Die Mauer war ein Schreckenssymbol.

TP-Interview mit Ex-SED-Politbüromitglied Günter Schabowski zum 15. Jahrestag des Mauerfalls.

TP:

Herr Schabowski, am 9. November 1989 ist die Mauer gefallen. 15 Jahre danach wollen sie viele wieder aufgebaut wissen.
Können Sie sich als jemand, der das Ende der DDR heute als einen Glücksfall ansieht, einen Reim darauf machen?

Schabowski:

So schwierig ist das ja nicht. Die Euphorie, die den Mauerfall begleitet hat, offenbarte, wie nachhaltig das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit wirkt. Auch nach über vier Jahrzehnten einer unüberwindlich scheinenden Spaltung war es nicht verblasst, verkümmert.
Allerdings war das nicht alles, was sich an dieses Ereignis knüpfte. Im Osten waren von Anfang an die Erwartungen – doch nicht zu Unrecht? – darauf gerichtet, dass nun auch die materiellen Segnungen, die der freie Westen verhieß…

TP:

…also die D-Mark und so weiter…

Schabowski:

… schnell über die Menschen im Osten kommen würde, gewissermaßen als verdiente Frucht ihrer Erhebung. Illusionär waren auch die Vorstellungen im Westen. Es wurde unterschätzt, wie viel Zeit und materiellen Aufwand die Transformation des bankrotten sozialistischen Experiments materiell wie geistig beanspruchen würde. Schon gar nicht war vorauszusehen, in welche Atemnot der leistungsstarke westliche Teil Deutschlands durch Belastungen geraten würde, die durch eine sich verändernde wirtschaftliche, politische und militärische Weltlage verursacht sind. Schließlich sollte man nicht pauschalisieren. Es sind ja nicht die Ostdeutschen, die nach der Mauer rufen. Sie wollen nicht zurück.

TP:

Nicht unbedingt in die DDR, aber doch in eine dort vorhanden gewesene gewisse Absicherung – wie es genannt wird.

Schabowski:

Nein, sie wollen sich nach 15 Jahren Einheit nur nicht in der Rolle von Underdogs verewigt sehen. Die Parole, auf die Sie anspielen, wurde im Westen in Umlauf gesetzt. Sofern es sich nicht um einige Profi-Witzbolde handelt, die mit Entsetzen Scherz treiben, verraten sich darin einfach Vergesslichkeit, Kurzsichtigkeit und auch Selbstsucht. Die Einheit ist eben ohne Aufwand und Engagement von allen, von Ostlern wie Westlern nicht zu vollenden. Außerdem sollte man so billig nicht argumentieren. Die Mauer war ein Schreckenssymbol. Wie viel Leid verbindet sich damit. Man kann über solche gedankenlose Rabulistik nur den Kopf schütteln.

TP:

Nun haben Sie am 9. November 1989 in der berühmten Internationalen Pressekonferenz verkündet, dass jeder Bürger ohne Angabe von Gründen einen Antrag, wohlbemerkt: einen Antrag stellen kann, aus der DDR auszureisen. Was dann kam, ist bekannt. Wie konnten Sie so missverstanden werden, dass die Bürger anstatt am nächsten Tag zu den dafür zuständigen Stellen zu gehen am selben Abend noch schnurstracks an die Mauer rannten und sie quasi plattwalzten? Schließlich haben Sie doch nicht verkündet, dass die Grenzen geöffnet sind.

Schabowski:

Moment, ich habe damals gesagt, die Reiseregelung gelte ab sofort, unverzüglich, so erinnere ich mich.

TP:

Aber Sie verkündeten doch schließlich keine offene Mauer.

Schabowski:

Es ist doch klar, nach einer so unverhofften und dazu eindeutigen Mitteilung wollten die solange eingezäunten Menschen, zumindest im Berliner Ballungsgebiet, sofort testen, ob das Unglaubliche wahr ist. Sie brachen dann eben „unverzüglich“ zur Grenze auf.

TP:

Dennoch sind Sie kolossal missverstanden worden.

