journalistinnen und Journalisten, die mit Ethos, Mut und Leidenschaft bei der Sache sind!
Und es ist großartig, dass es in unserem Land so viele von ihnen gibt, nicht nur bei der Süddeutschen Zeitung. Sie alle leisten der Demokratie einen großen Dienst, nicht weil sie es müssen, sondern weil sie es wollen. Ich finde, für ihre so wichtige, so anspruchsvolle und mitunter lebensgefährliche Arbeit gebührt allen Journalistinnen und Journalisten heute ein ganz großer Applaus!
Früher, in einer anderen Medienwelt, sagte man: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Mittlerweile gilt längst: Nichts ist so alt wie der Post von vor einer Stunde. Aber gerade weil der Nachrichtenstrom heute so rasend schnell und rund um die Uhr fließt, gerade deshalb sollten wir jetzt sagen: Nichts ist so wichtig wie der Journalismus von morgen!
Deshalb meine Bitte: Bewahren Sie sich bei der Süddeutschen Ihre Leidenschaft für den freien, aber verantwortungsbewussten Journalismus! Bleiben Sie experimentierfreudig und offen für Neues, aber halten Sie an den journalistischen Standards fest! Passen Sie sich nicht der Logik der sozialen Medien an, sondern bleiben Sie, was Sie sind: quite a character.
Alles Gute zum Achtzigsten! Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank!