„Der beste Flüchtling ist ein toter Flüchtling“.

Die Historikerin Marion Detjen hat die Fluchthilfe im geteilten Deutschland durchleuchtet.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Als der Fluchthelfer Dieter Thieme im Jahre 1964 von dem Schriftsteller Uwe Johnson zur Motivation seiner Fluchthelfertätigkeit befragt wurde, antwortete er unter anderem: „Aber ich tue es nicht um der Leute willen, sondern um denen da drüben zu schaden.“
So wie Thieme dachten offenbar viele Fluchthelfer, die bei ihren Aktionen, fluchtwilligen DDR-Bürgern von Ost nach West zu verhelfen, eben nicht die (vermeintlichen) Vorteile des Westens für ihre „Klienten“ im Auge, sondern in der Tat die Schädigung des anderen deutschen Staates gezielt zur Maxime ihres Handelns erhoben hatten.
Die Historikerin Marion Detjen, die sich auch des Materials Uwe Johnsons bediente, hat sich nun in ihrem auf ihrer Doktorarbeit basierenden Buch „Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961 – 1989“ mit den vielfältigen Motiven, Zwängen und Konflikten, die das Handeln der Fluchthelfer bestimmten, detailliert auseinandergesetzt und diese in den zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. Für die 1969 in München geborene Autorin blieb trotz solcher Aussagen wie der von Thieme die Grundkonstellation, in der sich diese Geschichte bewegte, immer dieselbe: Auf der einen Seite die Diktatur der DDR, die ihre Bevölkerung mit Gewalt am Davonlaufen hindern musste, und auf der anderen Seite die Bundesrepublik mit ihrem Grundgesetz, das für eben diese Bevölkerung ein unverbrüchliches Freiheitsversprechen enthielt. Fluchthelfer wie Thieme dürften dabei diesem Freiheitsversprechen, sofern eine Flucht durch einen Tunnel, einem Autoversteck oder mittels gefälschten Papieren gelungen ist, allenfalls objektiv Geltung verschafft haben. Das reichte den Justizbehörden der Bundesrepublik zunächst, und die Fluchthelfer kamen erst einmal in strafrechtlicher Hinsicht weitgehendst ungeschoren davon. Ihnen wurde ein „übergesetzlicher Notstand“ zugebilligt, also unterstellt, dass die Wertdifferenz zwischen dem Recht der Flüchtlinge auf Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit öffentlicher Urkunden so hoch gewesen sei, dass z.B. Urkundenfälschungen für Fluchthilfezwecke gerechtfertigt werden könnten. Auch wenn sie sich bewaffneten, und diese Waffen aus dem kriminellen Milieu bezogen haben, führte das nicht zwangsläufig zu einer strafrechtlichen Verfolgung nach dem Legalitätsprinzip. Als Helden wurden sie jedoch, wie die Autorin weiß, nicht lange gefeiert. So störten sie zum einen die Kreise derer, die das Schicksal der durch die DDR-Grenze und Mauer getrennten Menschen auf einem politischen Wege (zunächst Passierscheine) regeln wollten, zum anderen gerieten sie in der öffentlichen und auch veröffentlichten Meinung immer massiver unter Beschuss, als sie sich kontinuierlich aus eigennützigen Motiven heraus zu kommerzialisieren begannen und auf ihre „Klienten“ und Kuriere (Schleuser) nur noch bedingt Rücksicht und so deren Verhaftung und Verurteilung in der DDR billigend in Kauf nahmen.
Es gab der Autorin zufolge Fälle, „in denen zwar eine Fluchthilfe erfolgreich durchgeführt wurde, jedoch auf Kosten und zum Schaden unbeteiligter Dritter“. Von manchem Fluchthelfer wurde „für die Freiheit eines DDR-Bewohners bewusst die Verhaftung eines westdeutschen Doubles“, eine Art Doppelgänger, einkalkuliert.

Ab 1964 stellte sich auf Grund der „Neuen Ostpolitik“ dann auch die Frage, „ob Gewalt in Kauf nehmende Aktionen gegen ein gewalttätiges Regime noch zu rechtfertigen wären, wenn auf Verhandlungswegen vielleicht friedlichere Lösungen gefunden werden konnten“.
Insbesondere nach dem Vier-Mächte und dem Transitabkommen sowie dann nach dem Grundlagenvertrag habe sich „die Fluchthelferlandschaft grundlegend“ gewandelt. So habe etwa der zunächst als uneigennütziger Tunnelbauer bekannt gewordene und später nur noch kommerziell agierende Fluchthelfer Hasso Herschel sich wegen des Transitabkommens zurückgezogen: „Es wurde nicht mehr kontrolliert, wer über die Autobahn fuhr, und da konnte ja nun jeder seine Freundin in den Kofferraum tun und sie selber holen.“
Bevor sie etwa im Jahre 1984 bedeutungslos wurde, sei es mit der Fluchthilfe seit 1975 „stetig bergab“ gegangen. Diejenigen Fluchthelfer, die weitermachten, seien dann von den westdeutschen Strafbehörden mit zahlreichen Ermittlungsverfahren überzogen und teilweise zu Haftstrafen verurteilt worden. So haben es z.B. Fluchthelfer unternommen, mit betrügerischen Aktivitäten den bundesdeutschen Angehörigen von Fluchtwilligen große Geldbeträge zu entlocken, die sie auch nach der gescheiterten Flucht für sich behielten. Aber auch „die idealistischsten und moralischsten unter ihnen, die ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel setzten“, hebt die Autorin Marion Detjen hervor, „beglichen ihre Schulden zuletzt mit dem Honorar, das sie von den Flüchtlingen verlangten“.
In (West) Berlin wurden seit 1972 Straftaten im Zusammenhang mit Fluchthilfe auf den Transitstrecken systematisch erfasst. Die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die die Fluchthelfer insbesondere bei Urkundendelikten wie Paßfälschung etc. bisher für sich in Anspruch nehmen konnten und ihnen auch zugebilligt wurden, wurden von der Rechtsprechung nicht mehr so ohne weiteres anerkannt. Fluchthelfer konnten sich so nicht mehr darauf berufen, dass sich die Fluchtwilligen in der DDR in einer Notlage befunden hätten. Auch die Nichtgeltung des Grundrechtes auf Freizügigkeit in der DDR wurde von den Gerichten nicht mehr als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund angesehen, wenn Fluchthelfer gegen Strafgesetze der Bundesrepublik bei der Fluchthilfe verstoßen hatten.
Die Fluchthelfer waren vor einer Unterwanderung durch die Staatssicherheit der DDR nie gefeit. So scheiterten viele Fluchten, weil sie von eingeschleusten Informanten an die Stasi verraten worden waren. Aber auch Flüchtlinge verrieten, wenn sie verhaftet wurden und z.B. einer hohen Strafe in der DDR entkommen wollten, die Fluchtwege an die DDR-Behörden. Aber auch an die Vernehmer der so genannten Notaufnahmelager in der Bundesrepublik oder Westberlin. Den von Marion Detjen ausgewerteten Tonbandprotokollen Uwe Johnsons zufolge ließ sich der Fluchthelfer Dieter Thieme deswegen zu der bitteren Äußerung hinreißen: „Der beste Flüchtling ist ein toter Flüchtling. Der kann wenigstens nichts mehr sagen, wie er gekommen ist, und dann würden die Wege laufen, nicht ewig, aber lange laufen.“
Thieme gehörte zu den als seriös geltenden Fluchthelfern.

Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961 – 1989. Siedler Verlag München 2005, 480 Seiten, 24,90 Euro.

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