Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg

Urteil vom 22. März 2001 – Beschwerden-Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98 – Streletz, Keßler und Krenz gegen Deutschland

Schießbefehl an der Mauer / Strafrechtliche Verurteilung der Befehlsgeber für Tötung unbewaffneter Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft bestätigt / Krenz u.a. gegen Deutschland

Sachverhalt:

Die drei Beschwerdeführer (Bf.) waren hohe Amtsträger der DDR, nämlich Fritz Streletz, stellvertretender Verteidigungsminister, Heinz Keßler, Verteidigungsminister und Egon Krenz, Staatsratsvorsitzender. Sie sind nach der Wiedervereinigung von den deutschen Gerichten zu Freiheitsstrafen von je 5 1/2 Jahren, 7 1/2 Jahren und 6 1/2 Jahren wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt worden. Wegen ihrer Mitwirkung an Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrats oder des Politbüros über die Gestaltung des Grenzregimes der DDR wurden sie für den Tod mehrerer Personen verantwortlich gemacht, die zwischen 1971 und 1989 versucht hatten, die DDR über die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu verlassen. Die Verurteilung der Bf. Streletz und Keßler erfolgte durch das Landgericht Berlin am 16. September 1993 aufgrund des zur Tatzeit anwendbaren Strafrechts der DDR (Anstiftung zum Mord gem. § 22 Abs. 2 Ziff. 1 und § 112 Abs. 1 StGB-DDR), wobei der von ihnen geltend gemachte Rechtfertigungsgrund gem. § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR nicht anerkannt wurde, weil die darauf gestützte Staatspraxis „offensichtlich und unerträglich gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstoßen“ habe. Zum Zwecke der Strafbemessung wurde die Tat sodann nach dem milderen Recht der Bundesrepublik als Anstiftung zum Totschlag qualifiziert (§§ 26 und 212 Abs. 1 StGB). Geschäftsnummer des Urteils des Landgerichts ist (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92).
Dieses Urteil wurde vom Bundesgerichtshof am 26. Juli 1994 im wesentlichen bestätigt (Aktenzeichen 5 StR 98/94). Der Bundesgerichtshof bestätigte insbesondere die Auslegung des DDR-Strafrechts durch das Landgericht einschließlich der Nichtanerkennung des auf § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR gestützten Rechtfertigungsgrundes. Diesbezüglich verwies er auf sein Urteil vom 3. November 1992 – 5 StR 370/92 (EuGRZ 1993, 37 ff.), wonach dieser Rechtfertigungsgrund, so wie er in der damaligen Staatspraxis, vermittelt durch die Befehlslage, gehandhabt worden sei, den Zweck gehabt habe, das bedingt oder unbedingt vorsätzliche Töten von Personen zu decken, die nichts weiter gewollt hätten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgrundsätze die Grenze zu überschreiten. Die Durchsetzung des Verbots, die Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten, habe Vorrang vor dem Lebensrecht der Menschen gehabt. Unter diesen besonderen Umständen sei der Rechtfertigungsgrund, wie er sich in der Staatspraxis darstellte, bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten. Bei der Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB genüge es für die Unbeachtlichkeit allerdings nicht, daß ein Rechtfertigungsgrund des zur Tatzeit geltenden Rechts gegen den ordre public der Bundesrepublik Deutschland verstoßen habe. Er könne vielmehr nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck komme; der Verstoß müsse so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit müsse so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe. Dieser in der Radbruchschen Formel umschriebene Maßstab, der zur Beurteilung schwerster nationalsozialistischer Gewaltverbrechen herangezogen worden sei, gelte auch für die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze, obwohl diese nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden könne. Heute seien konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen. Die internationalen Menschenrechtspakte böten Anhaltspunkte dafür, wann ein Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletze. Von besonderer Bedeutung seien in diesem Zusammenhang Art. 12 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Das darin bezeichnete Menschenrecht auf Ausreisefreiheit sei durch das Grenzregime der DDR schon deshalb verletzt worden, weil den Bewohnern der DDR das Recht auf freie Ausreise nicht nur im Ausnahmefall, sondern in aller Regel vorenthalten worden sei. Das Grenzregime habe auch im Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3 des Paktes gestanden, wonach jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben und dieses Rechts nicht willkürlich beraubt werden dürfe. Ungeachtet der Unschärfe des Begriffs der Willkür sei dessen Grenze jedenfalls dann überschritten, wenn der Schußwaffengebrauch dem Zweck dienen sollte, Dritte vom unerlaubten Grenzübertritt abzuschrecken. Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes sei nicht verletzt. Rechtfertigungsgründe seien zwar nicht generell vom Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen. Nicht zu folgen sei jedoch der Auffassung, auch ein zur Tatzeit praktizierter Rechtfertigungsgrund, der übergeordneten Normen widersprochen habe, dürfe nach dieser Vorschrift nicht zum Nachteil eines Angeklagten außer Betracht bleiben. Dem richtig interpretierten § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR hätte unter Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gezogenen Grenzen und im Lichte der Verfassung der DDR und der von ihr eingegangenen völkerrechtlichen Bindungen schon zum Tatzeitpunkt ein Rechtfertigungsgrund für Fälle der vorliegenden Art nicht entnommen werden dürfen. Die Schutzrichtung von Art. 103 Abs. 2 GG werde also im vorliegenden Fall nicht verfehlt: Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt werde, sei nicht schutzwürdig. Bezüglich der Qualifizierung der Tat nach bundesdeutschem Strafrecht vertrat der Bundesgerichtshof jedoch eine vom Landgericht abweichende Auffassung. Die Bf. seien als mittelbare Täter des Totschlags anzusehen (§ 25 i.V.m. § 212 StGB). Die beiden Bf. legten hierauf Verfassungsbeschwerde ein, über die das Bundesverfassungsgericht am 24. Oktober 1996 entschied (BVerfGE 95,96 = EuGRZ 1996, 538).
Das Bundesverfassungsgericht entschied, Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes sei nicht verletzt. Das in dieser Bestimmung niedergelegte Rückwirkungsverbot sei absolut und erfülle seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung. Es gebiete auch, einen bei Begehung der Tat gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, auch wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist. Ob und inwieweit Art. 103 Abs. 2 GG auch das Vertrauen in den Fortbestand ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in gleicher Weise schützt, wurde jedoch nicht abschließend entschieden. Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. GG finde seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen Gesetzgeber erlassen werden. An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehle es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließe, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordere, es begünstige und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachte. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG müsse dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten. Zwar treffe es zu, daß die gesetzlichen Vorschriften der DDR, soweit sie den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze regelten, den Vorschriften der Bundesrepublik über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut entsprachen. Die in den angegriffenen Urteilen getroffenen Feststellungen ergäben jedoch, daß die Gesetzeslage von Befehlen überlagert war, die für eine Eingrenzung des Schußwaffengebrauchs nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinerlei Raum ließen und den Angehörigen der Grenztruppen vor Ort die Auffassung ihrer Vorgesetzten, letztlich des Nationalen Verteidigungsrates, vermittelten, Grenzverletzer seien zu „vernichten“, wenn der Grenzübertritt mit anderen Mitteln nicht verhindert werden könne. Die Unterordnung des Lebensrechts des Einzelnen unter das staatliche Interesse an der Verhinderung von Grenzübertritten habe zur Hintansetzung des geschriebenen Rechts gegenüber den Erfordernissen politischer Zweckmäßigkeit geführt und sei materiell schwerstes Unrecht gewesen. Zur Begründung der Strafbarkeit bedürfe es hier nicht des Rückgriffs auf überpositive Rechtsgrundsätze. Vielmehr lasse sich an die Wertung anknüpfen, welche die DDR selbst ihren Strafvorschriften zugrunde gelegt hatte. Auch die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Qualifizierung der Tat als Totschlag in mittelbarer Täterschaft sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes schließe nicht aus, in einem zweiten Schritt das Recht der Bundesrepublik als Recht des Tatortes (Erfolgsortes) bzw. als das mildere Recht anzuwenden.
Der dritte Bf. wurde am 25. August 1997 vom Landgericht Berlin wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft in vier Fällen der Anwendung des Schießbefehls verurteilt (§ 25 i.V.m. § 212 Abs. 1 StGB). Seine Revision wurde am 27. Oktober 1999 vom Bundesgerichtshof in allen Punkten abgewiesen. Seine Verfassungsbeschwerde wurde am 12. Januar 2000 von einer Kammer (3 Richter) des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen, wobei auf die Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 im Fall Streletz und Keßler verwiesen wurde.

Entscheidungsgründe:
(Übersetzung der EuGRZ)

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 Abs. 1 der Konvention

46. Die Beschwerdeführer (Bf.) machten geltend, daß die Handlungen, derentwegen sie strafrechtlich verfolgt worden waren, zur Zeit ihrer Begehung weder nach dem Recht der DDR noch nach Völkerrecht Straftaten darstellten und daß ihre Verurteilung durch die deutschen Gerichte deshalb gegen Art. 7 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Diese Bestimmung lautet:

„Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“

A. Argumente der Parteien

1. Die Beschwerdeführer

47. Nach Ansicht der Bf. war ihre Verurteilung nach der Wiedervereinigung Deutschlands nicht vorhersehbar, im übrigen seien sie in der DDR niemals strafrechtlich belangt worden. Sie behaupteten, sogar die deutschen Gerichte hätten eingeräumt, sie seien seinerzeit wegen der ihnen nunmehr zur Last gelegten Taten nur deshalb nicht verfolgt worden, weil diese nach dem Strafrecht der DDR unter Berücksichtigung des Wortlauts von § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR keine Straftaten darstellten. Die nachträgliche Auslegung des Strafrechts der DDR durch die Gerichte des wiedervereinigten Deutschlands fände keinerlei Stütze in der Rechtsprechung der Gerichte der DDR und sei für die Bf. zur Zeit der Vorgänge, die zu ihrer Anklage führten, in keiner Weise vorhersehbar gewesen. Es handle sich daher nicht um eine schrittweise Entwicklung der Auslegung des DDR-Rechts, sondern vielmehr um eine vollständige Weigerung, die von den Bf. geltend gemachten Rechtfertigungsgründe anzuerkennen, und zwar deshalb, weil diese gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstießen (Radbruchsche Formel des „gesetzlichen Unrechts“). Im übrigen sei die Errichtung des Grenzsicherungssystems von wesentlicher Bedeutung für die Sicherung des Fortbestehens der DDR gewesen. Während alle drei Bf. behaupten, sie hätten das DDR-Recht nicht verletzt, bringt der dritte Bf. [Krenz] überdies vor, daß im Jahre 1983, als er Mitglied des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates wurde, der Verteidigungsrat bereits beschlossen hatte, die Minen und Selbstschußanlagen abzubauen. Er sei daher nur wegen des Schußwaffengebrauchs von Grenzsoldaten verurteilt worden. Aber auch diese Verurteilung sei ungerechtfertigt gewesen, da er an keiner einzigen Sitzung des Politbüros oder des Nationalen Verteidigungsrates teilgenommen habe, in welcher ein ausdrücklicher Befehl zu dem Schußwaffengebrauch an der Grenze beschlossen worden war.
Die Bf. behaupten ferner, die inkriminierten Handlungen hätten auch keine Straftaten nach internationalem Recht dargestellt. Zu dem von der DDR ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte [IPBPR] führen sie aus, daß die DDR von keinem internationalen Organ wegen einer Verletzung von dessen Bestimmungen gerügt worden sei und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, bestehe ein wesentlicher Unterschied zwischen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit eines Staates einerseits und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Individuums nach internationalem Strafrecht andererseits. Auch sei in der Mehrzahl der Staaten der Zugang zur Grenze verboten oder streng geregelt, wobei der Schußwaffengebrauch durch Grenzorgane bei Nichtbefolgung eines Zurufs erlaubt sei.

2. Die Regierung

48. Die Regierung macht geltend, daß es für die Bf. als führende Repräsentanten der DDR ohne weiteres erkennbar war, daß das Grenzregime in seiner beispiellosen Perfektion und dem in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch Menschen betraf, denen aufgrund einer die Ausreise regelmäßig und ohne Begründung versagenden Verwaltungspraxis verwehrt wurde, aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands und insbesondere Berlins zu reisen. Daher war es ihnen auch möglich zu erkennen, daß die Tötung von unbewaffneten Flüchtlingen an der Grenze, die keine Bedrohung für irgend jemanden darstellten, trotz der gegenteiligen Staatspraxis in der DDR möglicherweise nach den gesetzlichen Vorschriften strafbar war. Insbesondere sei es wegen der die innerdeutsche Grenze überschreitenden familiären Bindungen und anderen Kontakten für jedermann vorhersehbar gewesen, daß bei einer Änderung der politischen Verhältnisse die entsprechenden Taten als strafbar angesehen werden könnten.
Nach Ansicht der Regierung haben die deutschen Gerichte daher eine legitime Auslegung des Rechts der DDR vorgenommen. Bei richtiger Anwendung der vorgegebenen Rechtsvorschriften der DDR, Berücksichtigung der jedenfalls nach Ratifikation des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte gegebenen völkerrechtlichen Verpflichtung der DDR-Staatsorgane und allgemeiner menschenrechtlicher Grundsätze einschließlich vor allem des Schutzes des Rechts auf Leben hätten die DDR-Gerichte ihre Rechtsvorschriften rechtmäßigerweise in gleicher Weise auslegen müssen. Es komme dabei nicht darauf an, ob der Zivilpakt in die DDR-Gesetzgebung umgesetzt worden ist.

