Durch Abstimmung mit den Füßen das System in Frage gestellt.

TP-Interview mit Heinrich Lummer.

TP: Herr Lummer, Sie sind der bislang mir einzig bekannte Politiker, der auf ein Schreiben von 131 Duma-Abgeordneten an den Deutschen Bundestag geantwortet hat. Die Duma-Abgeordneten prangern in ihrem Schreiben eine Diskriminierung von ehemaligen DDR-Bürgern an und stellen auch die derzeit geführten Prozesse gegen ehemalige politische Funktionsträger der DDR, z.B. gegen Egon Krenz, in Frage.
In Ihrem Antwortschreiben gehen Sie auch auf den, wie Sie schreiben, „durch die DDR-Führung praktizierten Schießbefehl“ ein. Wie sah dieser Schießbefehl Ihrer Meinung nach aus?

Lummer: Es ist viel über diesen Schießbefehl geredet worden. Manchmal hat man auch das Beiwort „sogenannt“ hinzugefügt, aber es hat in der Praxis nie einen Zweifel daran gegeben, daß die Grenzsoldaten verpflichtet waren, in konkreten Situationen auf Flüchtlinge zu schießen; und sie sind ja auch gelegentlich dafür ausgezeichnet worden, wenn sie es getan hatten. Und das ist in der Sache etwas, was unserem Recht genauso widerspricht wie internationalem Recht; denn wenn jemand den Weg von einem Teil Deutschlands in den anderen nimmt, ist das rechtlich vollkommen in Ordnung; außerdem gibt es im Rahmen der Pakte der Vereinten Nationen die Möglichkeit, sein eigenes Land zu verlassen, ohne daß man dafür erschossen wird.

TP: War dieser Schießbefehl Ihrer Meinung nach nun eine Anordnung von oben, war das ein Gesetz oder eine Bestimmung oder was war das nun?

Lummer: Ein Gesetz war es nicht, sondern es war eine Anordnung, die von seiten des Zentralkomitees verfügt worden ist, und insofern hatte er für die Soldaten praktisch in der Form des Befehls rechtliche Verbindlichkeit, so daß man, glaube ich, diese Frage, was das der Rechtswirklichkeit nach war, gar nicht weiter prüfen muß. Für den einzelnen Soldaten, der im Grenzdienst tätig war, konnte eine andere Qualifikation als Verpflichtung daraus nicht abgelesen werden. Insofern muß die Führung der DDR für diesen Schießbefehl geradestehen, und sie hat auch nicht die Möglichkeit nach Lage der Dinge, dieses abzuwälzen auf die Sowjetunion, wiewohl das natürlich heute in einer Flucht vor sich selbst Leute wie Herr Krenz zu tun versuchen.

TP: Der Schießbefehl war demzufolge Ihrer Meinung nach nichts von der Volkskammer beschlossenes?

Lummer: Nein, es ist nicht den parlamentarischen Weg gegangen, aber das trifft ja auf viele, viele Anordnungen der ehemaligen DDR zu, daß Verbindlichkeiten im Rechtsbereich nicht nur geschaffen worden sind durch das Parlament, sondern auch durch Entscheidungen des Zentralkomitees und des Politbüros.

TP: Der „Schießbefehl“, so wie sie ihn hier zitieren und erklären, bestand ja schon seit so und so viel Jahren. Trotzdem ist die DDR bzw. auch ihre Grenze von der Bundesrepublik Deutschland 1972 durch den Grundlagenvertrag anerkannt worden. Auch spätere Regierungen, also auch die CDU/CSU, haben ebenfalls die DDR anerkannt, haben also an dem 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag nicht gerüttelt, haben also mit diesem Staat zusammengearbeitet.
Wie kann man nun mit einem solchen Staat zusammenarbeiten, den man wegen seines Schießbefehls ablehnt, also quasi mit einem Staat paktieren, der Leute erschießen läßt, die von ihrem Recht Gebrauch wollen, diesen Staat zu verlassen.