Schabowski:

Es war nicht das Missverständnis der Menschen, das obwaltete.
Ich war mit meiner Bekanntgabe der Regierungsverordnung, der Ministerialbürokratie um einige Stunden vorausgeeilt. Die hatte erst morgens um vier durch einen Rundfunksprecher die Kunde in die Welt setzen wollen. Ich konnte aber – das vom Innenminister übergebene Papier in der Hand, das auf Weisung von uns, den Entmachtern Honeckers zustande gekommen war – begründet voraussetzen, dass seitens der Regierung bzw. des Innenministeriums alle Vorkehrungen für dieses „Sofort“ getroffen waren. Das war der Hintergrund für die verworrene Szene.

TP:

Mehr chaotisch als verworren.

Schabowski:

Dennoch bleibt es ein Wunder, dass es an den Grenzübergangsstellen nicht zu Zusammenstößen zwischen den noch nicht informierten Grenzposten und der rasch wachsenden Zahl der Bürger gekommen ist, die erwarteten, eine geöffnete Grenze passieren zu können.

TP:

Wieso war überhaupt das Stellen von Anträgen für Privatreisen vorgesehen? Wer vorgehabt hätte, nicht mehr wiederzukommen, hätte das auch getan, wenn seiner Reise ein genehmigter Antrag vorausgegangen wäre. Oder hatte man doch irgendwo im Hinterkopf, gewisse Personen von vornherein auszufiltern?

Schabowski:

Es ging nicht mehr um irgendwelche Ausfilterungs-Kniffe und es konnte auch nicht mehr darum gehen. Nicht zuletzt dadurch waren wir ja in diese Lage gekommen. Wir brauchten Druckentlastung. Deshalb entschieden wir uns für die nach unseren Vorstellungen weitestgehende Lösung. Allerdings war sie noch immer von der widersinnigen Praxis bestimmt, wie sie in allen Ostblockländern geübt wurde – in Moskau selbst unter Gorbatschow noch bis in den Anfang der 90er Jahre: Die Bürger mussten mit Ausreise-Visa ausgestattet sein. Mit anderen Worten, sie mussten die Erlaubnis des Staates einholen, um herauszukommen. In demokratischen Ländern genügt es, einen Pass zu haben, Ein Visum benötigt man nur von dem Land, in das man einreisen will.

TP:

Wenn die Menschen am 9. November 1989 nicht sofort zur Mauer gelaufen wären, wie lange hätte es damals gedauert, bis auf ihre Anträge die Privatreisen ins westliche Ausland genehmigt wären? Wie sah es mit den Ausführungsvorschriften seinerzeit aus?

Schabowski:

Das Innenministerium war von uns angewiesen worden, eine Reiseregelung und die dazu erforderliche Verfahrensweise ohne bürokratische Prozeduren zu praktizieren. Ein Stempel in den Personalausweis sollte genügen, solange noch nicht Pässe in ausreichender Menge zur Verfügung standen.

TP:

Zur Erinnerung: Die von Ihnen 1989 abgegebene Presseerklärung, die Sie von Egon Krenz im Zentralkomitee zwischen Tür und Angel erhalten haben, war mit einer Sperrfrist versehen. Hätte eine deutliche Angabe dieser Sperrfrist in der Pressekonferenz den Fall der Mauer erheblich verzögert und die Einigung beider deutscher Staaten wäre wesentlich später erfolgt?

Schabowski:

Die von mir verlesene Regierungsverordnung trug keinen Sperrfrist-Vermerk.

TP:

So wird es jedenfalls bis heute kolportiert.

Schabowski:

Man kann sich davon in Hans-Hermann Hertles Buch über den Mauerfall an Hand eines Faksimiles überzeugen. Möglicherweise war ein solches „Embargo“ auf einem anderen Dokument verfügt, das die Durchführungsbestimmungen enthielt. Das war mir nicht vorgelegt worden.

TP:

Woraus entsprang denn nun Ihr „Sofort…, unverzüglich“?

Schabowski:

Ich musste, wie gesagt, davon ausgehen, dass alle beteiligten Ausführer schon in den Startlöchern steckten.

Die Auswirkung einer derartigen Nachricht, auch wenn sie ein paar Stunden später verbreitet worden wäre, hätte keine andere Wirkung zur Folge gehabt. Der Ansturm auf die Grenze hätte so oder so stattgefunden. Nicht ein Uhrzeiger entschied darüber, sondern der Wille, die Stimmung der Menschen. Kein Zugeständnis von unserer Seite half mehr, uns zu stabilisieren, Im Gegenteil, es verstärkte nur den Druck auf uns. Das war die Logik dieser Tage, die gegen unser Wunschdenken wirkte. Das SED-Regime war am Ende. Wie bald danach sich die Vereinigung vollziehen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Aber dass sie folgen würde, sollte in den folgenden Wochen und Monaten offenbar werden.