B. Erwägungen des Gerichtshofs

1. Allgemeine Grundsätze

49. Der Gerichtshof bekräftigt zunächst die in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts.
Nach Art. 19 der Konvention ist es zwar die Pflicht des Gerichtshofs, die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in der Konvention übernommen haben, doch ist es nicht seine Aufgabe, angebliche Fehler der nationalen Gerichte bei der Tatsachenfeststellung oder Rechtsanwendung zu überprüfen, außer in dem Umfang, als dadurch in der Konvention geschützte Rechte und Freiheiten beeinträchtigt worden sein können (vgl. nebst vielen anderen Belegen das Urteil Schenk gegen Schweiz vom 12. Juli 1988, Série A Nr. 140, S. 29, Ziff. 45 = EuGRZ 1988, 390).
Zudem obliegt die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts in erster Linie den nationalen Behörden, vor allen den Gerichten (vgl. sinngemäß Urteil Kopp gegen Schweiz vom 25. März 1998, Reports of Judgments and Decisions 1998-II, S. 541, Ziff. 59).
50. Sodann erinnert der Gerichtshof an die Grundsätze, die er in der Rechtsprechung zu Art. 7 der Konvention entwickelt hat, insbesondere in den Urteilen vom 22. November 1995 in den Fällen S. W. und C.R. gegen das Vereinigte Königreich (Série A Nr. 335-B, S. 41-42, Ziff. 34-36 bzw. 335-C, S. 68 und 69, Ziff. 32-34).

„Die in Art. 7 enthaltene Garantie, die ein wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit darstellt, nimmt im Schutzsystem der Konvention eine herausragende Stellung ein, was schon dadurch unterstrichen wird, daß nach Art. 15 auch im Fall eines Krieges oder anderen öffentlichen Notstandes keine Abweichung davon erlaubt ist. Wie sich aus dem Ziel und Zweck dieser Garantie ergibt, muß sie in einer solchen Weise ausgelegt und angewendet werden, daß sie einen wirksamen Schutz gegen willkürliche Strafverfolgung, Verurteilung und Bestrafung ergibt.
Demgemäß ist Art. 7, wie der Gerichtshof im Urteil Kokkinakis gegen Griechenland vom 25. Mai 1993 (Série A Nr. 260-A, S. 22, Ziff. 52) festgestellt hat, nicht darauf beschränkt, eine rückwirkende Anwendung des Strafrechts zum Nachteil des Angeklagten auszuschließen: er enthält auch den allgemeineren Grundsatz, daß Straftatbestände und Strafen nur durch Gesetz festgelegt werden dürfen (nullum crimen, nulla poena sine lege) sowie den Grundsatz, daß das Strafrecht nicht zum Nachteil des Angeklagten weit ausgelegt werden darf, z.B. durch Analogieschlüsse. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, daß ein Straftatbestand im Gesetz eindeutig definiert werden muß. In seinem vorgenannten Urteil hat der Gerichtshof hinzugefügt, daß dieses Erfordernis dann erfüllt ist, wenn der Einzelne aus dem Wortlaut der relevanten Bestimmung, falls nötig unter Zuhilfenahme der gerichtlichen Auslegung derselben, erkennen kann, welche Handlungen oder Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Folge haben. Der Gerichtshof hat somit klargestellt, daß der Begriff „Recht“ (law/droit) in Art. 7 auf dasselbe Konzept verweist, das für die Verwendung desselben Ausdrucks in anderen Konventionsbestimmungen gilt; dieses Konzept umfaßt sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht und setzt gewisse qualitative Merkmale voraus, insbesondere Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit (vgl. das Urteil vom 13. Juli 1995 im Fall Tolstoy Miloslavsky gegen Vereinigtes Königreich, Série A Nr. 316-B, S. 71-72, Ziff. 37).
Wie eindeutig eine Rechtsvorschrift auch formuliert sein mag, auf jedem Rechtsgebiet einschließlich des Strafrechts, ist notwendigerweise ein Element gerichtlicher Auslegung mitenthalten. Es wird daher stets ein Bedürfnis nach der Klärung von Zweifelsfragen und nach Anpassung an geänderte Umstände bestehen. In den Konventionsstaaten ist die allmähliche Entwicklung des Strafrechts durch Richterspruch ein fest etablierter und notwendiger Teil der Rechtstradition. Art. 7 der Konvention kann nicht in dem Sinne verstanden werden, daß er die schrittweise Klarstellung der Regeln für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung im Einzelfall verhindern will, vorausgesetzt, daß die dadurch bewirkte Fortentwicklung des Rechts mit dem Wesensgehalt des jeweiligen Straftatbestandes übereinstimmt und ausreichend vorhersehbar ist.“

2. Anwendung der obigen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

51. Im Lichte der obigen Grundsätze betreffend den Umfang seiner Überprüfungsbefugnis stellt der Gerichtshof fest, daß es nicht seine Aufgabe ist, eine Entscheidung über die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bf. zu treffen, denn dies obliegt in erster Linie der Beurteilung durch die innerstaatlichen Gerichte; vielmehr muß er im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 der Konvention prüfen, ob die Handlungen der Bf. zum Zeitpunkt ihrer Begehung Straftaten darstellten, welche vom Recht der DDR oder vom internationalen Recht mit einem ausreichenden Grad von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit definiert waren.
52. In diesem Zusammenhang ist auf eine Besonderheit des vorliegenden Falles zu verweisen, nämlich daß er vor dem Hintergrund der Rechtsüberleitung zwischen zwei Staaten mit verschiedenen Rechtssystemen zu sehen ist und daß die deutschen Gerichte die Bf. nach der Wiedervereinigung wegen Straftaten verurteilt haben, die sie als führende Politiker der DDR begangen haben.

(A) Nationales Recht

i. Die Rechtsgrundlage der Verurteilung der Bf.

53. Der Gerichtshof stellt fest, daß die deutschen Gerichte die Bf. zunächst auf der Basis des in der DDR zur Tatzeit geltenden Strafrechts (§ 22 Abs. 2 und § 112 Abs. 1 StGB-DDR) einer Anstiftung zum Mord für schuldig befanden. Nach Verwerfung der von den Bf. geltend gemachten Rechtfertigungsgründe – die sich auf die Gesetzeslage und die Praxis der DDR bezogen – befanden sie, daß die Bf. wegen der Spitzenpositionen, die sie im Staatsapparat der DDR bekleidet hatten, mitverantwortlich für den Tod mehrerer Personen im Alter zwischen 18 und 28 Jahren waren, die zwischen 1971 und 1989 versucht hatten, die DDR über die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu verlassen. Die Gerichte wandten dann das im Verhältnis zum Strafrecht der DDR mildere Strafrecht der Bundesrepublik an und verurteilten die Bf. wegen mehrerer Fälle von Totschlag in mittelbarer Täterschaft (§§ 25 und 212 StGB) zu Haftstrafen von 5 1/2, 7 1/2 bzw. 6 1/2 Jahren.
54. Hierbei wandten die deutschen Gerichte den im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 bzw. im Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 niedergelegten Grundsatz an, wonach auf Straftaten, die von Staatsbürgern der DDR auf DDR-Gebiet begangen wurden, DDR-Recht anzuwenden ist, außer im Fall, daß das Recht der Bundesrepublik das mildere Recht (lex mitius) darstellt.
55. Die Rechtsgrundlage für die Verurteilung der Bf. war daher das zur Tatzeit geltende Strafrecht der DDR, und ihre Strafen entsprachen grundsätzlich den in den relevanten Bestimmungen der DDR-Gesetzgebung niedergelegten Strafsätzen; im Ergebnis wurden über die Bf. jedoch, wegen der Anwendung des Grundsatzes des milderen Rechts, nämlich des Rechts der Bundesrepublik Deutschland, geringere Strafen verhängt.

ii. Rechtfertigungsgründe nach DDR-Recht

56. Die Bf. behaupten jedoch unter Berufung auf die in § 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes bzw. § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes vorgesehenen Rechtfertigungsgründe i.V.m. § 213 StGB-DDR, daß sie sich nach DDR-Recht rechtmäßig verhalten hätten und weisen darauf hin, daß sie deswegen in der DDR niemals strafrechtlich belangt wurden.
57. Da der Begriff „Recht“ in Art. 7 Abs. 1 der Konvention sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht umfaßt, muß der Gerichtshof sich zunächst den Vorschriften des geschriebenen DDR-Rechts zuwenden, um zu prüfen, ob die Auslegung dieser Vorschriften durch die deutschen Gerichte mit Art. 7 Abs. 1 in Einklang zu bringen ist. Im Lichte dieser Konventionsbestimmung muß er sodann weiters die Natur der Staatspraxis der DDR prüfen, die zur maßgeblichen Zeit diese Rechtsvorschriften überlagert hat.
58. Da die relevanten Vorgänge sich zwischen 1971 und 1989 ereigneten, umfaßten die damals geltenden Vorschriften des geschriebenen Rechts insbesondere das StGB-DDR in den Fassungen von 1968 und 1979, das Volkspolizeigesetz 1968, das durch das Grenzgesetz 1982 abgelöst wurde, sowie die Verfassung der DDR in den Fassungen von 1968 und 1974.
59. Es trifft zu, daß § 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes und § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes die Anwendung von Schußwaffen rechtfertigten, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“ oder wenn sie „zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind“ diente. Der Begriff „Verbrechen“ war in § 213 Abs. 3 StGB-DDR niedergelegt, worin die schweren Fälle eines ungesetzlichen Grenzübertritts aufgelistet waren. Ein schwerer Fall lag insbesondere vor, wenn die Tat „Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet“ hat, „unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt“ ist, „mit besonderer Intensität durchgeführt“ oder „zusammen mit anderen begangen“ worden ist.
60. § 17 des Volkspolizeigesetzes und § 27 des Grenzgesetzes enthielten somit eine erschöpfende Aufzählung der Bedingungen, unter denen der Schußwaffengebrauch erlaubt war. In Absatz 4 bzw. 5 dieser Grenzbestimmungen war ferner vorgesehen: „Bei der Anwendung von Schußwaffen ist das Leben der Person nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist … Erste Hilfe zu erweisen.“ § 27 Abs. 1 bestimmte: „Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme bei Gewaltanwendung gegenüber Personen“ und § 27 Abs. 4: „Gegen Jugendliche … sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden“. Außerdem qualifizierte § 119 StGB-DDR die Verletzung der Pflicht zur Hilfeleistung als Straftat.
61. Diese Bestimmungen, welche somit ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Grundsatz der Erhaltung menschlichen Lebens miteinschlossen, müssen auch im Lichte der in der Verfassung der DDR selbst niedergelegten Grundsätze gesehen werden. Art. 89 Abs. 2 der Verfassung sah vor: „Rechtsvorschriften dürfen der Verfassung nicht widersprechen.“ Art. 19 Abs. 2: „Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger.“ Und schließlich Art. 30 Abs. 1 und 2: „Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik sind unantastbar.“ „… Rechte solcher Bürger [dürfen] nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist.“
62. Ferner enthielt das erste Kapitel des besonderen Teils des Strafgesetzbuches der DDR die folgende Erklärung: „Die unnachsichtige Bestrafung von Verbrechen gegen … den Frieden, die Menschlichkeit, die Menschenrechte … ist unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Friedensordnung in der Welt und für die Wiederherstellung des Glaubens an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und für die Wahrung der Rechte jedes einzelnen.“
63. Im vorliegenden Fall haben die deutschen Gerichte die Bf. wegen ihrer Verantwortlichkeit für den Tod mehrerer Personen verurteilt, die versucht hatten, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten oft nur mit rudimentären Hilfsmitteln wie z.B. Leitern zu überqueren. Sie waren überwiegend sehr jung (der jüngste war 18 und vier weitere waren nur 20 Jahre alt), sie waren unbewaffnet und stellten für niemanden eine Gefahr dar, da es ihr einziges Ziel war, die DDR zu verlassen, was damals für gewöhnliche Bürger außer Rentnern und einigen wenigen privilegierten Personen auf legalem Wege fast unmöglich war (vgl. die DDR-Bestimmungen über die Ausstellung von Pässen und Visa). Der versuchte Grenzübertritt konnte daher, obwohl er gegen DDR-Recht verstieß, nicht als Verbrechen qualifiziert werden, da bei keinem einzigen dieser Versuche die Voraussetzungen eines schweren Falles im Sinne des § 213 Abs. 3 StGB-DDR vorlagen.
64. Im Lichte der oben erwähnten Grundsätze der Verfassung und der anderen Rechtsvorschriften der DDR ist der Gerichtshof der Auffassung, daß die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte auf der Grundlage ihrer Auslegung der obigen Bestimmungen und ihrer Anwendung auf den jeweiligen Fall dem ersten Anschein nach weder willkürlich war noch gegen Art. 7 Abs. 1 der Konvention verstieß.
65. Es trifft allerdings zu, daß die deutschen Gerichte bezüglich der Auslegung der von den Bf. insbesondere auf der Grundlage des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR geltend gemachten Rechtfertigungsgründe unterschiedliche Auffassungen vertraten.
Das Landgericht Berlin ließ diese Rechtfertigungsgründe nicht gelten, weil sie offensichtlich und unerträglich „gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstoßen“.
Der Bundesgerichtshof vertrat die Ansicht, dem richtig interpretierten § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes hätte unter Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gezogenen Grenzen und im Lichte der Verfassung der DDR und der von ihr eingegangenen völkerrechtlichen Bindungen schon zum Tatzeitpunkt ein Rechtfertigungsgrund der vorliegenden Art nicht entnommen werden dürfen.
Das Bundesverfassungsgericht schließlich führte aus: „In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot der materiellen Gerechtigkeit , das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Rechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz muß dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten.“
66. Da jedoch die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten obliegt, braucht der Gerichtshof sich zu diesen verschiedenen Standpunkten, die die rechtliche Komplexität des Falles aufzeigen, nicht zu äußern. Es genügt, daß der Gerichtshof zu dem Schluß gelangt, daß die Entscheidung der deutschen Gerichte im Ergebnis nicht gegen die Konvention und insbesondere nicht gegen Art. 7 Abs. 1 verstoßen hat.

