Alles paletti in Spree-Athen – Jochen Esser: Die alte Sparpolitik ist vorbei.

TP-Interview mit Jochen Esser, Abgeordnetenhaus von Berlin, über Sanierungsstau in Berlin und die Finanzsituation der Hauptstadt.

(Jochen Esser ist Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin seit November 1999 und dort Stellvertretender Vorsitzender des Hauptausschusses und finanzpolitischer Sprecher, u.a. war er von 1991 bis 1993 Berliner Landesvorsitzender von Bündnis90/Die Grünen, deren Mitglied er seit 1979 ist.)

TP: Wie viele Schulden hat Berlin im Moment?

Esser: Das sind im Augenblick 59,9 Milliarden Euro. Es waren schon mal 62 Milliarden Euro.

TP: Es waren sogar noch mehr?

Esser: Ja, insofern ist es besser geworden.

TP: So gesehen sind in den letzten Jahren offensichtlich ein paar Milliarden getilgt worden.

Esser: Es sind etwa 3 Milliarden getilgt worden in den letzten zehn Jahren. Der größte Teil dieser Schulden ist Mitte der 90er Jahre entstanden. Seit dem schleppen wir sie mit uns rum.

TP: Was muss man verbrochen haben, um so viele Schulden zu haben?

Esser. Eine Subventionsmentalität entwickeln und verlernen auf eigenen Füßen zu stehen. Das, was die Berliner – die Westberliner – von früher gewohnt waren, das ist leider vorbei. Das war ja auch ein Stück Freiheit, dass man so billig leben konnte.

TP: Allerdings auf Kosten der Ostdeutschen, weil die Mauer dazwischen war und der Bund Zuschüsse gegeben hat?

Esser: Und der Bund bezahlte diese ganze Veranstaltung, weil es nötig war zu sagen, die 2,4 Millionen Einwohner, die Westberlin hatte, müssen hier bleiben. Die Stadt konnte die ja nicht ernähren. Das hat den Umgang der Berliner mit Geld natürlich stark geprägt, da kommen wir halt her.

TP: Am besten noch ein paar mehr, der Bund zahlt ja?

Esser: Ja, das war eine politische Entscheidung. Was ja nun gar nicht ging, war, dass die Leute hier keine Arbeit haben, keine Zukunft und keine Perspektive, dass sie dann wegziehen und ganze Stadtteile leer stehen.

TP: Also musste der Laden subventioniert werden, damit die DDR oder die Russen quasi nicht drüber herfallen?

Esser: Das war ja nun der Pfahl im Fleische der DDR, der musste funktionieren, der musste funkeln, es wurde alles bezahlt. Als nach der Wiedervereinigung alles auf normal umgestellt wurde, hatte Berlin das ganz große Problem, sich an diese Veränderungen anzupassen, Inzwischen haben wir es fast geschafft, uns daran zu gewöhnen, dass das Geld nicht mehr so fließt, dass man sich noch alles leisten kann, was man sich vorher zugelegt hatte.

TP: Wenn in den letzten zehn Jahren 3 Milliarden von den Schulden getilgt wurden: Wer musste dafür bluten bzw. an welchen Stellen wurde dafür Geld massiv eingespart?

Esser: In den letzten Jahren haben wir, glaube ich, gar nicht mehr so viel eingespart, aber wir könnten mit dem Steuergeld natürlich etwas Besseres machen, als 1,6 Milliarden Euro Zinsen zur Bank zu tragen, weil wir so hohe Schulden haben. Immerhin: Im Augenblick ist die Einnahmeentwicklung gut, weil es wirtschaftlich gut geht in Deutschland. Von daher ist die Lage etwas entspannter. Aber was man in den letzten Jahren natürlich hätte machen können, nach meiner Ansicht auch hätte machen müssen, ist die Entwicklung der Infrastruktur. Wenn man sich öffentliche Gebäude anguckt – Schulen, Straßen, Radwege, den öffentlichen Nahverkehr, Krankenhäuser – , dann merkt man einfach, da ist ein Milliarden-Sanierungsstau entstanden, weil das das Erste war, wo gespart wurde. Insofern, denke ich, wichtiger als die Tilgung ist eigentlich die Investition in die Infrastruktur der Stadt.

TP: Das sollte ja auch mit Olympia wieder passieren, was dann aber massiv den Bach runter ging – wie zu Diepgens Zeiten.