TP:

Welcher Gang der Dinge wurde vom Politbüro oder Zentralkomitee erwartet, wenn Ihr „sofort…, unverzüglich“ nicht gefallen wäre?

Schabowski:

Das Politbüro sowie das Zentralkomitee verfügten noch weniger als andere über die Gabe der Voraussicht. Wie sollten ausgerechnet sie, die blockierenden Elemente in dieser Entwicklung, die Auswirkungen meiner Mitteilung mit konkreten Erwartungen verbinden. Die bangten nur noch, in welches Loch sie wohl fallen würden. Insofern zielt Ihre Frage auf eine Hypothese ohne Wert.

Die paar verspäteten Gorbatschow-Nachahmer in der SED-Führung spekulierten darauf, dass die Bundesrepublik nicht das Fassungsvermögen haben würde, um plötzlich hunderttausende DDR-Emigranten aufzunehmen. Das würde die mögliche Ausreisewelle bald abebben lassen. Und wir hätten dann die Zeit, uns bei den Menschen als Reformer von einiger Dauer zu empfehlen. Das ist, kurz gesagt, unsere Illusion gewesen.

TP:

Am sog. Checkpoint-Charlie wurde die Mauer wieder als Touristenattraktion aufgebaut. Macht sich hier ein „ahistorischer Jahrmarktscharakter“ breit, wie der Bürgermeister von Berlin-Mitte, Joachim Zeller (CDU), das in etwa nannte?

Schabowski:

Ich maße mir nicht die Kompetenz an, über die angemessenste Art und Weise der Erinnerung an DDR-Unrecht und an die Opfer diese Unrechts zu urteilen. Das muss den Vertretern der Opposition in der DDR, den Angehörigen der Opfer und den Opferverbänden überlassen sein. Immerhin hat Frau Hildebrandt…

TP: … die Leiterin des Museums am Checkpoint-Charly in Berlin…

Schabowski:

…mit ihrer Initiative eine Debatte und ein Nachdenken über die jüngste Geschichte angestoßen, wie man es nicht mehr für möglich gehalten hätte. Schon das ist von Nutzen.

TP:

Durch Hartz IV und stagnierendes Wirtschaftswachstum sehen sich viele, besonders in der ehemaligen DDR, in ihrer Existenz bedroht bzw. gefährdet und haben die sogenannten Montagsdemos wieder aktiviert. Angemessene Reaktion oder Missbrauch des ursprünglichen Zwecks der Montagsdemos?

Schabowski:

Mir kommt bei Ihrer Frage der Gedanke, dass man sich vor falschen Analogien und geschichtlicher Bigotterie hüten sollte. Die Protestierer von heute haben „die“ Montagsdemos weder reaktiviert noch reklamiert. Die Montagsdemos von einst waren Bekundungen des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung der Bürger unter den gefährlichen Bedingungen noch herrschender Unfreiheit.

TP:

Und heute?

Schabowski:

Wenn Menschen, die an dieser traditionellen Willensäußerung anknüpfen, weil sie sich heute sozial bedrängt und benachteiligt sehen, wollte ich nichts dagegen einwenden. Keine Eintrittserlaubnis nötig! Es ist ja auch nicht auszuschließen, dass sich Protestierer von vor 15 Jahren unter den heutigen befinden. Man kann letztlich aus allem ebenso schlussfolgern, welchen Rang die Aktionen von damals für die heutigen haben.
Unerträglich ist es allerdings, wenn sich die PDS in die Montagsdemos einschleicht und mit ihren Plakaten dekoriert. Für mich ist das doppelbödiger Etikettenschwindel.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur Berlin

Foto: Günter Schabowski 1996 auf der Anklagebank in Berlin-Moabit

Bildquelle: TP Presseagentur Berlin/gerald wesolowski

Günter Schabowskis Pressekonferenz am 9. November 1989: https://www.youtube.com/watch?v=SAEhZZ31UQc