iii. Aus der DDR-Staatspraxis abgeleitete Rechtfertigungsgründe

67. Da der Begriff „Recht“ in Art. 7 Abs. 1 der Konvention auch ungeschriebenes Recht umfaßt, muß der Gerichtshof vor einer weiteren Prüfung der Begründetheit der Beschwerden auch die Natur der Staatspraxis der DDR untersuchen, die zum maßgeblichen Zeitpunkt die Vorschriften des geschriebenen Rechts überlagert hat.
68. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß zur Zeit der Begehung der Straftaten keiner der Bf. deswegen in der DDR strafrechtlich verfolgt worden ist. Dies ergab sich aus dem Widerspruch zwischen den in den DDR-Verfassung und -Gesetzgebung niedergelegten Grundsätzen einerseits, welche den Grundsätzen eines Rechtsstaates sehr nahe kamen, und der repressiven Praxis des Grenzsicherungssystems der DDR sowie der zum Schutz der Grenze ausgegebenen Befehle andererseits.
69. Um den endlosen Flüchtlingsstrom einzudämmen, errichtete die DDR am 13. August 1961 die Berliner Mauer und verstärkte sämtliche Sicherheitsmaßnahmen entlang der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten durch Minen und automatische Selbstschußanlagen. Außerdem wurden die Grenztruppen angewiesen, „Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten“. Die im Einsatz befindlichen Grenzposten wußten, daß sie bei gelungenen Grenzdurchbrüchen mit einem Ermittlungsverfahren durch den Militärstaatsanwalt rechnen mußten; im gegenteiligen Fall durften sie auf eine Belobigung hoffen.
70. Wie die deutschen Gerichte feststellten, waren die erwähnten Maßnahmen und Befehle unstrittig von den in Art. 73 der DDR-Verfassung genannten Regierungsorganen, nämlich dem Staatsrat und dem Nationalen Verteidigungsrat, beschlossen worden, dem die Bf. angehört hatten: Der erste Bf. (Streletz) war seit 1971 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates gewesen, der zweite (Keßler) schon seit 1967; der dritte Bf. (Krenz) war seit 1973 Mitglied des Zentralkomitees der SED, seit 1981 Mitglied des Staatsrates und seit 1983 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates.
71. Das Ziel der erwähnten, von den Bf. durchgesetzten Staatspraxis war es also gewesen, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten „um jeden Preis“ zu schützen, um den Bestand der DDR zu erhalten, welche durch den massiven Exodus ihrer eigenen Bevölkerung bedroht war.
72. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, daß die somit geltend gemachte Staatsräson durch die in der Verfassung und Gesetzgebung der DDR selbst proklamierten Grundsätze auf Schranken treffen mußte; vor allem mußte sie die Notwendigkeit der Erhaltung menschlichen Lebens berücksichtigen, die sich aus der Verfassung der DDR, dem Volkspolizeigesetz und aus dem Grundgesetz ergab, wobei auch zu berücksichtigen ist, daß schon damals das Recht auf Leben international den höchsten Wert in der Rangordnung der Menschenrechte darstellte (s.u. Ziff. 94).
73. Der Gerichtshof ist der Auffassung, daß der Rückgriff auf Erdminen und Selbstschußanlagen wegen seiner automatischen und unterschiedslosen Wirkung sowie die kategorische Natur des Befehls an die Grenztruppen „Grenzverletzer zu vernichten und die Grenze unter allen Umständen zu sichern“ krasse Verletzungen der in den Art. 19 und 30 der DDR-Verfassung niedergelegten Grundrechte darstellten, die im wesentlichen auch vom StGB-DDR (§ 213) sowie den aufeinanderfolgenden DDR-Grenzgesetzen (§ 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes 1968 und § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes 1982) bekräftigt wurden. Diese Staatspraxis verstieß auch gegen die menschenrechtlichen und anderen internationalen Verpflichtungen der DDR, welche am 8. November 1974 den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert hatte, der ausdrücklich das Recht auf Leben sowie das Recht auf Freizügigkeit anerkennt, welches hier von Relevanz ist, weil es für normale Bürger fast unmöglich war, die DDR auf legalem Wege zu verlassen. Wenn auch die Verwendung von Minen und Selbstschußanlagen um das Jahr 1984 aufhörte, sind doch die Befehle an die Grenztruppen bis zum Fall der Berliner Mauer im November 1989 unverändert in Kraft geblieben.
74. Der Gerichtshof stellt ferner fest, daß die Bf. sich zu ihrer Rechtfertigung auf einen Schießbefehl berufen, den sie selbst an die Grenztruppen ausgegeben hatten und daß sie wegen der darauf beruhenden Praxis verurteilt wurden. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann ein Angeklagter jedoch ein Verhalten, auf dem seine Verurteilung beruht, nicht dadurch rechtfertigen, daß dieses Verhalten, weil es tatsächlich stattgefunden hat, eine Praxis darstellte.
75. Unabhängig von der Verantwortlichkeit der DDR als Staat waren die Handlungen der Bf. als Individuen durch § 95 StGB-DDR als Straftaten qualifiziert, denn schon in der Fassung von 1968, die 1977 beibehalten wurde, lautete diese Bestimmung: „Auf Gesetz, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte … handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich.“
76. Folglich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Bf. für die fraglichen Handlungen individuelle Verantwortung trugen.

iv. Vorhersehbarkeit der Verurteilungen

77. Die Bf. behaupten jedoch, angesichts der Realitäten in der DDR sei ihre Verurteilung durch die deutschen Gerichte nicht vorhersehbar gewesen, es sei ihnen absolut unmöglich gewesen, zu erkennen, daß sie eines Tages wegen veränderter Umstände vor einem Strafgericht zur Verantwortung gezogen würden.

78. Der Gerichtshof findet dieses Argument nicht überzeugend. Das weite Auseinanderklaffen zwischen der Gesetzgebung der DDR und ihrer Praxis war weitgehend von den Bf. selbst herbeigeführt worden. Da sie im DDR-Staatsapparat höchste Spitzenpositionen bekleideten, konnten sie offensichtlich nicht in Unkenntnis über die Verfassung und Gesetzgebung der DDR bzw. ihre internationalen Verpflichtungen und internationale Kritik an ihrem Grenzsicherungssystem sein. Außerdem hatten sie dieses System selbst eingeführt und aufrechterhalten, indem sie die im Gesetzblatt der DDR veröffentlichten gesetzlichen Vorschriften durch geheime Befehle und Dienstanweisungen über die Konsolidierung und Verbesserung der Grenzsicherungsanlagen und über den Gebrauch von Schußwaffen überlagerten. Im Schießbefehl an die Grenztruppen der DDR hatten sie auf der Notwendigkeit bestanden, die Grenzen der DDR „unter allen Umständen“ zu sichern und „Grenzverletzer“ festzunehmen oder sie „zu vernichten“. Die Bf. waren daher für die Lage, die an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten vom Beginn der 60er Jahre bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 bestand, unmittelbar verantwortlich.
79. Darüber hinaus bedeutet der Umstand, daß die Bf. in der DDR nicht strafrechtlich belangt worden waren und von den deutschen Gerichten erst nach der Wiedervereinigung auf der Basis der seinerzeit in der DDR geltenden Rechtsvorschriften angeklagt und verurteilt wurden, keineswegs, daß ihre Handlungen keine Straftaten nach dem Recht der DDR darstellten.
80. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, daß das Problem, mit dem Deutschland nach der Wiedervereinigung konfrontiert war, nämlich wie Personen zu behandeln sind, die unter einem früheren Regime Verbrechen begangen haben, sich auch für eine Reihe anderer Staaten gestellt hat, die zu einem demokratischen Regime übergegangen sind.
81. Nach Ansicht des Gerichtshofes ist es legitim, daß ein Rechtsstaat Strafverfahren gegen Personen einleitet, die unter einem früheren Regime Verbrechen begangen haben; weiters können die Gerichte eines solchen Staates, die an die Stelle der früheren Gerichte treten, nicht deswegen kritisiert werden, weil sie die Rechtsvorschriften, die zur Tatzeit gegolten haben, im Lichte rechtsstaatlicher Grundsätze anwenden und auslegen.
82. Im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 der Konvention erinnert der Gerichtshof hier daran, daß in jeder Rechtsordnung, so eindeutig eine strafrechtliche Bestimmung auch formuliert sein mag, ein Element gerichtlicher Interpretation unvermeidlich hinzukommt. Es wird immer die Notwendigkeit der Klärung von Zweifelsfragen sowie der Anpassung an geänderte Umstände gegeben sein (vgl. die Urteile S. W. und C. R. gegen das Vereinigte Königreich vom 22. November 1995, Série A Nr. 335-B, S. 41-42, Ziff. 34-36 und 335 C, S. 68-69, Ziff. 32-34 – s.o. Ziff. 50). Zwar gilt dieses Konzept grundsätzlich für die allmähliche Entwicklung der Rechtsprechung in einem Rechtsstaat mit einem demokratischen Regime – wie sich aus der Präambel ergibt, sind dies die Angelpunkte des Konventionssystems [s.u. Ziff. 83] -, aber es bleibt auch zur Gänze gültig, wenn, wie hier, ein Fall der Staatensukzession vorliegt.
83. Ein anderes Vorgehen würde den wesentlichen Grundsätzen widersprechen, auf denen das Menschenrechtsschutzsystem der Konvention beruht. Auf diese Grundsätze bezogen sich die Verfasser der Konvention in deren Präambel, wo von der „Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrundeliegenden Menschenrechte gesichert werden“, die Rede ist und wo erklärt wird, daß sie „vom gleichen Geist beseelt sind“ und „ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen“.
84. Es muß ferner erwähnt werden, daß das im Jahre 1990 demokratisch gewählte Parlament der DDR den deutschen Gesetzgeber aufgefordert hat, „die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts sicherzustellen“. Dies rechtfertigt die Annahme, daß, selbst wenn es nicht zur Wiedervereinigung gekommen wäre, ein das SED-Regime in der DDR ablösendes demokratisches Regime ebenfalls die DDR-Gesetzgebung angewendet und strafrechtliche Verfolgungsschritte gegen die Bf. eingeleitet hätte, wie dies die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung taten.
85. Wenn man überdies auf den Vorrang des Rechts auf Leben in allen internationalen Menschenrechtsverträgen (s.u. Ziff. 92-94) einschließlich der Konvention selbst, die dieses Recht in Art. 2 garantiert, Bedacht nimmt, gelangt der Gerichtshof zur Auffassung, daß die strenge Auslegung der DDR-Gesetze durch die deutschen Gerichte im vorliegenden Fall nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Konvention verstoßen hat.
86. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, daß der erste Satz von Art. 2 Abs. 1 der Konvention die Staaten verpflichtet, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens der ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen Personen zu treffen. Dies bedeutet in erster Linie eine Pflicht, das Recht auf Leben durch die Inkraftsetzung wirksamer strafrechtlicher Bestimmungen zu schützen, welche zusammen mit einem Durchsetzungsmechanismus zur Verhinderung, Bekämpfung und Sanktionierung der Verletzung solcher Bestimmungen, von der Begehung lebensbedrohender Straftaten abhalten (vgl. u.a. das Urteil Osman gegen das Vereinigte Königreich vom 28.10.1998, Reports 1998-VIII, S. 3159, Ziff. 115, sowie Akkoc gegen Türkei, Beschwerde-Nr. 22947 und 22948/93, Urteil vom 10.10.2000, Ziff. 77, unveröffentlicht).
87. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß eine Staatspraxis wie die Grenzsicherungspolitik der DDR, welche flagrant gegen die Menschenrechte und vor allem gegen das Recht auf Leben verstößt, das den höchsten Rang in der Werteskala der internationalen Menschenrechte einnimmt, nicht durch Art. 7 Abs. 1 der Konvention gedeckt sein kann. Diese Praxis, welche die Gesetzgebung, auf der sie angeblich beruhte, ihrer Substanz beraubte und die für alle Organe der DDR einschließlich der Rechtspflegeorgane verbindlich war, kann nicht als „Recht“ im Sinne des Art. 7 der Konvention angesehen werden.
88. Der Gerichtshof ist somit der Auffassung, daß die Bf., die als führende Politiker der DDR einen Anschein von Rechtmäßigkeit auf der Grundlage der Rechtsordnung der DDR geschaffen hatten, dann aber eine Praxis einführten bzw. aufrechterhielten, die die wesentlichsten Grundsätze dieser Rechtsordnung kraß mißachtete, den Schutz des Art. 7 Abs. 1 der Konvention nicht in Anspruch nehmen können. Die gegenteilige Auffassung würde dem Ziel und Zweck dieser Bestimmung widersprechen, nämlich sicherzustellen, daß niemand willkürlicher Strafverfolgung, Verurteilung oder Bestrafung ausgesetzt wird.
89. Als Ergebnis all dieser Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluß, daß die Handlungen der Bf. zur Tatzeit Straftaten darstellten, die mit einem ausreichenden Maß von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit im DDR-Recht niedergelegt waren.

