„Die Amnestiedebatte ist tot“.

TP-Interview mit Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen.

TP: Herr Schaefgen, seit 40 Jahren hat man in der Bundesrepublik Zeit gehabt, das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes zu relativieren – wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention der Fall ist. Bis heute ist das nicht geschehen. Urteile, die gegen ehemalige Funktionsträger der ehemaligen DDR gefällt werden – kürzlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates – wurden u.a. mit der sog. Radbruchschen Formel begründet. Muß diese Radbruchsche Formel gewissen Leuten nicht so etwas wie Justizwillkür erscheinen?

Schaefgen: Also, das würde ich auf keinen Fall sagen. Diese Formel ist ja entwickelt worden, um staatlichem Unrecht aus der Sicht der Opfer und unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit Genüge zu verschaffen. Und sie ist nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts ja auch nur auf ganz extreme Ausnahmefälle anwendbar. Und die Praxis der bundesrepublikanischen Strafjustiz richtet sich danach; daß also hier auch nur der Funken oder die Spur von Willkür walte, vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen.

TP: Ist die Radbruchsche Formel aber nicht mehr Richterrecht denn staatlich gesetztes Recht?

Schaefgen: Ach, wissen Sie, wenn wir also diesen Absatz 3 des Artikel 103 des Grundgesetzes bekommen hätten – so, sagen wir mal, in der gleichen Formulierung wie Artikel 7 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 15 Absatz 2 des IPBPR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) -, dann wäre auch noch nicht allzu viel gewonnen; denn das, was also der Überzeugung der zivilisierten Völkergemeinschaft zuwiderliefe, müßte dann auch noch definiert werden. Also uns hätte es, meine ich, die Arbeit nicht allzu sehr erleichtert. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn man sich nach der Wiedervereinigung darauf geeinigt hätte, welche Formen der Regierungskriminalität – und zwar konkret, also dessen, was im staatlichen Auftrag und unter staatlicher Duldung an Unrecht in der DDR vorgekommen ist -, welche Formen heute bestraft werden können, dann wäre das eine Erleichterung der Arbeit gewesen. Aber das ist nicht gemacht worden.

TP: Aber wenn wir beispielsweise das Rückwirkungsverbot relativiert hätten, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte der Fall ist, wären die Urteile dann heute nicht leichter zu begründen eben mit der Verfassung als mit einer Theorie, die ja auch willkürlich von Richtern oder allgemein gesprochen von der Justiz auslegt werden könnte?

Schaefgen: Ich glaube nicht. Es wäre vielleicht vielen Menschen plausibler zu machen, daß es strafbar ist, was nach der Gesetzeslage der DDR nicht strafbar war. Aber die Radbruchsche Formel hat ja heute eine Konkretisierung durch die Ausgestaltung des Menschenrechtsschutzes ohnehin gewonnen, und insofern wäre da im Ergebnis auch nichts anderes dabei herausgekommen.

TP: Ich denke, ein Urteil, beispielsweise im Politbüro-Prozeß, steht und fällt ja mit der Souveränität, die diese Leute gehabt haben oder nicht. Was bräche sich die Justiz dabei ab, wenn sie diese Personen, die die Verteidigung als Zeugen beigezogen wissen will – Egon Bahr, Hans-Otto Bräutigam und so weiter -, zulassen würde?

Schaefgen: Der Politbüro-Prozeß ist nicht abgeschlossen. Ich habe keinen Anlaß, hier der Entscheidung des Gerichts vorzugreifen.

TP: Es wurden auch Beweisanträge dahingehend gestellt, daß es Vereinbarungen zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow gegeben habe, staatliche Funktionsträger der ehemaligen DDR nicht zu verfolgen für Dinge, die sie in Erfüllung staatlicher und verfassungsgemäßer Aufgaben getätigt haben. Hätte ein solcher Beweisantrag nicht eine Bedeutung für die Rechtsprechung?

Schaefgen: Auch das ist eine Frage, die von seiten der Verteidiger in dem Verfahren gestellt worden ist. Auch hierzu hat die zuständige Strafkammer zu entscheiden, ohne daß von außen irgendwelche Ratschläge oder dergleichen gegeben werden.

TP: Von den Verteidigern im Politbüro-Prozeß wurde zum Beispiel auch moniert – im Falle des Angeklagten Mückenberger -, daß dieser Mann im Ermittlungsverfahren als Zeuge geladen wurde, obwohl von vornherein festgestanden hätte, daß er als Beschuldigter in Frage kommt beziehungsweise fest Beschuldigter wird.

