Unbewaffnete abgeknallt wie die Hasen!

TP-Interview mit den Generalstaatsanwälten Dr. Erardo Cristoforo Rautenberg (Brandenburg) und Dr. Heinrich Kintzi (Braunschweig).

TP: Herr Dr. Kintzi, brauchen wir solche Prozesse wie sie derzeit in Berlin gegen Egon Krenz, Günter Schabowski und andere geführt werden?

Dr. Kintzi: Ich glaube – ja, denn es gäbe aus meiner Sicht ein sehr schiefes Bild, wenn wir die Kleinen hängen, das heißt die Kleinen verurteilen würden und diejenigen, die viel mehr Verantwortung getragen und dementsprechend auch viel mehr Schuld auf sich geladen haben, nicht verfolgen würden – ganz abgesehen davon, daß unser Legalitätsprinzip, das heißt alle Straftaten zu verfolgen, uns dazu zwingt.

TP: Die sogenannten Großen behaupten nun heute, die Prozesse gegen die Kleinen sind zuerst geführt worden, um eine Handhabe gegen sie konkret zu haben, nach dem Motto: Man kann doch die Kleinen nicht hängen und die Großen laufen lassen.

Dr. Kintzi: Das ist nicht richtig. Die juristische Konstruktion erfordert, daß wir zuerst die Haupttat feststellen müssen, um dann eventuell den mittelbaren Täter oder den Anstifter anzuklagen und zu verurteilen. Und wir brauchen – das hat die Sache verzögert und mühsam gestaltet – die entsprechenden Zwischenglieder des Befehlsstranges. Wir müssen sie aufklären, um die Ursachenverbindung, die sogenannte Kausalität, herzustellen, so daß sich daraus auch erklärt, daß wir zuerst die Mauerschützen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen müssen und daß jetzt diejenigen, die dafür im Politbüro oder in anderen Funktionen Verantwortung getragen haben, zur Rechenschaft gezogen werden.

TP: Herr Dr. Rautenberg, von den Angeklagten im Politbüroprozeß wird angeführt, das Rückwirkungsverbot würde nicht beachtet und nach dem Völkerrecht seien sie berechtigt gewesen, diese Mauer zu bauen bzw. verweisen hier auch auf den Warschauer Pakt. Es wird auch ständig von den Verteidigern gefordert, die Verfahren auszusetzen, bis die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Streletz, Keßler und Albrecht ergangen ist. Wäre es nicht besser, auch aus prozeßökonomischen Gründen, diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten bis man weiterverhandelt?

Dr. Rautenberg: Nein, das denke ich nicht. Ich bin der Überzeugung, daß diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die sich jetzt auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts befinden, Bestand haben werden, weil der Bundesgerichtshof diese Problematik der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze sehr sensibel gelöst hat. Und es wäre aus meiner Sicht ein Ergebnis, das alles in Frage stellen würde, wenn die schwere Verletzung von Menschenrechten ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben würde. Daß das Bundesverfassungsgericht sich zu dieser Frage äußert, ist richtig, es ist eine Verfassungsfrage, aber ich denke, die Wahrscheinlichkeit, daß das Bundesverfassungsgericht zu diesem Ergebnis kommt, daß die bisherigen Urteile nicht der Verfassung entsprechen, ist unwahrscheinlich.

TP: Theoretisch besteht aber auch die Möglichkeit, daß das Bundesverfassungsgericht sagt, hier ist das Rückwirkungsverbot betroffen – dann wäre für die jetzt durchgezogenen Verfahren eine Menge Geld verpulvert worden. Wäre es nicht auch ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit gewesen, dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil – egal wie es ausfällt – abzuwarten, um so zugleich Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, gleichzeitig hätte sich nicht nur das Gericht eine Menge Mühe mit den von den Verteidigern gestellten Anträgen erspart?

Dr. Rautenberg: Nein, wissen Sie, es ist doch eine ganz durchschaubare Verteidigerstrategie, diese Verfahren mit einer politischen Bedeutung in irgendeiner Weise in die Länge zu ziehen. Da braucht man nicht nur an dieses Verfahren zu denken, sondern da gibt es jede Menge Verfahren…
Ich glaube nicht, daß da der Rechtsstaat in Gefahr ist, wenn man diesen Prozeß weiter führt. Wie gesagt, das Bundesverfassungsgericht hat darüber zu urteilen – es hat auch seine Richtigkeit; aber ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr gering, daß sich dann herausstellt, daß das ganze Verfahren sozusagen umsonst gewesen ist.

TP: Dr. Rüdiger Reiff, der Justizpressesprecher beim Landgericht Berlin, ist da ganz anderer Auffassung. Er spricht hinsichtlich der von den Verteidigern gestellten Anträgen von „strafprozessual gebotenen Möglichkeiten, die sich geradezu anbieten…“.