(B) Internationales Recht

i. Anwendbare Vorschriften

90. Der Gerichtshof hält es für seine Pflicht, den vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt der Grundsätze des internationalen Rechts, insbesondere derjenigen, die sich aus dem internationalen Menschenrechtsschutz ergeben, zu prüfen, dies vor allem deshalb, weil sich die deutschen Gerichte ebenfalls auf diese Grundsätze berufen haben.
91. Es muß daher geprüft werden, ob die Handlungen der Bf. zur Zeit ihrer Begehung Straftaten darstellten, die mit einem ausreichenden Grad von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit im internationalen Recht, insbesondere in den Vorschriften des internationalen Menschenrechtsschutzes, niedergelegt waren.

ii. Der internationale Schutz des Rechts auf Leben

92. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, daß im Lauf der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes die einschlägigen Konventionen und andere diesbezügliche Texte stets den Vorrang des Rechts auf Leben betont haben.
93. So lautet z.B. schon Art. 3 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948: „Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Dieses Recht wurde vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, der von der DDR am 8. November 1974 ratifiziert wurde, bestätigt. Dessen Art. 6 bestimmt: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben“ und „Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden“. Das Recht auf Leben ist auch in der Konvention enthalten, deren Art. 2 Abs. 1 lautet:

„Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“

94. Die Übereinstimmung der obigen Texte ist signifikant; sie zeigt an, daß das Recht auf Leben ein unveräußerliches Attribut des Menschen ist und den höchsten Rang in der Wertskala der Menschenrechte einnimmt.
95. Die Bf. machen jedoch geltend, daß ihre Handlungen durch die Ausnahmeklauseln in Art. 2 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt seien. Diese Bestimmung lautet:

„Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
(a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
(b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
(c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.“

96. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß im Hinblick auf die obigen Argumente die Tötung der Flüchtlinge keineswegs als das Ergebnis einer Gewaltanwendung angesehen werden kann, die „unbedingt erforderlich“ war; die von den Bf. in der DDR eingeführte Staatspraxis verteidigte niemanden gegen rechtswidrige Gewalt, bezweckte keine Festnahmen, die nach dem Recht der DDR als „rechtmäßig“ angesehen werden konnten und hatten nichts mit der Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstandes zu tun, da es die alleinige Absicht der Flüchtlinge war, das Land zu verlassen.
97. Folglich waren die Handlungen der Bf. keineswegs nach Art. 2 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen.

iii. Der internationale Schutz der Freizügigkeit

98. Wie Art. 2 Abs. 2 des 4. ZP-EMRK, so bestimmt Art 12 Abs. 2 des IPBPR: „Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.“ Beschränkungen dieses Rechts sind nur zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig und mit den übrigen in diesem Pakt anerkannten Rechten vereinbar sind.

99. Die Bf. haben sich auf diese Ausnahmeklauseln berufen, um die Errichtung und Beibehaltung des Grenzsicherungssystems der DDR zu rechtfertigen.
100. Der Gerichtshof ist jedoch der Ansicht, daß im vorliegenden Fall keine dieser Ausnahmen zutrifft. Erstens waren die inkriminierten Handlungen Befehle, die erteilt und auch ausgeführt wurden, ohne mit der DDR-Verfassung und -Gesetzgebung vereinbar zu sein. Zweitens kann nicht behauptet werden, daß eine allgemeine Maßnahme, welche fast die gesamte Bevölkerung eines Staates am Verlassen desselben hinderte, notwendig war, um seine Sicherheit, geschweige denn andere der aufgezählten legitimen Interessen zu schützen. Schließlich war die Art und Weise, in der die DDR das Ausreiseverbot gegenüber ihren Staatsangehörigen durchsetzte und Verletzungen dieses Verbots bestrafte, unvereinbar mit einem anderen im Pakt garantierten Recht, nämlich dem in Art. 6 garantierten Recht auf Leben, sofern in dieses eingegriffen wurde.
101. Im Zusammenhang mit dem Recht auf Freizügigkeit weist der Gerichtshof auch darauf hin, daß Ungarn anläßlich der Grenzöffnung zu Österreich am 11. September 1989 einen bilateralen Vertrag mit der DDR unter ausdrücklicher Berufung auf die Art. 6 und 12 des Internationalen Paktes sowie auf Art. 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention (wesentliche Änderung der im Vertrag vorausgesetzten Bedingungen) aufgekündigt hat.

iv. Die Verantwortlichkeit der DDR als Staat und die individuelle Verantwortlichkeit der Bf.

102. Durch die Verlegung von Minen und automatischen Selbstschußanlagen entlang der Grenze und den Befehl an die Grenztruppen „Grenzverletzer zu vernichten und die Grenze unter allen Bedingungen zu sichern“ hat die DDR somit ein Grenzsicherungssystem errichtet, daß offensichtlich gegen das in der DDR-Verfassung und -Gesetzgebung niedergelegte Gebot der Erhaltung menschlichen Lebens, sowie gegen das durch die oben genannten internationalen Verträge geschützte Recht auf Leben verstieß. Zugleich verstieß dieses Regime gegen das in Art. 12 des IPBPR erwähnte Recht auf Freizügigkeit.
103. Die betreffende Staatspraxis war zu einem großen Teil das Werk der Bf. selbst, die als führende Politiker wußten – oder wissen mußten -, daß sie gegen Grund- und Menschenrechte verstießen, denn sie konnten nicht in Unkenntnis der Gesetzgebung ihres eigenen Landes sein. Schon Art. 8 und 19 Abs. 2 der Verfassung von 1968 bestimmten: „Die allgemein anerkannten, dem Frieden und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts sind für die Staatsmacht und jeden Bürger verbindlich“ bzw. „Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger“. Weiters enthielt das erste Kapitel des besonderen Teils des StGB-DDR bereits im Jahre 1968 eine Einleitung mit folgendem Wortlaut: „Die unnachsichtige Bestrafung von Verbrechen gegen … die Menschlichkeit, die Menschenrechte…, ist unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Friedensordnung in der Welt und für die Wiederherstellung des Glaubens an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und für die Wahrung der Rechte jedes Einzelnen.“ Ebenso konnten die Bf., wie bereits erwähnt (s.o. Ziff. 78), nicht in Unkenntnis der von der DDR eingegangenen internationalen Verpflichtungen bzw. der wiederholten internationalen Kritik an ihrem Grenzsicherungssystem sein.
104. Wenn die DDR noch bestünde, wäre sie vom Standpunkt des internationalen Rechts für die betreffenden Maßnahmen verantwortlich. Es bleibt zu prüfen, ob neben dieser staatlichen Verantwortlichkeit die Bf. zum Tatzeitpunkt eine individuelle strafrechtliche Verantwortung traf. Selbst wenn eine solche Verantwortlichkeit nicht aus den oben erwähnten internationalen Menschenrechtsschutzverträgen abzuleiten wäre, ergibt sie sich dennoch aus diesen Verträgen in Verbindung mit Art. 95 StGB-DDR. Darin war, und zwar schon seit 1968, ausdrücklich vorgesehen, daß strafrechtlich verantwortlich ist, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte oder der völkerrechtlichen Pflichten der DDR handelt.
105. Im Lichte all dieser Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluß, daß die Handlungen der Bf. zur Zeit ihrer Begehung auch Straftaten darstellten, welche mit einem hinreichenden Maß von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit in den völkerrechtlichen Vorschriften über den Schutz der Menschenrechte niedergelegt waren.
106. Das Verhalten der Bf. könnte nach Art. 7 Abs. 1 zusätzlich auch noch unter dem Gesichtspunkt anderer Völkerrechtsregeln betrachtet werden, nämlich insbesondere derjenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffen. Angesichts der Schlußfolgerung, zu der der Gerichtshof gelangt ist (s.o. Ziff. 105) erübrigt sich jedoch ein Eingehen auf diesen Punkt.

(C) Schlußfolgerung

107. Es folgt, daß die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung nicht gegen Art. 7 Abs. 1 verstoßen hat.
108. Angesichts dieser Schlußfolgerung braucht der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob ihre Verurteilung nach Art. 7 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen war.*

II. Zur behaupteten Verletzung des Artikels 1 der Konvention

109. Die Bf. behaupten, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen Art. 1 der Konvention verstoßen habe. Dieser lautet:

„Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen, die in Abschnitt I … bestimmten Rechte und Freiheiten zu.“

110. Nach Ansicht der Bf. hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch die Berufung auf die Radbruchsche Formel eine diskriminierende Rechtsprechung begründet, durch welche es früheren Staatsbürgern der DDR, die nun Staatsbürger der Bundesrepublik sind, verwehrt wird, sich auf den Grundsatz des Rückwirkungsverbots für Strafgesetze gem. Art. 7 Abs. 1 der Konvention zu berufen.
111. Der Gerichtshof stellt fest, daß er zuständig ist, den von einem Bf. vorgetragenen Sachverhalt im Lichte des gesamten Konventionsrechts zu überprüfen. In diesem Zusammenhang steht es ihm vor allem frei, den von ihm auf der Grundlage des Beweismaterials ermittelten Sachverhalt rechtlich anders zu qualifizieren als der Bf. und ihn nötigenfalls unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten (s. nebst vielen anderen Belegen das Urteil Foti u.a. gegen Italien vom 10.12.1982, Série A Nr. 56, S. 15, Ziff. 44 = EuGRZ 1985, 579 sowie Rehbock gegen Slowenien, Beschw.Nr. 29462/95, Urteil vom 28.11.2000, Ziff. 63).
112. So kann im vorliegenden Fall das Anliegen der Bf. nicht auf Art. 1 der Konvention gestützt werden, eine Rahmenbestimmung, die als solche nicht verletzt werden kann (vgl. Urteil im Fall Irland gegen Vereinigtes Königreich vom 18.1.1978, Série A Nr. 25, S. 90, Ziff. 238 = EuGRZ 1979, 159). Es kann jedoch unter dem Gesichtspunkt des Art. 14 der Konvention i.V.m. Art. 7 geprüft werden, da die Bf. der Sache nach eine Diskriminierung rügen, die sie angeblich als frühere Staatsbürger der DDR erlitten haben. Art. 14 der Konvention bestimmt:

„Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten ist ohne Benachteiligung zu gewährleisten, die insbesondere im Geschlecht, in der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, in den politischen oder sonstigen Anschauungen, in nationaler oder sozialer Herkunft, in der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, im Vermögen, in der Geburt oder im sonstigen Status begründet ist.“

113. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, daß die vom Bundesverfassungsgericht angewandten Grundsätze von allgemeiner Tragweite sind und deshalb auch für Personen gelten, die nicht frühere Staatsbürger der DDR waren.
114. Folglich liegt keine Diskriminierung entgegen Art. 14 i.V.m. Art. 7 der Konvention vor.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

1. Es liegt keine Verletzung des Art. 7 Abs. 1 der Konvention vor.
2. Es liegt keine Diskriminierung entgegen Art. 14 in Verbindung mit Art. 7 der Konvention vor.