Schaefgen: Das ist eine unwahre Behauptung. Niemals hätte ein erfahrener Staatsanwalt Herrn Mückenberger als Zeuge geladen, wenn er zu dem Zeitpunkt, als er ihn gehört hätte, fest überzeugt gewesen wäre, daß er Beschuldigter ist. Und im übrigen kann einer Person aus einer solchen Rollenverteilung kein Nachteil entstehen, weil die Belehrung über sein Recht zu schweigen, im Ergebnis die gleiche ist – egal ob er Zeuge oder Beschuldigter ist. Soweit der Verdacht oder soweit er Gefahr laufen würde, sich als Zeuge selbst zu belasten, kann er die Aussage verweigern. Und darüber muß er belehrt werden und ist er auch belehrt worden.

TP: Er sei allerdings, so behaupten seine Verteidiger, nicht dahingehend belehrt worden, daß er sogar noch einen Rechtsbeistand herbeiziehen könnte.

Schaefgen: Das weiß ich nicht. Und ich glaube, darüber muß man auch nicht belehren.

TP: Damit der Staatsbesuch Erich Honeckers 1987 in der Bundesrepublik nicht zu seiner Verhaftung führt, wurde für ihn ein Straffreiheitsgesetz erlassen. Man hat ihn sozusagen mit weißer Fahne auf rotem Teppich einlaufen lassen. Nachdem die DDR zusammengebrochen war, wurde er angeklagt. War die Staatsanwaltschaft 1987 strikt an dieses Straffreiheitsgesetz gebunden?

Schaefgen: Ja selbstverständlich. Das stand so im Gerichtsverfassungsgesetz.

TP: Macht sich ein Staat, der dem Staatsoberhaupt eines anderen Straffreiheit gewährt hat, nicht nur politisch unglaubwürdig, wenn er ein solches Staatsoberhaupt nachträglich anklagt, wenn sein Staat zusammengebrochen ist?

Schaefgen: Diese Frage müssen Sie an die Politiker richten, nicht an einen Staatsanwalt, der von Gesetzes wegen verpflichtet ist, Straftaten zu verfolgen.

TP: Nochmals zurück zu Mückenberger: Ist bei der Anklage nicht sowieso von einer kollektiven Schuld bzw. kollektiven Verantwortlichkeit der Politbüromitglieder ausgegangen worden, und wäre Mückenberger so nicht von Anfang an als Beschuldigter zu hören bzw. zu vernehmen zu gewesen?

Schaefgen: Das deutsche Strafrecht ist nicht so angelegt, daß nach einer kollektiven Schuld zu forschen ist, sondern immer nach der individuellen Verantwortlichkeit.

TP: Nehmen wir dagegen die Prozesse gegen die RAF. Da wurde auch eine kollektive Verantwortlichkeit gewissermaßen unterstellt und diese dann den einzelnen Mitgliedern aufgrund ihrer bloßen Mitgliedschaft zugerechnet.

Schaefgen: Das ist nicht unsere Vorgehensweise. Wir müssen tatsächliche Anhaltspunkte haben, daß einer an maßgeblichen Beschlüssen beteiligt war. Und solange wir sie nicht haben, haben wir keinen Grund, sie zu beschuldigen. Weil wir es aber nicht genau wissen, belehren wir sie, daß sie die Aussage verweigern können, wenn sie sich bei wahrheitsgemäßer Beantwortung der Fragen diesem Verdacht aber aussetzen können.

TP: Der Angeklagte Kleiber ist im Gegensatz zu Herrn Mückenberger von Anfang an als Beschuldigter gehört worden. Waren bei ihm dementsprechend Unterlagen vorhanden, die darauf hindeuten könnten, daß er sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht haben könnte?

Schaefgen: Sie überfordern mich, wenn Sie nun von mir verlangen, daß ich nun die Art und Weise, wie das Verfahren vor jetzt fast fünf Jahren geführt worden ist, Ihnen im einzelnen darlegen sollte. Ich sage Ihnen, es ist hier nichts von dem passiert, was von den Verteidigern der Angeklagten heute im Prozeß behauptet wird, daß vorsätzlich und wider besseres Wissen ein Rollentausch dahingehend vorgenommen worden ist, daß Personen, die eklatant Beschuldigte waren, als Zeugen gehört worden sind.