Dr. Rautenberg: Das schließt sich ja nicht aus. Aber man kann natürlich interessiert sein, eine Sache zum Abschluß zu bringen und man kann Anträge stellen, die zu einer Verfahrensverzögerung führen. Und ich denke, eine Verteidigung, die darauf aus ist, das Verfahren möglichst schnell zum Abschluß zu bringen, würde eben nicht den Antrag stellen, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten.

TP: Herr Dr. Kintzi, es wird ja nun auch als eine Alternative von verschiedenen Leuten angesehen, für die Angeklagten einen Internationalen Gerichtshof einzuberufen. Warum wäre das für die westdeutsche Justiz keine Alternative?

Dr. Kintzi: Aus meiner Sicht besteht hierfür keine Rechtsgrundlage. Wir haben unsere eigene deutsche Strafverfolgung aufgrund unserer Strafhoheit; und ich kann mir auch nicht vorstellen, aus welchen Gründen wir internationale Institutionen mit dieser Problematik konfrontieren sollten. Das sieht zum Beispiel anders aus bei den Verfahren aus Rest-Jugoslawien, wo möglicherweise der Justizapparat nicht in der Lage ist, mit solchen Verfahren fertig zu werden. In der Bundesrepublik besteht ein völlig intaktes juristisches Instrumentarium, auch die entsprechenden Organe. Und es sind ja Straftaten, die auf dem deutschen Territorium begangen worden sind.

TP: Die Angeklagten führen ja jetzt auch für sich ins Feld, daß sie kein DDR-Recht verletzt haben, auch kein internationales Recht; wie kann die bundesdeutsche Justiz dennoch begründen, einen Prozeß gegen sie durchzuführen?

Dr. Kintzi: Ich habe da überhaupt keine Probleme. Der Totschlag und der Mord sind sowohl im Strafgesetzbuch der ehemaligen DDR als auch in dem der Bundesrepublik Deutschland geregelt. Deshalb ist unser Strafrecht, unser jetzt gemeinsames Strafrecht auf der Grundlage des Einigungsvertrages mit den entsprechenden von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen anwendbar, wonach das mildeste Recht gilt. Es ist ein Recht, das auch nach internationalen Grundsätzen für solche Straftaten zur Verfügung steht und ich betone noch einmal, der Tatort liegt in Deutschland und dementsprechend kann ich mir kaum eine Rechtsgrundlage vorstellen, die die Zuständigkeit eines internationalen Spruchkörpers zuweist.

TP: Nun führen die Angeklagten auch für sich ins Feld, es handelte sich hier um militärisches Sperrgebiet und jeder Staat habe das Recht, seine Grenzen zu schützen. Das sei ihnen auch von westlichen Experten bestätigt worden. Und wenn jemand militärisches Sperrgebiet betrete, dann tue er das auf eigene Gefahr; das Strafrecht sei hier fehl am Platze…

Dr. Kintzi: Das ist ein anderes Problem. Das hat mit internationalem Recht nicht unbedingt etwas zu tun. Hier stellt sich die Frage, inwieweit diese Straftaten, diese Tötungshandlungen gerechtfertigt sind. Hierbei ist das entsprechende materiell-rechtliche Instrumentarium, zum Beispiel das Grenzgesetz der DDR auszulegen, und zwar unter Berücksichtigung der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte. Das hat der Bundesgerichtshof nach meiner Auffassung in einer klaren Form getan, indem er zum Ausdruck gebracht hat, daß diese Tötungshandlungen eben nicht durch die Bestimmungen des Grenzgesetzes gerechtfertigt werden können, weil hier gegen überpositives Recht verstoßen wurde, weil ein offensichtlich unerträglicher Verstoß gegen Menschenrechte vorliegt. Das können wir also, um es zusammenzufassen, mit unserem Recht, sei es dem Recht der ehemaligen DDR, sei es dem Recht, das früher in der Bundesrepublik gegolten hat, durchaus in den Griff bekommen.

TP: Herr Dr. Rautenberg, würde bereits das Schußwaffengebrauchsbestimmungsgesetz der ehemaligen DDR gegen ein solches Recht verstoßen?

Dr. Rautenberg: Nein, das ja nicht. Es geht darum, daß die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt ist, wenn jemandem, der nur von seinem Menschenrecht auf Ausreise Gebrauch macht, unbewaffnet einfach nur aus diesem Staat will, in den Rücken geschossen wird. So einfach ist das. Und eine derartige Handlung ist eben nicht als Recht anzusehen.

TP: Das Schußwaffengebrauchsbestimmungsgesetz sah ja nun vor, zuerst einen Warnschuß abzugeben, wenn sich jemand im Grenzgebiet aufhielt. Insofern wäre das doch mit den Menschenrechten vereinbar?