An der Entscheidung wirkten mit die Richter: L. Wildhaber, Präsident; E. Palm, C.L. Rozakis, G. Ress, J.-P. Costa, L. Ferrari Bravo, L. Caflisch, L. Loucaides, I. Cabral Barreto, K. Jungwiert, Sir Nicolas Bratza, B. Zupancic, N. Vajic, M. Pellonpää, M. Tsatsa-Nikolovska, E. Levits, A. Kovler sowie M. de Savia, Kanzler

* Anm. d. Red.: Art. 7 Abs. 2 EMRK lautet:

„Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war.“

Deutschland hat dazu einen Vorbehalt erklärt. Der Vorbehalt lautet:

„Gemäß Artikel 64 der Konvention macht die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, daß sie die Bestimmung des Artikels 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird. Die letztgenannte Vorschrift lautet wie folgt: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“

Sondervoten
(Zusammenfassung der EuGRZ)

1. Zustimmendes Sondervotum des Richters Loucaides (Zypern)

Die Mehrheit der Richter hat zur Frage, ob das Verhalten der Bf. eine „Straftat nach internationalem Recht“ darstellte, sich auf völkerrechtliche Verpflichtungen berufen, die für die DDR als Staat verbindlich waren, während die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bf. aus dem innerstaatlichen Recht der DDR abgeleitet wurde. Diese Konstruktion ist abzulehnen. Eine Straftat nach internationalem Recht i.S.d. Art. 7 der Konvention bedeutet eine Tat, die sowohl hinsichtlich des verbotenen Verhaltens als auch hinsichtlich der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein solches Verhalten unmittelbar vom Völkerrecht pönalisiert wird. Auch bei Zugrundelegung einer solchen Definition kann im vorliegenden Fall das Vorliegen einer Straftat nach internationalem Recht bejaht werden, und zwar eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, welches schon zur Zeit des den Beschwerdeführern vorgeworfenen Verhaltens Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Völkergewohnheitsrechtes war. Auf die Entwicklungsgeschichte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird sodann detailliert eingegangen. Richter Loucaides kommt zu dem Ergebnis: „Aus den vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, daß die der Verurteilung der Bf. zugrundeliegenden Taten zum maßgeblichen Zeitpunkt sowohl nach deutschem Recht als auch nach Völkerrecht Straftaten darstellen.“

2. Zustimmendes Sondervotum des Richters Zupancic (Slowenien)

Für die Zwecke des Art. 7 § 1 der Konvention ist es ausreichend, daß die Gerichte der Bundesrepublik das Strafrecht der DDR rechtlich überzeugend angewendet haben. Der Gerichtshof hat auch zutreffend festgestellt, daß Art. 2 Abs. 2 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, was nicht ausschließt, daß in anderen Fällen die Güterabwägung zwischen dem Recht auf persönliche Unverletzlichkeit und legitimer Durchführung einer rechtmäßigen Verhaftung zu einem anderen Ergebnis führen kann (Verweisung auf das abweichende Sondervotum der Richterin Vajic zum Urteil Rehbock gegen Slowenien vom 28.11.2000). Wichtig ist auch zu betonen, daß dieses Urteil nicht auf Art. 7 Abs. 2 oder auf dem Konzept des „internationalen Verbrechens“ gem. Art. 7 Abs. 1 beruht. Art. 7 Abs. 2 ist eine Ausnahme vom Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege praevia, der in der kontinentaleuropäischen Tradition im Gegensatz zur angelsächsischen als materiellrechtliche, d.h. nicht prozeßrechtliche Garantie aufgefaßt wird. Das Legalitätsprinzip wird traditionellerweise in dem Sinne ausgelegt, daß es eine Beschränkung der dem Staat zustehenden Strafhoheit bedeutet. Im vorliegenden Fall hat es jedoch die umgekehrte Wirkung. Es hindert die Bf. daran, sich auf ihre eigene Rechtsauslegung zu berufen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß der Legalitätsgrundsatz objektive Garantien des materiellen Strafrechts enthält und nicht in ein subjektives Recht auf Information über Strafbarkeit umgemünzt werden darf. Es geht um die lex certa, d.h. objektive, streng semantische und logische rechtliche Schranken für die Strafhoheit des Staates. Wenn die Rechtsordnung dem Täter die formelle Möglichkeit gibt, die kriminelle und strafbare Natur seiner Handlungen und Unterlassungen zu erkennen, obwohl er sich in seinem täglichen Verhalten auf die vorherrschende und etablierte „Staatspraxis“ der Straflosigkeit verläßt, läßt der Rechtsstaat es zu, daß er später strafrechtlich belangt wird. Andernfalls würde der Straftäter zum Gesetzgeber in eigener Sache. Hier liegt die wirkliche Bedeutung des vorliegenden Falles. Hingegen würde eine übertriebene Betonung der subjektiven Kriterien von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit die Verteidigung der Bf. stärken. Sie könnten sich im Hinblick auf die Staatspraxis der DDR auf einen Rechtsirrtum berufen, der ihre Handlungsweise zwar nicht rechtfertigen, wohl aber entschuldigen könnte („Schuldausschließung“). Dann würde die schizophrene Auslegung des DDR-Rechts, die Überlagerung des geschriebenen Rechts durch eine Staatspraxis der Straflosigkeit, den Vorrang vor der objektiven Bedeutung des DDR-Strafrechts bekommen. Die Bf. haben sich auf die Staatspraxis jedoch nicht nur berufen, sie haben selbst dazu beigetragen, wobei allerdings eine Formalisierung durch Legislativmaßnahmen wohlweislich unterblieb, um wenigstens den Anschein der Rechtsstaatlichkeit zu bewahren. Wenn die Praxis der Straflosigkeit gesetzlich verankert worden wäre, läge ein anderer Fall vor, der nach Art. 7 Abs. 2 der Konvention zu beurteilen wäre. Wie die Dinge liegen, waren die Bf. aber an einer breitgefächerten und systematischen Verschwörung beteiligt, den objektiven Sinn des geschriebenen Rechts außer acht zu lassen und die sogenannte Staatspraxis, auf die sie sich berufen, läuft auf einen Verweis auf ihr eigenes Verhalten hinaus. In ihrer Argumentation wären sie selbst die einzig maßgebende Auslegungsinstanz des DDR-Rechts gewesen. Hätte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Zirkelschluß der Selbstrechtfertigung anerkannt und die sogenannte „Staatspraxis“ als integralen Bestandteil der DDR-Rechtsordnung angesehen, so hätte er sich damit in Widerspruch zu den Grundsätzen des Rechtsstaats gesetzt. Wie schon Ihering betont hat, beruht die Rechtsstaatlichkeit auf der formalen Bedeutung der Rechtsvorschrift, die als objektiver Standard aufrechterhalten und von jeder subjektiven und willkürlichen Auslegung unterschieden werden muß, so vorherrschend diese auch in der Staatspraxis sein mag. Richter Zupancic stellt abschließend fest: „Nur wenn objektive und subjektive Rechtsauffassungen streng getrennt bleiben, ist gewährleistet, daß niemand über dem Recht steht.“

Zustimmendes Sondervotum des Richters Levits (Lettland)

Das Urteil des Gerichtshofs beruht auf einer Auslegung des internationalen Rechts sowie des innerstaatlichen Rechts der DDR. Die Bf. bestreiten diese schon von den deutschen Gerichten vorgenommene Auslegung und berufen sich auf die davon abweichende Auslegung derselben Vorschriften in der DDR, derzufolge ihr Verhalten nicht rechtswidrig gewesen sei. Hier ist eine Schlüsselfrage angesprochen, die in allen Fällen der Rechtsnachfolge eines demokratischen Regimes nach einem nichtdemokratischen Regime von Bedeutung ist: Nämlich der Umstand, daß die Auslegung von Rechtsvorschriften vom jeweiligen politischen Regime eines Staates abhängt. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Auslegungsmethoden wären die DDR-Gerichte niemals zum selben Ergebnis gelangt wie die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung und nunmehr der Straßburger Gerichtshof, denn die unterschiedlichen Auslegungsmethoden erstrecken sich auf alle wichtigen Elemente der Rechtsordnung. Die Frage ist dann, ob nach der Ablösung eines nichtdemokratischen Systems durch ein demokratisches die Auslegung der vom alten Regime erlassenen Vorschriften gem. den Methoden des neuen Regimes legitim ist. Dies ist zu bejahen, denn ein demokratischer Staat kann ein Recht, gleich welcher Quelle es entstammt, nur in der dem demokratischen Regime eigenen Weise anwenden, andernfalls wäre der ordre public des demokratischen Staates in seinem Wesenskern berührt. Dasselbe gilt auch für die Auslegung von Völkerrechtsnormen wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Auch diese können in einem demokratischen Staat nur gem. den ihm eigenen Methoden ausgelegt werden. Die entgegenstehende Praxis der sozialistischen Staaten sollte als Rechtsmißbrauch erkannt werden. Nach dem Umschwung zur demokratischen Ordnung können sich die früheren Machthaber zur ihrer Rechtfertigung nicht auf die in dem früheren nichtdemokratischen System praktizierten Auslegungsmethoden berufen. Dies ergibt sich aus der Universalität der Menschenrechte und den demokratischen Werten, an die alle demokratischen Institutionen gebunden sind. Sie sind spätestens seit dem Nürnberger Gerichtshof allgemein bekannt und für jedermann vorhersehbar.
In Ziff. 107 des Urteils wird darauf hingewiesen, daß das Verhalten der Bf. auch im Lichte anderer Völkerrechtsnormen betrachtet werden könnte, insbesondere derjenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffen. Von einer weiteren Erörterung dieser Frage wurde abgesehen, weil es genügte, die internationalen Menschenrechtsvorschriften im Zusammenhang mit den einschlägigen Bestimmungen des seinerzeitigen DDR-Rechts zu betrachten. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Verfassung und Gesetze der DDR und anderer sozialistischer Staaten eher propagandistischen Charakter hatten. Die deutschen Gerichte und der Straßburger Gerichtshof haben diese Normen jedoch aus zwingenden Gründen ernst genommen und im Sinne der dem demokratischen System eigenen Methoden der Rechtsanwendung ausgelegt. Jedoch sollte die Möglichkeit der Gerichte in den neuen Demokratien, das Erbe der früheren nichtdemokratischen Regime aufzuarbeiten, nicht allein von solchen für propagandistische und nicht für rechtliche Zwecke formulierten Normen abhängig gemacht werden. Das Urteil läßt richtigerweise die Möglichkeit einer Prüfung eines Verhaltens wie desjenigen der Bf. am Maßstab der Straftaten nach internationalem Recht offen. In diesem Zusammenhang ist auf die Stärkung des internationalen Menschenrechtsschutzes einschließlich des Schutzes gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die neuesten Entwicklungen hinzuweisen. Obwohl viele Einzelfragen noch nicht vollständig gelöst sind, ist die Entwicklungstendenz eindeutig. Aus diesem Grund ist dem Sondervotum des Richters Loucaides zuzustimmen, wonach das Verhalten der Bf. im vorliegenden Fall nicht nur eine Straftat nach nationalem Recht, sondern auch nach internationalem Recht darstellte. Richter Levits schließt sein Sondervotum, indem er die Feststellung seines zypriotischen Kollegen bekräftigt.

