Nachbetrachtung zu den Politbüroprozessen.
Von Dietmar Jochum, TP Presseaagentur Berlin.
Die jetzt in Kroatien lebende Bürgerrechtlerin aus der ehemaligen DDR, Bärbel Bohley, die eines auf jeden Fall ganz genau weiß, nämlich, daß Erich Mielke „ganz bestimmt nicht in den Himmel“ kommt, hatte zum Urteilsspruch im 2. Politbüro-Prozeß auch nicht viel Erhellenderes mitzuteilen.
Mit „skandalös“ und „Schweinerei“ kommentierte sie laut Presseberichten die Freisprüche für die dort angeklagten ehemaligen Mitglieder des SED-Politbüros Hans-Joachim Böhme, Herbert Häber und Siegfried Lorenz.
Damit sprach sie denjenigen, die von der Justiz, wenn es um ihre – wenn auch berechtigte – Interessen geht, auch den glatten Rechtsbruch verlangen, mehr als nur aus dem Herzen.
Für den objektiven Betrachter stellt sich hier zwangsläufig die Frage, wer sich wirklich noch nicht von der alten DDR verabschiedet hat: diejenigen, die auf den Anklagebänken sitzen oder saßen, oder diejenigen, die sie mit aller Gewalt dort sehen wollen/wollten.
Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die politisch Verantwortlichen in der ehemaligen DDR ihre eigenen Gesetze mit „ideologischen Klassenzielen“ überlagerten, die letztendlich zu den ihnen vorgeworfenen Todesfällen an Mauer und Stacheldraht geführt haben, so entsteht bei den von ehemaligen Bürgerrechtlern zu vernehmenden Rufen nach Verurteilungen der nicht von der Hand zu weisende Verdacht, daß es der Rechtsstaat nun auch nicht so genau mit den in seinen Gesetzbüchern formulierten Vorschriften nehmen soll.
Gerecht scheint für sie demnach das zu sein, wenn im Rechtsstaat gleichermaßen über die dort vorhandenen Gesetze gesprungen wird – sogar wenn in der DDR streng nach dort geltendem (wie auch immer zu wertenden) Recht gehandelt worden ist, das aber grundsätzlich nicht anerkannt oder als dagegen verstoßen bewertet wird.
Bei beiden Alternativen kann so auch getrost das Rückwirkungsverbot, das garantiert, daß Handlungen, die zum Zeitpunkt ihrer Ausübung nicht mit Strafe bedroht waren, nachträglich nicht kriminalisiert werden können, ignoriert werden.
Wenn in der ehemaligen DDR die Gesetze (hier das Grenzgesetz) jedoch mit Tötungsbefehlen überlagert wurden, dann bedarf es freilich keiner Sprünge im Rechtsstaat, um zu entsprechenden strafrechtlichen Ergebnissen zu kommen. Dann liegt eine strafrechtliche Tatbestandsmäßigkeit nach den allgemeinen Strafgesetzen der DDR (z.B. Mord, Totschlag usw.) vor, die es den nun gesamtdeutschen Gerichten nach dem Einigungsvertrag auch erlaubt, entsprechende Strafvorschriften anzuwenden.
Im Einigungsvertrag wurde vereinbart, daß über in der ehemaligen DDR begangene Straftaten nur nach DDR-Recht geurteilt werden darf, mit der Einschränkung, daß es sich bei der Tatbestandsbeurteilung strenger erweist, als das der alten Bundesrepublik. Hätte jemand, der einen anderen vorsätzlich getötet hat, nach ostdeutschen Straftatbestandskriterien einen Mord, nach westdeutschen jedoch „nur“ einen Totschlag begangen, so wäre er nach den im Einigungsvertrag festgesetzten Regelungen eben nur wegen Totschlags zu bestrafen. Und einen solchen wollten die Befürworter der Prozesse gegen Grenzsoldaten sowie politisch und militärisch Verantwortliche in der ehemaligen DDR für jedes getötete Mauer- und Grenzopfer juristisch mindestens festgestellt wissen. Auch wenn es nur das mildere Recht der Bundesrepublik ist.
Dem ist das Gericht im ersten Politbüro-Prozeß gegen Günther Kleiber, Egon Krenz und Günter Schabowski gefolgt.