Dr. Rautenberg: Ja, das ist ja alles soweit gedeckt. Gegen den Warnschuß ist ja nichts zu sagen. Und es ist ja selbst durchaus noch im Rahmen gesehen worden bei dieser „Abwägung Menschenrecht auf Ausreise und Grenzsicherung“, daß der Grenzsoldat dem Flüchtenden in die Beine schießt. Und wenn es dabei geblieben wäre, dann wären wir alle zwar nicht glücklich, aber letztlich zufrieden. Aber man hat ja die Unbewaffneten gelegentlich wie die Hasen abgeknallt. Und das ist eben eine Handlungsweise, die in keinem Falle zu rechtfertigen ist.

TP: Im Falle, daß Haftstrafen ausgesprochen werden: Sind sie anzutreten?

Dr. Rautenberg: Ja, da greifen wir sehr weit vor. Ich meine, wir äußern uns ja beide (Rautenberg meint Dr. Kintzi und sich, Anm. d. Interviewers) zu einem laufenden Verfahren; es ist ja auch möglich, daß sie freigesprochen werden; das weiß ich nicht, das entscheidet das Gericht. Aber wenn es zu einer Verurteilung käme, dann denke ich mal, werden sie nicht anders zu behandeln sein wie sonstige Verurteilte.

TP: Herr Dr. Kintzi, wenn das Bundesverfassungsgericht in Sachen Streletz, Keßler und Albrecht zu Ungunsten der Verurteilten entscheidet, haben sie dann die Haft anzutreten?

Dr. Kintzi: Ich möchte nicht gerne spekulieren und bitte Sie, hierfür Verständnis zu haben. Wir haben auch in dieser Richtung ein strafprozessuales und strafvollzugsrechtliches Instrumentarium, aus dem zu entnehmen ist, wann die Strafhaft anzutreten ist und wann nicht. Nach diesen Regeln, nach diesen Grundsätzen wird auch bei den betreffenden Verfahren ohne Ansehen der Person, wie wir sagen, nach Gesichtspunkten, die wir bei anderen Verurteilten anwenden, zu verfahren sein.

TP: Demzufolge bliebe nur „Ab in den Knast“?

Dr. Kintzi: Hierfür gibt es wie gesagt, Kriterien, die nach der Strafprozeßordnung und nach dem Strafvollzugsgesetz zu beurteilen sind. Eine Rolle spielt insbesondere die Frage, ob sie haftfähig, vollzugstauglich sind, was ich nicht beurteilen kann. Aber ich bin davon überzeugt, daß diese Entscheidung bei den zuständigen Stellen in guten Händen ist.

TP: Herr Dr. Rautenberg, Sie haben soeben in einem Vortrag als rechtsstaatswidrig und unzumutbar angesehen, daß z.B. in den USA Todesstrafen erst nach 15 Jahren nach ihrer Verhängung vollstreckt werden. Es ist zwar durchaus nicht vergleichbar, aber Streletz, Keßler und Albrecht hätten, wenn das Bundesverfassungsgericht zu ihren Ungunsten entscheidet, auch viele Jahre nach ihrer Verurteilung mit der Vollstreckung zu rechnen. Das ist zwar nicht mit der totalen Unverhältnismäßigkeit und Quälerei eines Verurteilten, der nach über einem Jahrzehnt nach Verhängung der Todesstrafe hingerichtet wird, vergleichbar, aber wäre es mit dem vorhandenen Rechtsgrundsatz, daß eine Strafe der Verurteilung auf dem Fuße zu folgen hat, noch vertretbar, Verurteilte Jahre nach Verhängung einer relativ langen Freiheitsstrafe die Haft noch antreten zu lassen?

Dr. Rautenberg: Da kann ich nur auf das verweisen, was Herr Kintzi gesagt hat, das richtet sich nach dem Strafvollzugsgesetz. Wenn jetzt ein NS-Massenmörder verurteilt werden würde, und der würde eine Haftstrafe erhalten, dann würden Sie diese Frage kaum in der Öffentlichkeit vermitteln können. Wenn somit eine Verurteilung erfolgt und die Haftfähigkeit vorliegt, dann ist die Strafe natürlich auch zu vollstrecken.

TP: Egal nach welch langer Zeit?

Dr. Rautenberg: Das richtet sich nach allgemeinen Prinzipien. Es darf weder in der einen noch in der anderen Richtung ein Sonderrecht geben, sondern alle Verurteilten sind gleich zu behandeln. Und das bedeutet natürlich auch – wenn sie haftunfähig sind -, daß sie dann eben nicht in die Haft einzurücken haben. Selbst wenn das dann in der Öffentlichkeit mißverstanden werden würde, müßte man so verfahren, weil das Recht eben für alle gilt.

TP: Herr Dr. Kintzi, Herr Dr. Rautenberg, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1996

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