Bearbeitung und Übersetzung:
Dr. Wolfgang Strasser, Straßburg
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg

Urteil K.-H. W. gegen Deutschland vom 22. März 2001 – Beschwerde-Nr. 37201/97 K.-H. W. gegen Deutschland

Todesschüsse an der Mauer / Strafrechtliche Verurteilung eines Grenzsoldaten für Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings an der innerdeutschen Grenze EMRK-konform / K.-H. W. gegen Deutschland

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (Bf.) wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Juli 1993 (Aktenzeichen (513) 2 Js 55/91 KLs) 15/92) wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und 10 Monaten auf Bewährung verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Bf., der sich auf Drängen seines Vaters widerstrebend zu einem Wehrdienst von drei Jahren verpflichtet hatte, in der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1972 Postenführer einer aus ihm und einem Mitangeklagten gebildeten Grenzstreife einer Bootskompanie, die zur Sicherung eines an der Spree verlaufenden Grenzabschnitts eingesetzt war. Der 29 Jahre alte Manfred Weylandt aus Ostberlin wollte in dieser Nacht die Spree durchschwimmen, um im Westen zu bleiben. Als der Bf. und sein Mitangeklagter ihn entdeckten, schwamm er in die Mitte des Flusses. Auf Zuruf der beiden Grenzsoldaten reagierte er nicht. Sie schossen nunmehr aus einer Entfernung von ungefähr 40 Meter nahezu gleichzeitig auf ihn. Ihre Maschinenpistolen waren auf Dauerfeuer eingestellt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme konnte ihnen nicht widerlegt werden, daß die ersten Schüsse Warnschüsse waren. Die weiteren Schüsse wurden sofort danach abgegeben. Beide nahmen eine tödliche Verletzung des Flüchtlings billigend in Kauf.
Der Flüchtling war durch ein Geschoß am Kopf getroffen worden und deswegen ertrunken. Von welchem der beiden Soldaten das tödliche Geschoß herrührte, blieb ungeklärt. Die beiden Soldaten handelten mit dem gemeinsamen Ziel, den bei der Vergatterung erhaltenen Befehl auszuführen und den vermuteten Grenzdurchbruch zu verhindern. Sie wurden am nächsten Tag mit einem Leistungsabzeichen sowie mit einer Prämie ausgezeichnet.
Der Witwe des Getöteten wurde vier Wochen nach dem Vorfall mitgeteilt, es habe sich um einen Selbstmord gehandelt; die Leiche sei bereits eingeäschert worden.
Das Landgericht Berlin wertete die Tat in dem oben erwähnten Urteil sowohl nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland als auch nach dem der DDR als gemeinschaftliche vorsätzliche Tötung. Der Gebrauch der Schußwaffe sei unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt gewesen. § 17 Abs. 2 des zur Tatzeit geltenden Volkspolizeigesetzes habe den Einsatz der Schußwaffe lediglich bei bestimmten Verbrechenstatbeständen, die nicht erfüllt gewesen seien, erlaubt. Ein besonders schwerer Fall des ungesetzlichen Grenzübertritts i.S. v. § 213 Abs. 3 StGB-DDR habe nicht vorgelegen. Schuldausschließungsgründe seien nicht gegeben, insbesondere nicht der Schuldausschließungsgrund des Handelns auf Befehl. Auch unter Berücksichtigung von regelmäßiger politischer Schulung und Indoktrination sowie militärischer Vergatterung stelle die Handlungsweise beider Täter einen auch für sie offensichtlichen Verstoß gegen das Gebot der Menschlichkeit dar. Es sei für die Angeklagten, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß von dem Grenzverletzer keine Gefahr ausgegangen sei, offensichtlich gewesen, daß das nachrangige Verbot des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ hinter dem elementaren Tötungsverbot, das auch im DDR-Recht konkretisiert gewesen sei, habe zurücktreten müssen. Auch de Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes i.S. v. § 35 StGB seien zu verneinen. Da die Tat weder nach dem Recht der Bundesrepublik noch nach dem der DDR gerechtfertigt gewesen sei, verbleibe es bei der Anwendung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland. Die Vorschriften der §§ 212, 213 StGB sehen für einen minderschweren Fall, wie er hier vorläge, einen niedrigeren Strafrahmen vor als die §§ 112, 113 StGB-DDR. Die Schwere der Schuld erfordere gem. § 17 Abs. 2 JGG die Verhängung einer Jugendstrafe gegenüber dem Bf. Deren Vollstreckung könne jedoch zur Bewährung ausgesetzt werden.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Revision des Bf. wurde vom Bundesgerichtshof durch Urteil vom 26. Juli 1994 (5 StR 167/94) verworfen. Entgegen der Auffassung des Erstgerichts seien zur Tatzeit die in Betracht kommenden Vorschriften über das Grenzregime in der Staatspraxis der DDR in dem Sinn ausgelegt worden, daß das Handeln des Bf. gerechtfertigt sei. Jedoch müsse entsprechend den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätzen (vgl. Urteil vom 3. November 1992 – 5 StR 370/92 (BGHSt 39, 1 = EuGRZ 1993, 37 ff.)) ein der Staatspraxis entsprechender Rechtfertigungsgrund für die vorsätzliche Tötung von Personen bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben, wenn die Opfer nichts weiter gewollt hätten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten. Die genannte Entscheidung beruhe nicht nur auf der Radbruchschen Formel, sondern auch auf dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Daß dieser erst nach der vorliegenden Tat für die DDR in Kraft getreten sei, zwinge nicht dazu, die Frage der Rechtfertigung des Bf. abweichend zu beurteilen. Der Pakt habe seine Grundlage in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die bereits den Willen der Völkergemeinschaft bekundet habe, Menschenrechte zu verwirklichen und deren Inhalt auch erkennbar gemacht habe. Angesichts der Exaktheit, mit der sie das fundamentale Recht auf Leben und das Recht auf freie Ausreise definiert habe, könne sie als eine Konkretisierung dessen aufgefaßt werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden werde. Zu den in der Erklärung bezeichneten Menschenrechten habe sich auch die DDR in zahlreichen offiziellen Stellungnahmen bekannt. Auch die nach dem Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden hätten es ermöglicht, den Rechtfertigungsgrund gem. dem Volkspolizeigesetz so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermeidbar gewesen wären. Insbesondere seien Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schon zur Tatzeit im Volkspolizeigesetz enthalten gewesen. Der Bundesgerichtshof hielt an der Auffassung fest, daß in einer solchen, an den Menschenrechten orientierten Auslegung des Rechtfertigungsgrundes ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht gesehen werden könne.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde des Bf. wurde mit dem Fall Streletz und Keßler verbunden und im selben Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 (BVerfG 95, 96 = EuGRZ 1996, 538) abgewiesen. Im Fall des Bf. war das Urteil jedoch auf besondere zusätzliche Erwägungen gestützt. Der Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ habe Verfassungsrang und habe für die Strafgerichte das Gebot schuldangemessenen Strafens im Einzelfall zur Folge. Eine strafrechtliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Handle es sich, wie im vorliegenden Fall, um Täter, die von einer anderen, nicht mehr bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung geprägt sind und bei Ausführung der ihnen vorgeworfenen Taten auf verschiedenen Ebenen in ein System von Befehl und Gehorsam eingebunden waren, so sei die Feststellung strafrechtlicher Schuld mit besonderer Sorgfalt zu treffen. Jedoch begegneten die im vorliegenden Fall angegriffenen Entscheidungen keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Alle in Betracht kommenden Schuldausschließungsgründe seien auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung geprüft, aber verneint worden. Die Strafgerichte seien verfassungsrechtlich bedenkenfrei davon ausgegangen, daß der Entschuldigungsgrund des Handels auf Befehl ausgeschlossen war, weil die Rechtswidrigkeit des Befehls zum Schußwaffengebrauch an der Grenze nach den dem Bf. bekannten Umständen offensichtlich war. Entscheidend sei hier, ob der Verstoß gegen das Strafrecht derart auf der Hand lag, daß er für einen durchschnittlichen Soldaten mit dem Informationsstand des jeweiligen Befehlsempfängers ohne weiteres Nachdenken und ohne weitere Erkundigungen einsichtig war. Zwar wäre es unter dem Schuldgrundsatz unhaltbar, die Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes für den Soldaten allein mit dem objektiven Vorliegen eines schweren Menschenrechtsverstoßes zu begründen und die Strafgerichte hätten nicht erörtert, warum der einzelne Soldat angesichts seiner Erziehung, der Indoktrination und der sonstigen Umstände in der Lage war, den Strafrechtsverstoß zweifelsfrei zu erkennen. Sie hätten jedoch dargelegt, daß die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen sei, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war. Auch bei der Strafzumessung hätten die Strafgerichte in sorgfältiger und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise alle maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und vertretbar gegeneinander abgewogen. Das unterschiedliche Gewicht des verwirklichten Unrechts der Bf. Streletz und Keßler als Befehlsgeber und des Bf. K.-H.W. als Befehlsempfänger haben in der Höhe der jeweils verhängten Strafen erkennbaren Ausdruck gefunden. Die besonderen politischen Verhältnisse in der ehemaligen DDR seien zu Gunsten des Bf., bei dem die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei, berücksichtigt worden.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidungsgründe stimmen weitgehend mit denjenigen im Fall Streletz, Keßler und Krenz überein, abweichend jedoch die folgenden Passagen:

(Übersetzung der EuGRZ)

1. Zur Vorhersehbarkeit der Verurteilung

68. Der Beschwerdeführer (Bf.) wendet ein, daß er sich als Grenzsoldat der DDR am Ende der Befehlskette befunden und stets nur die ihm erteilten Befehle ausgeführt habe. Seine Verurteilung durch die deutschen Gerichte sei daher nicht vorhersehbar gewesen und es sei ihm vollkommen unmöglich gewesen zu erkennen, daß er sich eines Tages wegen veränderter Umstände strafrechtlich werde verantworten müssen.
69. Auf dieses Argument ist einzugehen.
70. Im Urteil Streletz, Keßler und Krenz (Ziff. 78) hat der Gerichtshof die offensichtliche Verantwortlichkeit der früheren Machthaber für die bewußte Schaffung und Aufrechterhaltung einer Staatspraxis unterstrichen, von der sie wußten oder wissen mußten, daß sie auf krasse Weise die Grundsätze der eigenen Gesetzgebung der DDR sowie die international geschützten Menschenrechte verletzten. Diese Begründung ist aber nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall anwendbar.
71. Als junger (zur Tatzeit 20 Jahre alter) Soldat, der an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten stationiert war, hatte der Bf. die Indoktrinierung der Rekruten der Nationalen Volksarmee erfahren, er mußte die Befehle seiner Vorgesetzten befolgen, die von ihm verlangten, die Grenze „unter allen Umständen“ zu schützen und riskierte die Einleitung eines Strafverfahrens durch den Militärstaatsanwalt im Falle des erfolgreichen Grenzübertritts eines Flüchtlings.
72. Im vorliegenden Fall stellt sich somit die Frage, in welchem Umfang der Bf. als einfacher Soldat wußte oder wissen mußte, daß die Erschießung von Personen, die einfach nur die Grenze überqueren wollten, nach dem Recht der DDR eine Straftat darstellte.
73. Diesbezüglich erinnert der Gerichtshof zunächst daran, daß das geschriebene Recht jedermann zugänglich war: Es handelte sich um die Verfassung und das Strafgesetzbuch der DDR, nicht um irgendwelche obskuren Vorschriften. Der Grundsatz „niemand kann sich auf die Unkenntnis des Gesetzes berufen“ galt auch für den Bf.
74. Außerdem hatte sich dieser freiwillig für den Dienst bei der Nationalen Volksarmee während drei Jahren gemeldet. Jeder Bürger der DDR kannte jedoch die restriktive Politik des Staates hinsichtlich der Freizügigkeit, die Natur des Grenzüberwachungssystems, den Wunsch der Mehrheit der Bürger ins Ausland zu fahren, sowie den Umstand, daß einige von ihnen, die man „Republikflüchtlinge“ nannte, mit allen Mitteln versuchten, dort hinzugelangen. Der Bf. wußte oder mußte wissen, daß eine freiwillige Meldung zu einem dreijährigen Militärdienst auf ein Bekenntnis zum herrschenden Regime hinauslief und die Möglichkeit einschloß, an der Grenze stationiert zu werden, wo er riskierte, auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen.
75. Außerdem kann sich nach Ansicht des Gerichtshofs selbst ein einfacher Soldat nicht völlig blind auf die Befehle berufen, die in krasser Weise nicht nur die Grundsätze der eigenen Gesetzgebung der DDR, sondern auch die international geschützten Menschenrechte und vor allem das Recht auf Leben verletzten, welches den höchsten Wert in der Rangordnung der Menschenrechte darstellt.
76. Wenn sich der Bf. auch vor Ort angesichts der politischen Lage der DDR zur Tatzeit in einer besonders schwierigen Situation befand, konnten solche Befehle es nicht rechtfertigen, auf unbewaffnete Personen zu schießen, die nur einfach das Land verlassen wollten.
77. Denn § 95 StGB-DDR bestimmte, und zwar auch schon in seiner Fassung 1968: „Auf Gesetze, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte … handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich.“
78. Im selben Sinne sah § 258 StGB-DDR vor: „Eine Militärperson ist für eine Handlung, die sie in Ausführung des Befehls eines Vorgesetzten begeht, strafrechtlich nicht verantwortlich, es sei denn, die Ausführung des Befehls verstößt offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts oder gegen Strafgesetze.“
79. Ferner findet sich unter den von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1946 in Resolution 95 (I) unter dem Titel „Nürnberger Grundsätze“ niedergelegten Grundsätzen der folgende: Ein Befehl befreit nicht … von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, kann aber zur Verhängung einer milderen Strafe führen, wenn das Gericht der Ansicht ist, daß die Gerechtigkeit es verlangt.“
80. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof fest, daß die deutschen Gerichte die Milderungsgründe zugunsten des Bf. in allen Einzelheiten geprüft haben, bevor sie zum Schluß kamen, daß entscheidend sei, daß „die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen [sei], daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war“.
81. Außerdem haben diese Gerichte der unterschiedlichen Verantwortlichkeit der führenden Politiker der DDR und des Bf. bei der Bemessung der jeweiligen Strafe in angemessener Weise Rechnung getragen, indem sie die ersten zu Gefängnisstrafen (s. Urteil Streletz, Keßler und Krenz, Ziff. 53), den Bf. aber nur zu einer bedingten Strafe auf Bewährung verurteilt haben. (…)