Esser: Diesmal war es sehr früh zu Ende mit dieser Bewerbung. Das war nicht ganz so teuer wie beim letzten Mal – das ging sehr schnell -, weil die Berliner Bewerbung schon auf der ersten Stufe gegen Hamburg scheiterte. Es zeigt aber auch, dass Berlin nicht in der Lage ist, so etwas richtig einzustielen.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir mit Olympia glücklich geworden wären. Da ist dann ja immer die Hoffnung, es käme da noch viel Geld vom Bund und international, und dann hätte auch der normale Bürger etwas davon. Aber wenn man Pech hat – und das ist die Regel -, dann hat man eigentlich nur diese olympischen Sportstätten da stehen. Für diese findet sich dann keine Nachnutzung und am Ende hat die betreffende Stadt nur Kosten und Verluste und keine Gewinne gehabt. Diese Sorge hatte dann ja auch die Hamburger Bevölkerung, weswegen sie es mehrheitlich abgelehnt hat, olympische Spiele in Hamburg zu veranstalten.

TP: Warum hat Berlin eigentlich noch nicht Bankrott angemeldet, normale Firmen tun dies bereits, wenn sie schon zehntausende Euro Schulden haben und voraussichtlich abzusehen ist, dass das nicht mehr einzufangen ist mit Umsätzen und Gewinnen. 59,9 Milliarden Euro Schulden, das muss man ja erst mal schaffen. Wie nun am Bankrott vorbei?

Esser: Ja, nun ist das bei uns so geregelt, dass Bundesländer nicht bankrottgehen können, weil die Bundesrepublik als Ganzes für die Bundesländer einsteht. Und deshalb kann Berlin auch keinen Bankrott anmelden. Insgesamt steht die Bundesrepublik Deutschland, was die Verschuldung angeht, unter den Staaten relativ ordentlich da. Nicht wie man sich das vorstellt, aber doch so, dass die Banken Geld leihen und die Zinsen niedrig sind, die man im Augenblick bezahlen muss. Das ist in Griechenland ganz anders. Das kennen wir ja alle. Auch Staaten, hat man in der Finanzkrise lernen müssen, können bankrottgehen. Guckt man jetzt nach Südeuropa – Griechenland am Schlimmsten, aber auch Spanien, Portugal, auch Frankreich, die sind alle noch nicht über dem Berg. Da leiht sich Berlin seine Stärke gewissermaßen von der gesamten Bundesrepublik Deutschland.

TP: Auch der Finanzausgleich und dass Berlin Hauptstadt ist, kommen hinzu.

Esser: Genau. Aber wenn die Banken wüssten, Berlin könnte wie jedes andere Unternehmen pleitegehen, dann würde das auch nicht helfen. Dann hätte das ähnliche Dinge zur Folge, wie wir sie eben aus Griechenland kennen. Denen werden hohe Risikozinsen abverlangt, weil jeder, der ihnen noch Geld leiht, damit rechnet, der Kredit könnte teilweise oder komplett ausfallen. Wenn der nächste dann sagt, ich leihe dir überhaupt nichts mehr, dann wird es halt eng. Diese Sorge müssen wir hier in Spree-Athen Gottseidank nicht haben.

TP: Wenn Berlin in den letzten zehn Jahren 3 Milliarden Euro Schulden getilgt hat, dann würde es theoretisch noch 200 Jahre dauern, bis die restlichen knapp 60 Milliarden Euro bezahlt sind?

Esser: Ja, auf diese Weise wird es auch nicht gehen. Der entscheidende Punkt ist – das ist mit der Schuldenbremse von der Verfassung geregelt -, dass nichts mehr an Schulden dazu kommt. Man darf ja davon ausgehen, dass das Niveau der Wirtschaftsleistung und des Wohlstands, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ansteigt. Damit steigt logischerweise auch die Steuerzahlung, die der Staat kassiert. Und dann werden die alten Schulden, relativ gesehen, weniger drückend. Das wäre privat ja auch so, je mehr Einkommen ich habe, umso eher komme ich mit einem bestimmten Schuldenstand, den ich zu bedienen habe, zurecht, Und das ist der Weg, den Deutschland mit seiner Stabilitätspolitik eingeschlagen hat.

TP: Also muss der Bürger im nächsten und übernächsten Jahrhundert keine Befürchtung haben, an dieser Schuldenlast noch zu leiden oder zu knabbern, die Berlin im Moment mit sich rumschleppt?

Esser: Leiden tut man daran vielleicht immer, aber nicht mehr in dem Ausmaße wie heute. Das ist dann proportional gesehen weniger bedeutend für den Bürger schon in 30 oder 40 Jahren und nicht erst im nächsten Jahrhundert.

TP: Welche Prognose würden Sie Berlin geben für die nächsten zehn Jahre?

Esser: Schwer zu sagen, im Moment sieht’s gut aus.