TP: Gibt es für Sie irgendwo Anhaltspunkte dafür, daß außer der Behauptung „Wir sind ein souveräner Staat“ die DDR souverän in Ihren Entscheidungen gewesen ist?

Schaefgen: Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren gegen die Verantwortlichen des Nationalen Verteidigungsrates; in dem ist etwas darüber gesagt worden. Was für die einen gilt, gilt für die anderen meines Erachtens auch.

TP: Heute wird ja auch vielfach der Vorwurf erhoben, man hätte die Funktionsträger viel eher anklagen können. Man habe zuerst die „Kleinen“ angeklagt, so der Vorwurf, um das Argument zu haben: Man könne doch die „Kleinen“ nicht hängen und die „Großen“ laufenlassen.

Schaefgen: Ja, ich glaube, das ist inzwischen ein Vorwurf oder ein Vorurteil, dem der Boden nun wirklich entzogen ist, so daß man es seriöserweise auch nicht mehr verbreiten kann. Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates sind rechtskräftig verurteilt. Die Ermittlungen gegen diesen Personenkreis und gegen Erich Honecker und andere sind eingeleitet worden, bevor die Verfahren gegen die Mauerschützen abgeschlossen oder geführt wurden. Besser gesagt: Der erste Haftbefehl, der in diesem Komplex ergangen ist, richtete sich gegen Erich Honecker und nicht gegen einen Mauerschützen. Es ist auf der anderen Seite eine nicht zu vermeidende Tatsache, eine Folge der Eigengesetzlichkeiten unseres Strafrechts und Strafverfahrensrechts, daß wir erst die Haupttat, das Handeln vor Ort durch den unmittelbar Handelnden aufklären müssen, ehe wir uns der Frage zuwenden können, welche anderen Personen, die nicht unmittelbar gehandelt haben, auch im Hintergrund standen, die Fäden in der Hand hatten, sich auch strafbar gemacht haben. Und wenn wir einen Sachverhalt ausermittelt haben, daß sich eine Person durch ihr Tun strafbar gemacht hat, dann müssen wir die durch die in der Strafprozeßordnung vorgesehenen Maßnahmen, in diesem Falle Anklageerhebung, erfolgen und das Gericht muß über die Anklage befinden und darf nicht warten, bis Höherrangige, die höhere Schuld auf sich geladen haben, auch vor Gericht gestellt werden können. Es ist unvermeidbar, daß man mit den „Kleinen“ anfangen muß, bevor man die Verantwortlichkeit der „Großen“ richtig bewerten kann.

TP: Sie sprechen von der sog. Kausalkette?

Schaefgen: Ich spreche davon, daß ich immer eine Haupttat, ein Geschehen erst einmal aufklären muß, und erst danach beurteilen kann, ob sich jemand, der sich nicht im ursprünglichen Sinne die Finger schmutzig gemacht hat, gleichwohl als Schreibtischtäter strafbar gemacht hat und in welcher strafrechtlichen Beteiligungsform – ob als Anstifter, Gehilfe oder als Täter.

TP: Es wird heute auch der Vorwurf erhoben, daß die Prozesse, die heute stattfinden, das deutsche Volk eher spalten als das Zusammenwachsen zu fördern. Würde es beispielsweise, wenn das Zusammenwachsen behindert würde durch diese Prozesse behindert würde, ein Grund sein, die Verfahren aus übergeordneten Gesichtspunkten zu drosseln?

Schaefgen: Also, wir können nichts drosseln. Wir müssen tun, was uns der Gesetzgeber vorgeschrieben hat, nämlich verfolgen, solange es kein Straffreiheitsgesetz gibt. Und das gibt es nicht, also müssen wir weitermachen. Ich meine auch zu Recht. Die Amnestiedebatte ist tot. Es gibt heute keine nennenswerten gesellschaftlichen Kräfte mehr in der Bundesrepublik, die derartiges fordern, weil alle der Meinung sind, daß ein Unter-den -Teppich-Kehren von schwersten Menschenrechtsverletzungen dem inneren Frieden nicht dienlich wäre, im Gegenteil eine Auseinandersetzung provozieren würde.

TP: Wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ja auch ein gewisser Sieg für die Staatsanwaltschaft ist, jetzt noch mehr Verfahren nach sich ziehen?

Schaefgen: Nein! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ja nur eine Bestätigung der Rechtsauffassung, die wir von Anfang an vertreten haben. Es gibt jetzt keine Fallkonstellationen, die zusätzlich dazugekommen und die zu verfolgen wären.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1997

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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