2. Zur Völkerrechtswidrigkeit

104. Auch wenn der Bf. nicht für diese Staatspraxis unmittelbar verantwortlich war, und der Vorfall sich 1972, also vor der Ratifizierung des Paktes [UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte] ereignete, mußte er als einfacher Bürger wissen, daß das Schießen auf unbewaffnete Personen, die nur einfach ihr Land verlassen wollten, gegen die Grund- und Menschenrechte verstieß, denn er konnte nicht in Unkenntnis über die Gesetzgebung seines eigenen Landes sein. (…)

3. Zur Frage der Verjährung

107. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, daß er zuständig ist, den in Beschwerde gezogenen Sachverhalt im Hinblick auf die Einhaltung sämtlicher Anforderungen der Konvention zu überprüfen. In diesem Zusammenhang darf er den Sachverhalt, so wie er ihn aufgrund der verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Beweise erwiesen ansieht, rechtlich auch anders zu qualifizieren als der Bf. und ihn nötigenfalls auch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten. Außerdem muß er nicht nur die ursprüngliche Beschwerde, sondern auch die ergänzenden Schriftsätze berücksichtigen, die dazu dienen, anfängliche Lücken oder Unklarheiten zu beseitigen (vgl. insbesondere das Urteil Foti u.a. gegen Italien vom 10. Dezember 1982, Série A Nr. 56, S. 15, Ziff. 44 = EuGRZ 1985, 578).
108. Der Gerichtshof stellt fest, daß im vorliegenden Fall anders als im Fall Foti der Bf. die Frage der Verjährung weder in der ursprünglichen Beschwerde noch in den ergänzenden Schriftsätzen und mündlichen Vorträgen aufgeworfen hat.
109. Aber selbst wenn er dies getan hätte, ist der Gerichtshof der Ansicht, daß er diese Frage im vorliegenden Fall aus den folgenden Gründen nicht zu prüfen braucht.
110. Zwar betrug die Verjährungsfrist gem. § 82 Abs. 1 Ziff. 4 StGB-DDR 1968 für Straftaten, die – wie vorsätzlicher Mord – mit bis zu zehn Jahren Strafe bedroht waren, 15 Jahre. Doch sah § 84 desselben Gesetzes vor:

„Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte … unterliegen nicht den Bestimmungen dieses Gesetzes über die Verjährung.“

Diese Vorschrift, die die Unverjährbarkeit für bestimmte Arten von Verbrechen einschließlich Menschenrechtsverletzungen vorsah, war zur Tatzeit schon in Kraft. Auch das Recht auf Leben gehörte zur selben Zeit schon zu den Menschenrechten, für deren Verletzung § 84 StGB-DDR die Unverjährbarkeit vorsah, wenngleich die vertragliche Absicherung dieses Rechts durch die DDR erst 1974 erfolgte. Nun hat der Gerichtshof im vorliegenden Fall eine vom Bf. begangene Menschenrechtsverletzung festgestellt (Ziff. 105, hier nicht abgedruckt). Selbst wenn sich der Bf. diesbezüglich auf die Verjährung berufen hätte, wäre sein diesbezügliches Argument daher abzuweisen gewesen.
111. Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland am 26. März 1993 ein Gesetz verabschiedet, dessen § 1 das Ruhen der Verjährung bei „SED-Unrechtstaten“ vorsieht. Dieses Ruhen hat zur Folge, daß die Verjährungsfrist nicht mit dem Zeitpunkt der Tat, sondern mit dem 3. Oktober 1990, dem Datum des Untergangs der DDR, beginnt. Ein ähnliches Gesetz ist in Polen erlassen worden; es betrifft „kommunistische Verbrechen“, insbesondere solche, die zwischen 1939 und 1989 begangen wurden und mit Menschenrechtsverletzungen verbunden waren. Da sich jedoch die Unverjährbarkeit der dem Bf. vorgeworfenen Tat aus dem DDR-Recht selbst ergibt (s.o. Ziff. 110), braucht der Gerichtshof die Bedeutung des Verjährungsgesetzes der Bundesrepublik vom 26. März 1993 nicht zu prüfen.
112. Der Gerichtshof kommt somit zu dem Schluß, daß, selbst wenn sich der Bf. auf die Verjährung berufen hätte, sein Argument wegen der in § 84 StGB-DDR enthaltenen Vorschrift hätte abgewiesen werden müssen, so daß es auf das Verjährungsgesetz der Bundesrepublik vom 26. März 1993 nicht ankommt.

4. Ergebnis

113. Es folgt, daß die Verurteilung des Bf. durch die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung nicht gegen Art. 7 Abs. 1 verstoßen hat.
114. Angesichts dieser Schlußfolgerung braucht der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob seine Verurteilung nach Art. 7 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen war.

An der Entscheidung wirkten mit die Richter: L. Wildhaber, Präsident; E. Palm, C.L. Rozakis, G. Ress, J.-P. Costa, L. Ferrari Bravo, L. Caflisch, L. Loucaides, I. Cabral Barreto, K. Jungwiert, Sir Nicolas Bratza, B. Zupancic, N. Vajic, M. Pellonpää, M. Tsatsa-Nikolovska, E. Levits, A. Kovler sowie M. de Salvia, Kanzler

Sondervoten

(Zusammenfassung der EuGRZ)

Zustimmendes Sondervotum des Richters Loucaides (Zypern)

Unter Hinweis auf sein Sondervotum im Fall Streletz, Keßler und Krenz vertritt Richter Loucaides die Ansicht, daß auch im vorliegenden Fall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Völkergewohnheitsrecht vorliegt. Im Unterschied zu den DDR-Politikern war der Bf. im vorliegenden Fall nicht an der Organisation des Grenzsicherungssystems der DDR beteiligt, seine Rolle beschränkte sich auf einen Einsatz als Grenzsoldat, bei dem er einen jungen Mann erschoß, der versuchte, aus Ostberlin zu flüchten, indem er über einen Kanal schwamm. Der Vorfall ereignete sich im Februar 1972. Diese Unterschiede rechtfertigen jedoch keine andere Behandlung als im Parallelfall. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt schon vor, wenn Morde an der Zivilbevölkerung als Teil eines systematischen oder organisierten Vorgehens in Verfolgung einer bestimmten Politik begangen werden. Dies bedeutet nicht, daß jemand nur dann für ein solches Verbrechen verantwortlich ist, wenn er mehrere Morde an Personen der Zivilbevölkerung begangen hat oder wenn er selbst das systematische oder organisierte Vorgehen, das zu Morden geführt hat, veranlaßt hat oder direkt dafür verantwortlich ist. Die zutreffende Auslegung des Begriffs des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gem. dem Völkergewohnheitsrecht umfaßt den Fall, daß das Verbrechen durch einen einzelnen Mord an einem Mitglied der Zivilbevölkerung begangen wird, sofern dies Teil eines organisierten Verhaltensmusters ist, welches auf die unterschiedslose Tötung von Mitgliedern der Zivilbevölkerung in Verfolgung einer bestimmten Politik abzielt. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt zwar nur dann vor, wenn Tötungshandlungen in einer Reihe von Einzelfällen von Personen begangen wurden, die die unmenschliche Politik systematisch durchführen. Jeder, der in einem solchen Zusammenhang Zivilpersonen tötet, macht sich eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig. Anderenfalls wäre das absurde Ergebnis, daß nur die Organisatoren von Massenmorden für ein solches Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden, nicht jedoch Personen, die durch einzelne Morde wissentlich an der Ausführung des Plans teilnehmen.
Diese Auffassung wird durch das jüngst ergangene Urteil des internationalen Strafgerichts für Jugoslawien im Fall Tadic (IT – 94 – 1, Ziff. 623) bestätigt.
Aus diesen Gründen hat sich auch der Bf. im vorliegenden Fall eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Der Umstand, daß die Tat im Jahr 1972 begangen wurde, ca. ein Jahr vor Annahme der UN-Resolution 3074 (XXVIII), durch welche die Grundsätze des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals als Völkergewohnheitsrecht bestätigt wurden, kann nicht dazu führen, die Tat nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren. Die erwähnte UN-Resolution war das Ergebnis einer längeren Debatte, die sich von 1969 bis 1972 hinzog, so daß anzunehmen ist, daß die darin zum Ausdruck gebrachte Auffassung zumindest schon in den letzten Jahren vor der Annahme der Resolution vorherrschte.

Zustimmendes Sondervotum des Richters Sir Nicolas Bratza (Vereinigtes Königreich), dem sich die Richterin Vajic (Kroatien) anschließt

Diese Richter haben zwar mit der Mehrheit gestimmt, aber nur mit erheblichen Bedenken. Sie billigen die Auffassung des Richters Pellonpää, wonach ein Soldat in der Situation des Bf. die Strafbarkeit seines Verhaltens unter den in der DDR herrschenden Zuständen und angesichts seiner Indoktrinierung wohl kaum hätte vorhersehen können, erhebliche Überzeugungskraft zu, stellen dazu jedoch fest, daß auch das Bundesverfassungsgericht solche Bedenken hatte, diese aber dann mit dem Hinweis auf die offensichtliche Unverhältnismäßigkeit des Vorgehens des Bf. überwand (vgl. die in Ziff. 80 des Urteils zitierte Passage). Ähnliche Erwägungen müssen auch den Straßburger Gerichtshof bei der Prüfung der Frage gem. Art. 7 der Konvention leiten, ob der Bf. die Strafbarkeit seines Handelns ausreichend vorhersehen konnte. Natürlich war der Bf., der als Soldat der Nationalen Volksarmee der Indoktrinierung der Rekrutenschule ausgesetzt gewesen war und Gefahr lief, daß im Falle einer gelungenen Flucht ein Militärstrafverfahren gegen ihn eingeleitet würde, in einer sehr schwierigen Lage. Unter den in der DDR herrschenden Umständen konnte der Bf. zur Zeit der Tat auch kaum vorhersehen, daß diese zu einer Anklage wegen Totschlags führen würde. Die vom Gerichtshof zu beantwortende Frage, nämlich, ob er sich der Strafbarkeit seines Verhaltens bewußt sein konnte, ist davon jedoch zu unterscheiden. Diese Frage kann zwar verschieden beantwortet werden, doch besteht keine Veranlassung, der wohl begründeten Ansicht der deutschen Gerichte nicht zu folgen, daß die Eröffnung des Feuers auf eine wehrlose Person, die versuchte, Ostberlin schwimmend zu verlassen und niemandes Leben oder Gesundheit bedrohte, so offensichtlich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieß, daß erkennbar war, daß hier gegen das gesetzliche Tötungsverbot verstoßen wurde.