TP: Es müssten also keine sozialen Einrichtungen darunter leiden, dass dort Einsparungen vorgenommen würden?

Esser: Nein, das Problem kriegen wir, glaube ich, eher weniger. Die alte Sparpolitik ist vorbei. Wir haben jetzt einen Aufschwung in Berlin seit etwa 2007. Es ist ja doch deutlich spürbar, es geht wirtschaftlich aufwärts und es kommen zusätzliche Einwohner. Berlin boomt, wenn man so will. Es war ja hier immer ein Armenhaus, aber wir sind jetzt nicht mehr Gelsenkirchen. Berlin gehört heute zu den Kommunen in Deutschland, die sich positiv entwickeln.
Das ist aber auch nicht ohne Schattenseiten, auch darauf muss der Bürger sich einstellen. Die Kehrseite ist, dass die Mieten explodieren und die Infrastruktureinrichtungen für die wachsende Stadt fehlen. Die öffentlichen Dienstleistungen kommen nicht mehr hinterher, und es gibt unheimlichen Druck auf dem Wohnungsmarkt. Die Nachfrage nach Wohnungen ist viel, viel höher als das Angebot, es gibt kaum Leerstand. Und das ist für den Bürger auch nicht nur angenehm. Wer da mithalten kann, dem geht’s gut, wer da nicht mithalten kann, dem geht’s da schlecht. Das hat mit Verhältnissen, wie sie in Paris oder London sind, zwar noch nichts zu tun, aber es geht in die Richtung. Hier ist das Leben immer noch billig, aber eben längst nicht mehr so wie früher.

TP: Apropos Sparpolitik, sie sei vorbei: In Mariendorf ist seit über einem Jahr ein U-Bahneingang total dicht und – so heißt es – „wegen Bauarbeiten“ geschlossen. Dort wird aber überhaupt nicht gebaut.

Esser: Derartiges kann man an vielen Stellen beobachten. Es ist ja nach wie vor unser Problem, dass wir ja eben nicht nur die Schulden haben in Form von Geld, diese knappen 60 Milliarden Euro, sondern dass ganz viel verrottet ist in der öffentlichen Infrastruktur – eben auch in der U-Bahn. Und da hat man dann ein doppeltes Problem. Einerseits das Problem, nicht genug Geld zu haben, das schnell genug aufzuarbeiten. Ich würde mal schätzen, genauso wie für die Sparpolitik brauchen wir 15 Jahre, um diese Dinge alle wieder in Ordnung zu bringen, die da außer der Reihe sind.
Und dann haben wir obendrein das Problem, dass die Verwaltung nicht mehr richtig funktioniert und die Dinge deshalb liegen bleiben. Das könnte in dem Fall bei der BVG auch so sein. Man hat längst entschieden, etwas zu machen, kriegt es aber nicht durchgeführt.
Wir haben jetzt Beides: Für vieles fehlt logischerweise das Geld. Und da wo’s Geld gibt, ist noch lange nicht gesagt, dass wir das auch umgesetzt kriegen. Wir kriegen das Haushaltsgeld, wenn man das quasi als PS betrachtet, nicht auf die Straße.

TP: Auf Pump reitet das Genie zum Erfolg, hat der so genannte Maueröffner Günter Schabowski mal gesagt. Die DDR wird dieses Genie nicht gewesen sein, die ritt ja bekanntlich mit Krediten in den Untergang. Wohin würde Berlin reiten, wenn es genial wäre und die Schuldenbremse und die Stabilitätspolitik nicht an der Hacke hätte?

Esser: Vermutlich auch in den Untergang. Viele Leute haben es mit der Nachhaltigkeit nicht so. Die denken nicht an morgen oder gar übermorgen, gehen lieber heute in die Vollen und sagen sich, nach mir die Sintflut. Es gibt aber ein Mittel sich davor zu schützen. Das kannten schon die alten Griechen. Odysseus bindet sich an den Mast, damit er den Klängen der Sirenen nicht erliegt. Man kann sich vorher Regeln geben, die dafür sorgen, dass man der späteren Versuchung nicht erliegt. Regeln, die einen vor der eigenen Unvernunft schützen. So etwas ist die Schuldenbremse in Sachen finanzieller Nachhaltigkeit. Das ist wie beim Atomausstieg und beim Klimaschutz in Fragen ökologischer Nachhaltigkeit. Da gibt es kein Zurück mehr von der Energiewende hin zu Strom aus Sonne und Wind.. Wir müssen jetzt da durch, auch wenn es manchmal schwierig ist. Unsere Kinder und Enkel werden es uns danken.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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