Das DDR-Grenzgesetz, das regelte, daß im Falle eines unerlaubten Grenzübertritts von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden darf, wenn der Grenzübertritt nicht mit anderen Mitteln verhindert werden kann, war für die 27. Strafkammer des Landgerichts Berlin, soweit sie das Grenzgesetz überhaupt als Rechtfertigung zur Verhinderung einer Flucht anerkannt hatte, mit einem „ideologischen Schießbefehl“ überlagert gewesen, der in jedem Falle eine „Vernichtung des Grenzverletzers“ zum Ziel haben sollte oder der Tod des Flüchtlings wenigstens billigend in Kauf genommen worden sei.
So sei es also nicht darum gegangen, daß die im Grenzgesetz, auf das sich die Angeklagten nach Ansicht des Gerichts irrigerweise berufen haben, noch vorgesehene Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibe, das Leben eines Grenzverletzers nach Möglichkeit zu schonen, sondern eine Kausalkette in Gang zu setzen, daß neben den jeweiligen militärischen Instanzen von oben nach unten auch der letzte an Grenze und Mauer vergatterte Grenzsoldat nicht das Gesetz, sondern den Willen der politisch Mächtigen zu erfüllen hatte. Das war für das Gericht nach DDR-Recht Mord, nach BRD-Recht Totschlag.
Ausgemacht haben wollen die Richter den Tötungswillen von Krenz & Co. an zwei Beschlüssen des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986, mit denen die Mitglieder dieses Gremiums zwei Berichte „zustimmend zur Kenntnis genommen“ hatten sowie zusätzlich – jedoch nur im Falle Krenz‘ – an zwei Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) vom 2. Februar 1984 und 25. Januar 1985.
Am 11. Juni 1985 behandelte das Politbüro den „Bericht der NVA (Nationalen Volksarmee) über die politisch ideologische Arbeit zur Verwirklichung des vom X. Parteitag der SED übertragenen Klasenauftrages“.
Die Einreicher dieses Berichts waren Heinz Keßler, Egon Krenz, Horst Dohlus und Wolfgang Herger.
Am 11. März 1986 behandelte das Politbüro den „Entwurf des Berichts des Zentralkomitees der SED an den XI. Parteitag“.
Einreicher dieses Berichtes war Erich Honecker.
Es handelte sich wohl bemerkt um einen Entwurf, dem das Zentralkomitee (ZK) noch zustimmen mußte. Die Politbüromitglieder haben ihn lediglich zustimmend zur Kenntnis genommen. Den letzten Schliff vor dem Parteitag verpaßte ihm also das ZK, dem die Politbüromitglieder zwar auch angehörten, aber bei der Mitgliedsstärke dieses Gremiums in der Minderheit blieben. Erst nach der Zustimmung durch das ZK galt der Entwurf als „Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag“ und wurde dann auf diesem von Erich Honecker vorgetragen. Und vom Parteitag, der damit das allerletzte Wort sprach, gebilligt.
Im Bericht vom 11. März 1986 heißt es im „Abschnitt V. – Der sozialistische Staat und die Hauptrichtung seiner Entwicklung“ u.a.:
„Die NVA, die Grenztruppen der DDR, das Ministerium für Staatssicherheit, die deutsche Volkspolizei und die anderen Organe des Ministeriums des Innern, die Kampftruppen der Arbeiterklasse und die Angehörigen der Zivilverteidigung erfüllen standhaft ihren Klassenauftrag, die sozialistische Ordnung und das friedliche Leben der Bürger gegen jeden Feind zu schützen.“
Aus dem Begriff „Klassenauftrag erfüllen“ leitete das Gericht, die 27. Strafkammer des Berliner Landgerichts und der Bundesgerichtshof (BGH) im 1. Politbüroprozeß gegen Krenz & Co. eine Kausalität zur Anwendung der Schußwaffe auch gegen Flüchtlinge ab. Das Grenzgesetz der DDR spielte für die Richterinnen und Richter des Landgerichts und des BGH’s keine Rolle mehr. Es sei durch diesen „Klassenauftrag“ – offensichtlich mangels Auffindens eines realen – mit dem „ideologischen Schießbefehl“ überlagert worden. Auch hätten die Angeklagten die früher gebräuchliche Formulierung des Auftrages bezüglich Grenzverletzer, „ihn zu vernichten“, im Zusammenhang mit der Ausbildung der Armeeangehörigen und der Erzeugung eines „illusionsfreien Feindbildes“ aufgegriffen.