Teilweise abweichendes Separatvotum des Richters Cabral Barreto (Portugal)

Die Stimmabgabe gegen die Mehrheitsmeinung zur Verletzung des Art. 7 der Konvention wird wie folgt begründet:
Der Übergang von einem „Unrechtsstaat“ zu einem Rechtsstaat wirft stets die schwierige Frage der ungesühnten Verbrechen auf, die unter dem früheren Regime begangen worden sind. Die neuere Geschichte zeigt drei Lösungsmöglichkeiten: Das vollständige Vergessen als eine Art Amnestie zur Erreichung der nationalen Versöhnung, die Bestrafung bestimmter Straftaten eines beschränkten Personenkreises und die Bestrafung bestimmter Straftaten. Wie der Gerichtshof in Ziffer 84 des Urteils betont (Ziff. 84 im Urteil K.-H.W. ist wortgleich mit Ziff. 81 im Krenz-Urteil, Anm. Red.), ist die strafrechtliche Verantwortung solcher Taten an sich legitim. Einen Staat trifft keinerlei Vorwurf, wenn er in diesem Zusammenhang die Vorschriften der Konvention beachtet. Jedoch treten bei der Bestrafung der unter einem früheren Regime begangenen Straftaten notwendigerweise schwierige Fragen der Legalität und des Rückwirkungsverbots auf. Aus diesem Grund haben manche Staaten wie z.B. auch Portugal bei der Ratifikation der Konvention einen Vorbehalt zu Art. 7 der Konvention erklärt. Diese Bestimmung verlangt eine klare Definition der Straftat durch das Gesetz, welches somit eindeutig vorhersehbar und zugänglich sein muß. Im vorliegenden Fall scheinen nicht alle diese Bedingungen erfüllt zu sein.
Zwar besteht kein Problem hinsichtlich der Zugänglichkeit der Gesetzesvorschriften, wohl aber hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit. Vor dem Dilemma, ob dem gesetzlichen Tötungsverbot oder den Befehlen der zuständigen Behörden zu folgen sei, die einen Schießbefehl zur Verhinderung der Flucht ausgegeben hatten, konnte der Bf. unter den damals herrschenden Umständen nicht erkennen, daß der Schußwaffengebrauch gegenüber einer Person, die die Grenze überqueren wollte, bei Einhaltung der Regelungen über die Abwarnung nach dem Strafgesetz seines Landes einen Mord darstellte. Es gab zu dieser Frage keine Rechtsprechung und man kann sich leicht vorstellen, welche Auskunft ein Anwalt dazu gegeben hätte. Im Gegenteil war sich der Bf. bewußt, daß Disziplinarmaßnahmen gegen ihn ergriffen würden, wenn er nach Abgabe der Warnschüsse vom Schußwaffengebrauch zur Verhinderung der Flucht absah. Man konnte vom Bf. nicht verlangen, daß er diese Fragen vom heutigen Standpunkt aus beurteilt. Vielmehr ist die Vorhersehbarkeit i.S.d. Art. 7 der Konvention nach der gefestigten Rechtsprechung vom Standpunkt einer normalen Person unter den gegebenen örtlichen und zeitlichen Bedingungen zu sehen. Demnach konnte der Bf. nicht erkennen, daß die DDR-Rechtsordnung von ihm verlangte, die Rechtfertigungsgründe außer acht zu lassen und nur das zeitliche Tötungsverbot zu beachten. Da die Strafbarkeit seines Handelns für den Bf. nicht erkennbar war, liegt in der Verurteilung des Bf. eine Verletzung des Art. 7 Abs. 1 der Konvention.
Bezüglich der weiteren Frage, ob die Tat des Bf. i.S.d. Art. 7 Abs. 2 „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“, schließt sich Richter Cabral Barreto der abweichenden Meinung des Richters Pellonpää an. Auch diese Frage muß nach den zur Tatzeit gegebenen Umständen beurteilt werden und trotz der Entwicklung, die die Grundsätze des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals genommen haben, konnte eine vereinzelte Tat wie die des Bf. im Jahre 1972 nicht als eine solche Straftat qualifiziert werden.
Schließlich hätte der Gerichtshof auch zur Frage der Verjährung zu einem anderen Ergebnis gelangen müssen. Nach DDR-Recht betrug die Verjährungsfrist 15 Jahre, so daß für die im Jahre 1972 begangene Straftat des Bf. die Verjährung im Jahre 1987 eingetreten war. Die Ausnahmebestimmung in § 84 StGB-DDR über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnte deshalb nicht greifen, weil die Tat des Bf. im Sinne des DDR-Rechts, wie dies im Jahre 1972 und auch noch 1987 in der gerichtlichen Auslegung verstanden wurde, kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellte. Im Gegenteil wurde die Tat des Bf. damals als lobenswerte Handlung angesehen. Man kann auch hier nicht die damals geltenden Konzepte durch die heutigen ersetzen. Was schließlich das Gesetz der Bundesrepublik über das Ruhen der Verjährung betrifft, wird darauf hingewiesen, daß die Rechtsnatur der Verjährung bestritten ist und man am besten davon ausgeht, daß sie einen gemischten Charakter hat, der sowohl materiellrechtliche als auch verfahrensrechtliche Aspekte umfaßt. Das bedeutet, daß das Rückwirkungsverbot zur Geltung kommt, wenn die Verjährung bereits eingetreten ist. Der Gerichtshof hat diese Frage zwar nicht direkt behandelt, im Fall Coeme gegen Belgien (Urteil vom 22.6.2000, Ziff. 146, 149-150), jedoch angedeutet, daß es nach Art. 7 der Konvention unzulässig ist, die Verjährungsfrist zu verlängern, wenn die Verjährung bereits eingetreten ist. Nur diese Lösung trägt dem Erfordernis der Rechtssicherheit Rechnung.
Im Ergebnis liegt also in diesem Fall eine Verletzung von Art. 7 der Konvention vor. Der Bf. ist eher als ein Opfer des DDR-Regimes anzusehen, das der Gerichtshof völlig zu Recht im Parallelfall Streletz, Keßler und Krenz gebrandmarkt hat.

Teilweise abweichendes Sondervotum des Richters Pellonpää (Finnland), dem sich Richter Zupancic (Slowenien) anschließt

Anders als im Fall Streletz, Keßler und Krenz haben diese Richter im vorliegenden Fall gegen die Mehrheitsmeinung des Gerichtshofs gestimmt, daß keine Verletzung des Art 7 vorliegt. Dieselben Gründe, die im Fall der DDR-Politiker dafür sprechen, keine Verletzung des Art. 7 festzustellen, müssen im vorliegenden Fall zum gegenteiligen Schluß führen. Die Politiker waren für das unmenschliche Grenzüberwachungssystem verantwortlich und können ihre diesbezüglichen Handlungen und Unterlassungen nicht mit „sauberen Händen“ rechtfertigen, der Bf. im vorliegenden Fall ist jedoch gewissermaßen ein Opfer dieses Systems. Wie der Gerichtshof in Ziff. 90 des Urteils festgestellt hat, ist das Grenzüberwachungssystem dem Bf. unter Androhung von Sanktionen „auferlegt“ worden, es stellte einen wesentlichen Bestandteil der Rechtsordnung und des sozialen Umfelds dar, dem er sein Verhalten zur Tatzeit anpassen mußte. Nach der Wiedervereinigung wurde ihm jedoch vorgehalten, er hätte seine strafrechtliche Verurteilung dadurch vermeiden können, daß er sich im Jahr 1972 von diesem Zusammenhang losgelöst und nur diejenigen Elemente der DDR-Rechtsordnung beachtet hätte, die einen Anschein von Rechtsstaatlichkeit aufwiesen.
Die Schwere der Tat des Bf. im Jahre 1972 ist keineswegs zu bagatellisieren. Es ist eine abscheuliche Tat, eine wehrlose Person zu töten und wenn der Bf. sich geweigert hätte, diese Tat zu begehen, würde er Bewunderung verdienen. Daß er sein Verhalten nicht an diesem Maßstab ausrichtete, ist für die Bewertung seiner Verurteilung unter dem Gesichtspunkt des Art. 7 der Konvention jedoch nicht entscheidend. Um den Anforderungen des Art. 7 zu genügen, muß eine strafrechtliche Verurteilung eine Rechtsgrundlage im anwendbaren Recht haben, die außerdem ausreichend zugänglich und erkennbar sein muß. Es ist daher die Frage aufgeworfen, ob zur Tatzeit der Schußwaffengebrauch durch den Bf. nach DDR-Recht mit der gem. Art 7 nötigen Zugänglichkeit und Erkennbarkeit eine Straftat darstellte. Wenn dies verneint wird, stellt sich die weitere Frage, ob die Tat nach internationalem Recht (Art. 7 Abs. 1) oder „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ strafbar war (Art. 7 Abs. 2). Es kann eingeräumt werden, daß die Verurteilung des Bf. nach DDR-Recht eine ausreichende Rechtsgrundlage hatte und daß die deutschen Gerichte die betreffenden DDR-Vorschriften (insbesondere § 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes) dem ersten Anschein nach nicht willkürlich ausgelegt haben. Auch der Umstand, daß die deutschen Gerichte unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Rechtfertigungsgründe vertraten, beraubt die betreffenden Gesetze nicht ihrer Vorhersehbarkeit. Doch zeigen diese unterschiedlichen Auffassungen, daß es keine offensichtliche Lösung für dieses Problem gab. Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß der Bf. sich an keiner Rechtsprechung zur Auslegung dieser Bestimmungen orientieren konnte.
Die Rechtsordnung, in der der Bf. lebte, bestand nicht nur aus dem Gesetzesrecht. Da die Garantie des Art. 7 „wirklichkeitsnah und effektiv“ und nicht „theoretisch und illusorisch“ zu sehen ist, kann § 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes nicht isoliert, sondern nur im Gesamtzusammenhang der DDR-Rechtsordnung betrachtet werden. Dazu gehört Art. 73 der DDR-Verfassung, wonach der Staatsrat und der Nationale Verteidigungsrat die Grundsätze im Bereich der Verteidigung und der Staatssicherheit festzulegen hatten. Wie der Gerichtshof festgestellt hat (Ziff. 65 des Urteils), hat der Bf. zweifellos Befehle befolgt, die von den in Art. 73 der DDR-Verfassung genannten Staatsorganen ausgegeben worden waren. Es ist kaum vertretbar, vom Bf. zu verlangen, daß er in der Lage war, den Widerspruch zwischen diesen Befehlen und anderen Rechtsvorschriften gem. den Regeln eines Rechtsstaats zu lösen, zumal solche rechtsstaatlichen Regeln in der DDR nicht allgemein angewandt wurden und über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften des Ministerrates und anderer staatlicher Organe der Staatsrat und nicht etwa die Gerichte zu entscheiden hatten.
Hier kommt es nicht darauf an, was die „richtige“ Auslegung des DDR-Rechts war, sondern nur darauf, ob der Bf. beim Schußwaffengebrauch nach Abgabe von Warnschüssen in zumutbarer Weise erkennen konnte, daß er sich damit der Straftat des Mordes schuldig machte. Nach DDR-Recht war dies nicht erkennbar. Deshalb ist die weitere Frage zu prüfen, ob die Tat entweder gem. Art. 7 Abs. 1 oder gem. Art. 7 Abs. 2 nach internationalem Recht strafbar war. Diesbezüglich wird zunächst darauf hingewiesen, daß der Bf., anders als die Spitzenpolitiker im Parallelfall, für den Widerspruch zwischen den in der DDR-Verfassung und -Gesetzgebung niedergelegten Grundsätzen und der repressiven Praxis nicht verantwortlich gemacht werden kann. Auch der Beschluß des 1990 demokratisch gewählten DDR-Parlaments, die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts sicherzustellen, war wohl nicht für Personen in der Lage des Bf. bestimmt. Der Umstand, daß dieser sich freiwillig zum Armeedienst gemeldet hatte, zeigt ebenfalls kein besonderes Engagement für das unmenschliche Grenzregime an, denn nach den Feststellungen der Gerichte tat er dies nur widerwillig und auf Drängen seines Vaters, eines Berufssoldaten. Der freiwillige Dienst ist daher eher ein Anzeichen für mangelnde Unabhängigkeit und Reife als für besondere Regimetreue. Jedenfalls kann auch diese freiwillige Meldung nichts wesentliches zur Erkennbarkeit der Strafbarkeit beigetragen haben.
Zwar konnte die Politik der DDR bezüglich ihres Grenzregimes schon in den 70er Jahren als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der durch die Prinzipien des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals eingeleiteten Entwicklung qualifiziert werden und dies würde im Hinblick auf Art 7 Abs. 2 der Konvention eine Verurteilung der für diese Politik Verantwortlichen rechtfertigen. Es ist jedoch eine andere Frage, ob eine einzelne Tat wie die des Bf. als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden kann. Wie immer die Antwort auf diese Frage heute ausfallen mag, war dies jedenfalls 1972 nicht der Fall. Deshalb ist auch die Resolution 95 (I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Auch andere Rechtsquellen weisen nicht auf eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Völkerrecht hin. Die Rechtsvergleichung zeigt, daß auch demokratische Staaten einen tödlichen Schußwaffengebrauch an der Grenze tolerieren. Dazu wird auf einen Beschluß des Bundesgerichtshofs (BGHSt. 35, 379) verwiesen, in welcher ein solcher Schußwaffengebrauch an der deutsch-niederländischen Grenze gegen eine eines Drogendelikts verdächtige Person als gerechtfertigt angesehen wurde. Auch aus dem Schutz des Lebens gem. den internationalen Menschenrechtsverträgen kann eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit im Jahre 1972 nicht abgeleitet werden. Im Ergebnis liegt also eine Verletzung des Art. 7 der Konvention vor, jedoch keine Diskriminierung i.S. d. Art. 14 der Konvention. Angesichts des milden Urteils würde die Feststellung der Konventionsverletzung dem Bf. eine ausreichende Entschädigung i.S. d. Art. 41 der Konvention geboten haben.

Bearbeitung und Übersetzung:
Dr. Wolfgang Strasser, Straßburg

(Beide Urteile sind der Europäischen Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) vom 29. Juni 2001 entnommen, 28. Jahrgang, HEFT 8-10)

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