Niedersachsens Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann rehabilitiert Fritz-Bauer-Preisträger Dr. Helmut Kramer nach dessen vorbildlichem Engagement in der sogenannten Puvogel-Affäre.
„Es steht dem Richter ebenso wenig wie dem Beamten zu, seinem Vorgesetzten Verfehlungen vorzuwerfen oder dessen Ansehen durch Verbreitung von Tatsachen im Bereich der Behörde zu untergraben, selbst wenn die Tatsachen zutreffend sind.“ – mit diesen heute anachronistisch anmutenden Zeilen rügte das OLG Braunschweig im September 1978 den Richter am Oberlandesgericht Dr. Helmut Kramer für dessen Verhalten in der sogenannten Puvogel-Affäre.
Was war passiert?
Nachdem Dr. Hans Puvogel im Jahr 1976 zum niedersächsischen Justizminister ernannt worden war, wurde 1978 der Inhalt seiner Dissertation aus dem Jahr 1937 publik – Titel: „Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“. Hierin findet sich unter anderem die folgende Passage (S. 34):
„Der Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft bemißt sich nach seiner rassischen Persönlichkeit. Nur ein rassisch wertvoller Mensch hat innerhalb der Gemeinschaft eine Daseinsberechtigung. Ein wegen seiner Minderwertigkeit für die Gesamtheit nutzloser, ja schädlicher Mensch ist dagegen auszuscheiden. […] Ob das Volk für eine Ausscheidung des Minderwertigen durch Tötung bereits Verständnis aufzubringen vermag, mag dahingestellt bleiben, sicher aber begrüßt es heute zumindest die Ausrottung des Sittlichkeitsverbrechers und damit die Verhütung einer asozialen Nachkommenschaft.“
Als sich Minister Dr. Puvogel von diesem Gedankengut auch nach Bekanntwerden der Dissertation nicht distanzierte, versandte Dr. Kramer kommentarlos Auszüge des Werkes an einige seiner Kollegen. Dr. Puvogel trat im Anschluss schließlich zurück.
Und Dr. Kramer? Anstelle von Lob und Anerkennung erhielt dieser einen Bescheid des OLG Braunschweig mit der Feststellung, dass er durch die Versendung der Auszüge aus der Dissertation die Achtungspflicht gegenüber seinem dienstvorgesetzten Minister verletzt habe. Diese Disziplinarverfügung wurde schließlich bestandskräftig.
Mehr als 45 Jahre später hat die Niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann diese Verfügung nun aufgehoben und Dr. Helmut Kramer herzlich für dessen Engagement in der Puvogel-Affäre gedankt. Der Aufhebungsbescheid wurde dem Sohn Christian Kramer sowie mit Dr. Gerd Hankel und Uwe Boysen zwei Weggefährten des mittlerweile 94-jährigen und aus gesundheitlichen Gründen verhinderten Dr. Kramer von der Ministerin persönlich übergeben.
Dr. Wahlmann: „Dr. Helmut Kramer war jahrzehntelang das Gewissen der niedersächsischen Justiz. Nicht zuletzt durch sein Engagement in der Puvogel-Affäre wurde er ein leuchtendes Vorbild für uns alle. Mit Mut und Beharrlichkeit hat er sich in herausragender Weise um die Aufarbeitung von Justizunrecht in der NS-Zeit und dessen Fortwirkung in der Bundesrepublik verdient gemacht. Auch heute kann die Justiz ihre wichtige Aufgabe als dritte Säule der Staatsgewalt nur dann effektiv wahrnehmen, wenn kritische Stimmen Gehör finden und die richterliche Unabhängigkeit stets gewahrt bleibt. Wir brauchen in der Justiz deshalb auch in Zukunft Menschen mit klarem inneren Kompass, die unsere verfassungsmäßigen Werte auch gegen Widerstände und zur Not auch unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile vehement verteidigen – kurzum: Menschen wie Dr. Helmut Kramer.“
Dr. Helmut Kramer: „Ich freue mich sehr über die Initiative des Justizministeriums. Im Vordergrund steht jedoch nicht meine Person oder die Korrektur eines angestaubten Vorgangs in den Tiefen meiner Personalakte. Weit wichtiger ist mir, dass mit der Aufhebung der Disziplinarverfügung von 1978 auch das damals noch herrschende obrigkeitsstaatliche Richterbild zurückgewiesen wird.
Die Vorstellung von Richterinnen und Richtern als gehorsamen Vasallen ihrer Dienstvorgesetzten, die der Entscheidung von 1978 zugrunde lag, war niemals mit den Grundsätzen eines demokratischen Dienst- und Arbeitsverhältnisses vereinbar. Ministerinnen und Minister sind zwar einerseits Leiter der obersten Dienstbehörde, andererseits jedoch auch Parteipolitiker und als solche das legitime Objekt auch scharfer Kritik jeder Bürgerin und jedes Bürgers – einschließlich von Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richtern.“
Zur Person:
Dr. Helmut Kramer, geboren am 30. März 1930 in Helmstedt, studierte Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte und Rechtswissenschaften. In der niedersächsischen Justiz war Dr. Kramer bis 1995, zuletzt als Richter am OLG Braunschweig tätig. Von 1984 – 1989 übernahm er eine Vertretungsprofessur im Fachbereich Rechtswissenschaft an der Universität Bremen, ab 1990 war er unter anderem mit der Ausrichtung von Tagungen zur NS-Justiz an der Deutschen Richterakademie in Wustrau betraut. Für sein vielfältiges und herausragendes Engagement bei der Aufarbeitung des NS-Justizunrechts, beispielsweise im Fall „Erna Wazinski“ oder im Kampf um die Schaffung der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, wurde er unter anderem mit dem Hans-Litten-Preis, dem Fritz-Bauer-Preis und dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet.
Dr. Helmut Kramer; Fotoquelle: Jan Christen
v. l. Uwe Boysen, Dr. Gerd Hankel, Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann, Christian Kramer, Dr. Viktor Rogalla, Bildquelle: JM Niedersachsen
Fotoquelle (oben): TP Presseagentur Berlin