Daß hierbei keineswegs Flüchtlinge gemeint waren, die ihren Staat verlassen wollten, macht die Stellungnahme des Politbüros zum Bericht der Politischen Hauptverwaltung vom 11. Juni 1985 deutlich, in der es heißt:
„Überzeugend ist den Armeeangehörigen zu erläutern, daß der Sinn des Soldatseins im Sozialismus darin besteht, den Frieden zu sichern und den Krieg durch hohe Wirksamkeit und Gefechtsbereitschaft zu bekämpfen, bevor er ausbricht. Das erfordert, die Armeeangehörigen so zu erziehen und auszubilden, daß sie fähig sind, die Ziele des Aggressors zu durchkreuzen und ihn zu vernichten.“
Der „Klassenauftrag“ bezog sich offensichtlich nicht auf die Vernichtung eines x-beliebigen Grenzverletzers (Flüchtlings) schlechthin, sondern auf Truppen eines Kriegsgegners, die die DDR angreifen würden.
Das kann auch daraus geschlossen werden, daß in den den Politbüro- bzw. ZK-Beschlüssen jeweils folgenden Jahresbefehlen des Verteidigungsministers und Chefs der Grenztruppen nicht von einer „Vernichtung“ von Grenzverletzern die Rede ist, sondern diese „festzunehmen“ sind. Das wird im Urteil des Landgerichts vom 25. August 1997 auch eindeutig festgestellt.
Wie die Richter des Landgerichts und des BGH dennoch den „Klassenauftrag“ als kausal zur Anwendung der Schußwaffe gegen Flüchtlinge verstanden wissen wollten, ist nur sehr schwer nachvollziehbar.
Eine große Anzahl von Rechtsprofessoren in Deutschland empfand daher das Urteil auch aus unterschiedlichen Gründen als juristisch nicht vertretbar. Der Rechtshistoriker und Zivilrechtler an der Freien Universität Berlin. Prof. Dr. Uwe Wesel, war sogar empört darüber, daß das Gericht in seiner Urteilsbegründung mit keinem Wort auf das im Jahre 1952 vom Bundestag beschlossene starre Festhalten am Rückwirkungsverbot eingegangen ist und dennoch verurteilt hat.
Wesels verständlicher Zorn bezog sich darauf, daß die Bundesrepublik Deutschland zwar die am 4. November 1950 von den Regierungen und Mitgliedern des Europarates vereinbarte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) ratifizierte, der Artikel 7 Absatz 2 dieser Konvention, der das in Absatz 1 dieses Artikels statuierte Rückwirkungsverbot jedoch nicht auf Handlungen oder Unterlassungen ausgedehnt wissen wollte, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren, vom Deutschen Bundestag im Jahre 1952 jedoch ausdrücklich nicht in innerdeutsches Recht (der Bundesrepublik) transformiert wurde. Und es auch bis zum heutigen Tage nicht nachgeholt hat. So klagte Egon Krenz auch konsequent auf Verletzung des Rückwirkungsverbotes beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der diese Klage auch konsequent zuließ.
Aber war – und das ist die sich aufdrängende Frage – das Rückwirkungsverbot überhaupt noch berührt, nachdem die Richter der 27. Strafkammer sich zu der Tatsachenfeststellung entschlossen haben, daß die angeklagten Politbüromitglieder eben nicht nach dem in der DDR geltenden Grenzgesetz gehandelt, sondern dieses Gesetz rechtswidrig mit Tötungsbefehlen überlagert haben; somit hätten sie nicht nur gegen die allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze (die die Bundesrepublik allerdings bis heute durch das starre Festhalten am Rückwirkungsverbot seit dem Jahre 1952 außen vor ließ), sondern auch gegen DDR-Strafrecht verstoßen, das die eigentliche Grundlage für die Prozesse bilden soll und von daher eher die Ignorierung des Rückwirkungsverbotes rechtfertigen könnte, wenn denn dagegen verstoßen worden ist.
Wäre deshalb nicht noch verstärkter und in erster Linie Kritik an den Tatsachenfeststellungen als solchen, als an dem durch diese Sachverhaltsdarstellung das Rückwirkungsverbot ignorierenden Urteilsspruch angebracht gewesen, der durch solche – für viele eher konstruiert wirkenden – Tatsachenunterstellungen nach außen plausibel gemacht werden sollte?
