„Gesetzmäßiges Vorgehen“.

TP-Interview mit dem Justizpressesprecher des Landgerichts Berlin Dr. Rüdiger Reiff.

TP: Herr Dr. Reiff, in der Öffentlichen Verwaltung wird an allen Ecken und Kanten gespart. In Moabit zieht man seit November letzten Jahres ein Verfahren, den so gennanten Politbüro-Prozess, durch, der von diversen Seiten als höchst umstritten angesehen wird. Hat die Justiz zuviel Geld?

Dr. Reiff: Es ist richtig, daß in der öffentlichen Verwaltung gespart werden muß. Von den Sparmaßnahmen ist auch die Justiz betroffen. Keinesfalls aber kann die Durchführung von Strafprozessen von den Finanzen eines Landes abhängig gemacht werden. Die Staatsanwaltschaft hat den gesetzlichen Auftrag, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Bieten die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so hat die Staatsanwaltschaft Anklage bei dem zuständigen Gericht zu erheben. Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft gegen Mitglieder des Politbüros der ehemaligen DDR Ermittlungen aufgenommen wegen der Toten und Verletzten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Insofern bestand der Verdacht des Totschlags bzw. des versuchten Totschlags zum Nachteil von Personen, die die DDR verlassen wollten und beim Fluchtversuch erschossen oder durch Schüsse bzw. Minen verletzt worden sind. Nach Abschluß der Ermittlungen, insbesondere nach Klärung der Machtbefugnisse der Mitglieder des ehemaligen Politbüros, ist die Staatsanwaltschaft zu der Auffassung gelangt, daß die Beschuldigten wegen der allseits bekannten Vorfälle an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer sich strafbar gemacht haben. Dem gesetzlichen Auftrag entsprechend war daher Anklage zu erheben. Den gesetzlichen Vorgaben entsprechend hat das Gericht nunmehr Beweis darüber zu erheben, ob die Anklagevorwürfe zutreffen.

In einem Rechtsstaat kann es auf die derzeitige Finanzlage eines Landes genausowenig ankommen wie auf kritische Stimmen einzelner Personen.

TP: Im November 1995 haben vier Verhandlungstage stattgefunden, bevor das Verfahren vorläufig ausgesetzt wurde. Hätte es aus prozeßökonomischen Gründen nicht nahegelegen, das Verfahren sofort auszusetzen, nachdem der bisherige Vorsitzende Richter am Landgericht Bräutigam wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden war?

Dr. Reiff: Nachdem der Vorsitzende Richter am Landgericht Bräutigam wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem Verfahren ausgeschieden war, stand ein Ergänzungsrichter nicht mehr zur Verfügung. Die Verhandlung ist trotzdem unter der Leitung des jetzigen Vorsitzenden Hoch an vier weiteren Tagen fortgesetzt worden. Als bekannt wurde, daß einer der Angeklagten, nämlich Herr Kleiber, wegen einer unaufschiebbaren Operation ins Krankenhaus mußte, ist das Verfahren ausgesetzt worden.

Über die Aussetzung einer Hauptverhandlung entscheidet nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung das Gericht. Zu beachten ist aber, daß die Notwendigkeit, das Strafverfahren zügig und ohne vermeidbare Verzögerungen durchzuführen, die Aussetzung nur ausnahmsweise zuläßt. Die Entscheidung des Gerichts, das Verfahren nach dem Ausscheiden des bisherigen Vorsitzenden fortzusetzen, war daher sachgerecht. Die später angeordnete Aussetzung war nicht Folge des fehlenden Ergänzungsrichters; Ursache war vielmehr die voraussichtlich länger andauernde Abwesenheit eines der Angeklagten.

TP: Wie lange ist dieses Verfahren angesetzt und was wird dieses Verfahren voraussichtlich kosten?

Dr. Reiff: Das Gericht hatte ursprünglich 27 Verhandlungstage bis einschließlich 29. April 1996 anberaumt. Inzwischen sind weitere 18 Verhandlungstage – bis 11. Juli 1996 – terminiert worden. Diese Terminierung hat aber für die voraussichtliche Dauer des Prozesses keine Bedeutung. Man wird abwarten müssen, wie sich die Hauptverhandlung mit ihrer Beweisaufnahme gestaltet. Im jetzigen Zeitpunkt ist eine Prognose über die Dauer des Verfahrens nicht möglich.

Auch die Frage, was dieses Verfahren kosten wird, kann im jetzigen Zeitpunkt abschließend nicht beantwortet werden. Kosten des Verfahrens sind die Gebühren und die Auslagen. Zu den Kosten gehören auch die durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstandenen sowie die Kosten der Vollstreckung.

Die Gebühren bemessen sich nach der rechtskräftig erkannten Strafe. Bei einer Verurteilung von mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe entsteht beispielsweise eine Gerichtsgebühr in Höhe von DM 480,– DM. Die Staffelung der jeweiligen Gebühren ergibt sich aus dem Gerichtskostengesetz.

Einen weitaus größeren Posten stellen die Auslagen dar. Alle vor der Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht vernommenen Zeugen müssen entschädigt werden genauso wie Sachverständige, die zu einzelnen Punkten und Fragen Gutachten erstattet haben. Die Höhe dieser Auslagen vermag im Moment niemand abzuschätzen.

TP: Den Verteidigern wird von diversen Seiten vorgeworfen, sie verschleppten den Prozeß mit ihren Anträgen. Die Anträge sind über mehrere Verhandlungstage verteilt gestellt worden. Hätte man sich die Masse dieser Anträge nicht ersparen können, wenn man zuvor eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einem ähnlichen Fall abgewartet hätte?

Dr. Reiff: Die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht im Laufe dieses Jahres in anderer Sache über Fragen entscheiden wird, die auch im vorliegenden Prozeß von Bedeutung sein können, rechtfertigt es nicht, den Beginn einer Hauptverhandlung hinauszuschieben. Die im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Fragen sind vom Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit den Schüssen an der Berliner Mauer bereits mehrfach entschieden und von der Staatsanwaltschaft zur Grundlage ihrer Anklageschrift gemacht worden. Dennoch bieten sich Anträge der Verteidigung im vorliegenden Verfahren geradezu an, weil dieses neben allgemein prozessualen auch völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Keinesfalls aber kann man insoweit von einer Verschleppungstaktik der Verteidigung reden.

TP: Mit wievielen Ersatzrichtern arbeitet im Moment das Gericht?

Dr. Reiff: Das Gericht ist – wie üblich – mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffenrichtern besetzt. Desweiteren sind zwei Ergänzungsrichter sowie vier Hilfsschöffen bestellt.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1996

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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