Uwe Wesel sah dann auch in diesem Urteil das Gericht am Rande der Rechtsbeugung sich bewegen, und auch die Angeklagten und ihre Verteidiger wiesen die Kausalität der Politbürobeschlüsse an den Todesfällen an Mauer und Stacheldraht als strafrechtlich relevant massiv für sich zurück. Insofern beriefen sie sich auch konsequent auf das Rückwirkungsverbot und damit auf das im Jahre 1982 in Kraft getretene Grenzgesetz der DDR, in dem sie – auch wenn sie persönlich bedauerten, daß es dabei zu Todesfällen gekommen ist – eine Rechtfertigung sahen, eine Flucht aus der DDR zur Not auch mit Waffengewalt zu verhindern. Eine Befehlsüberlagerung dieses Gesetzes habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Schon gar nicht durch die Politbürobeschlüsse vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986.
Auch die nur Krenz zugerechneten Beschlüsse vom 2. Februar 1984 und vom 25. Januar 1985, in denen es zum einen um „Maßnahmen, die sich aus den Festlegungen zur Gestaltung der Friedrichstraße und zur beschleunigten Durchführung des Wohnungsbaus in der Hauptstadt der DDR, Berlin, für den Ausbau der Staatsgrenze zu WEST-BERLIN ergeben haben“ und zum anderen um „Festlegungen zur weiteren Erhöhung der Wirksamkeit und der Verantwortung bei dem Schutz der Staatsgrenze der DDR“ geht, lassen ebenfalls nur sehr schwer eine strafrechtlich relevante Kausalität zur konkreten Anwendung der Schußwaffe gegen Flüchtlinge erkennen.
Auch die ausführlichen Erläuterungen des stellvertretenden Verteidigungsministers Fritz Streletz als Zeuge im 1. Politbüro-Prozeß, der unwiderlegt darlegte, daß in der ehemaligen DDR alles unternommen worden ist, daß potentielle Grenzverletzer erst gar nicht in einen Gefahrenbereich gelangen können (Einrichtung von Schutz- und Sperrzonen), hätten den Richterinnen und Richtern doch eigentlich deutlich machen müssen, daß es an der DDR-Grenze nicht darum gegangen ist, pur zu vernichten und schon gar nicht, wie der ehemalige ARD-Korrespondent in Ostberlin, Lothar Loewe, sich einst ausdrückte, die Menschen abzuschießen wie die Hasen, sondern konsequent darauf zu achten, daß es gar nicht erst dazu kommt, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Schließlich habe man in der DDR auch gewußt, daß Todesschüsse an Grenze und Berliner Mauer dem DDR-Renomee international schadeten und man es deshalb gar nicht erst soweit kommen lassen wollte. Daß es dennoch dazu kam, sei bedauerlich, denn „jeder Tote“ sei „ein Toter zuviel gewesen“.
Daß die beiden Politbürobeschlüsse vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986, aber auch die NVR-Beschlüsse vom 22. Februar 1984 und vom 25. Januar 1985 ursächlich im Sinne von aktivem Tun für die Todesfälle an Mauer und Stacheldraht waren, davon war offensichtlich noch nicht einmal Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz sowohl im ersten als auch im zweiten Politbüro-Prozeß überzeugt. So klagte er die jetzt Verurteilten Günther Kleiber, Egon Krenz und Günter Schabowski auch nicht auf Totschlag durch aktives Tun an, sondern auf Totschlag durch Unterlassen, weil sie „lediglich“ das bereits vor ihrer Mitgliedschaft schon installierte und gefestigte Grenzregime nicht abgeschafft und humanisiert, sondern – wie gehabt – aufrechterhalten hatten.
Zwar verschärfte das Gericht – die 27. Strafkammer unter Mitwirkung des später wegen Befangenheit weichenden Vorsitzenden Richters Hansgeorg Bräutigam – den Anklagevorwurf dennoch auf Totschlag durch aktives Tun, der Staatsanwalt blieb jedoch zunächst bei seiner Anklagevariante. Erst nachdem die beiden Politbürobeschlüsse vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986 im Selbstleseverfahren in den Prozeß eingeführt worden waren, entschloß sich auch Oberstaatsanwalt Jahntz in seinem Schlußvortrag (vergl. Dietmar Jochum, Die Plädoyers und das Urteil im Politbüro-Prozeß, Berlin 1998) auf Totschlag durch aktives Tun zu plädieren.
Auch im zweiten Politbüro-Prozeß gegen Hans-Joachim Böhme, Herbert Häber und Siegfried Lorenz klagte Jahntz zunächst alle Beschuldigten nur wegen Totschlags durch Unterlassen an, obwohl er es diesmal – zumindest im Falle Häber, der am Beschluß vom 11. Juni 1985 beteiligt war – hätte „besser wissen“ können. Und müssen. Das in diesem Verfahren zuständige Gericht – die 32. Strafkammer beim Landgericht Berlin – erließ diesmal einen der Anklage entsprechenden Eröffnungsbeschluß, ohne die Anklage zu verschärfen. Im Falle des Angeklagten Häber, der allerdings am 1. Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 beteiligt und dann noch vor dem 2. Beschluß aus dem Politbüro entfernt worden war (die Angeklagten Böhme und Lorenz wurden erst im Mai 1986 Vollmitglieder des Politbüros), wollte der Oberstaatsanwalt dann für einen während Häbers Zugehörigkeit zum Politbüro erfolgten Todesfall an der Grenze eine Verschärfung des Anklagevorwurfs auf Totschlag durch aktives Tun nachträglich durch einen rechtlichen Hinweis des Gerichtes in das Verfahren eingeführt wissen.
Die Strafkammer ließ sich davon jedoch nicht beeinflussen und beließ es diesmal bei der Anklage auf Totschlag durch Unterlassen. Und weil den Angeklagten nach Ansicht der Kammer nicht nachgewiesen werden konnte, daß sich etwas an dem Grenzregime, das ja schließlich auch eines zwischen zwei Machtblöcken war (NATO und Warschauer Pakt), geändert haben würde, wenn sie versucht hätten, etwas dagegen zu unternehmen, wurden sie schließlich – sehr zum Verdruß von Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz – freigesprochen.
Es stellt sich die Frage, warum Oberstaatsanwalt Jahntz zunächst immer nur auf Totschlag durch Unterlassen angeklagt und erst im Verlauf der jeweiligen Verfahren sich zur Änderung des Anklagevorwurfs (Totschlag durch aktives Tun) entschlossen hatte.
Offensichtlich war auch der Oberstaatsanwalt nicht davon überzeugt, daß er mit einem schärferen Anklagevorwurf durchdringen konnte und zunächst mit einem milderen vorfühlen wollte.
Im ersten Politbüro-Prozeß haben ihn die Richter der 27. Strafkammer des Landgerichts Berlin für seine anfängliche Zurückhaltung eher noch gerügt, indem sie von sich aus den Anklagevorwurf verschärften; die Richter der 32. Strafkammer haben jedoch eindeutig seine nachgeschobenen Wünsche zurückgewiesen.
Am 15. Oktober 2000 hat er eine 288-seitige Revisionsschrift gegen die Freisprüche im 2. Politbüro-Prozeß eingereicht.
Der Bundesgerichtshof, der die Verurteilungen gegen Günther Kleiber, Egon Krenz und Günter Schabowski bestätigte, wird nun über die Revision zu entscheiden haben. Selbst die Anwälte von Böhme, Häber und Lorenz sind skeptisch, daß der BGH sich diesmal zur Bestätigung der Freisprüche durchringen wird. Dazu sind sie schon zu oft eines schlechteren belehrt worden.
Immerhin hat der Nebenklägervertreter – aus welcher Laune heraus auch immer – auf eine Revision im Falle Häber, der sich als ein Opfer des Politbüros bezeichnet (Statist auf Abruf), verzichtet. Aber ob das ein Umdenken im nunmehr über 10 Jahre andauernden Kampf der bundesdeutschen Justiz gegen – wie auch immer geartetes – Unrecht in der ehemaligen DDR nach sich zieht, bleibt fraglich.
Kurz vor Weihnachten 2000 kündigte Oberstaatsanwalt Jahntz weitere Verfahren wegen der Toten und Verletzten an Mauer und Stacheldraht gegen Grenzsoldaten und militärisch Verantwortliche an.
Ein Ende ist also nach über 10 Jahren deutscher Wiedervereinigung immer noch nicht in Sicht.
Ein Ende gab es allerdings für die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin. Diese wurde zum Jahresende 2000 aufgelöst. Sie war an den Ermittlungen gegen die Politbüromitglieder und Grenzsoldaten von Anfang an beteiligt.
Dietmar Jochum, TP Berlin, Januar 2001
Fotoquelle: TP Presseageentur Berlin