Lummer: Es gibt in der internationalen Politik immer wieder Situationen, die man, salopp ausgedrückt, als ungereimt bezeichnen muß, als widersprüchlich, manchmal auch als widersinnig oder schizophren.
Auch die Alliierten Mächte haben ja mit Hitler-Deutschland Vereinbarungen gehabt, es war ein anerkannter Staat. Und deswegen ist noch nicht jedes, was dieser Staat tut, international akzeptiert und legitimiert. Auch wenn ein solcher Staat auf die Anerkennung oder die Mitgliedschaft etwa in den Vereinten Nationen, wie etwa die DDR, verweisen kann, muß gleichwohl das Recht eines solchen Landes immer überprüft und gemessen werden an vorstaatlichen Rechtsordnungen. Und das betrifft genauso die DDR wie eine Reihe von anderen Staaten, die völkerrechtlich anerkannt sind und mit denen wir diplomatische Beziehungen haben, gleichwohl sind manche Gesetze verbrecherisch und möglicherweise werden ihre Führer, wenn man sie denn hätte, vor Gericht kommen wie etwa Saddam Hussein.

TP: Nun hätte man ja den Verantwortlichen eher beikommen können als nach dem Zusammenbruch der DDR. Man hätte Honecker 1987 z.B. auch schon festnehmen können, statt dessen ist man hingegangen und hat sogar ein Straffreiheitsgesetz für ihn erlassen.

Lummer: Ja, das ist richtig, und das ist eine jener weiteren Ungereimtheiten, die in diesem Zusammenhang immer wieder aufgetaucht sind. Ich finde, man kann dieses Problem, das nicht neu ist, das immer noch existiert, nur dadurch lösen, daß man im Bereich der Vereinten Nationen ein kodifiziertes Recht erläßt, das von vornherein Diktatoren und Herrschern totalitärer Staaten klarmacht, was sie zu erwarten haben. Auf die Dauer ist es nicht erträglich, daß man im nachhinein, etwa heute, im Regelfall die Größen der DDR nur gemessen werden am Recht, das die DDR gehabt hat. Auch der Nürnberger Prozeß ist ja ein Prozeß gewesen, der eigens geschaffen worden ist und wo Leute verurteilt worden sind nicht nach nationalsozialistischem Recht, nach deutschem Recht, sondern nach einem internationalen Recht, das die Sieger geschrieben haben, aber erst im nachhinein. Ich finde, wir müssen von vornherein dieses Recht kodifizieren, das über staatliches Recht hinausgeht, damit nicht die Situation eintritt, wie diese Duma-Abgeordneten sagen, hier werden Leute verurteilt nur weil sie Soldaten, Generale, Richter oder Staatsanwälte der DDR gewesen sind. Bei uns wird niemand verurteilt, weil er Staatsanwalt der DDR gewesen ist, sondern er wird verurteilt, wenn er etwa DDR-Recht verletzt hat oder vorgelagertes Recht. Das ist keine Erfindung von uns, sondern auch die Volkskammer, d.h. die frei gewählte Volkskammer jetzt, hat ja diesen Grundsatz aufgestellt und hat die ersten Verfahren gegen solche Leute wie Harry Tisch und verschiedene andere eingeleitet.

TP: Da wir für dieses kodifizierte Recht, wie Sie es eben erklärt haben, vorher nicht gesorgt haben, müßte man demzufolge diese Leute, die heute vor Gericht stehen, nicht „laufen lassen“? Wir haben ja schließlich auch ein Rückwirkungsverbot.

Lummer: Es gibt ein Rückwirkungsverbot, aber hier werden ja keine Gesetze gemacht im Vereinigten Deutschland, die rückwirkend irgendwelche DDR-Größen benachteiligen, sondern wir rekurrieren auf internationale Pakte, die die DDR selber akzeptiert hat, wie etwa den Pakt über Bürgerrechte und Menschenrechte…

TP: … ihn aber nicht in staatliches Recht umgesetzt hat…

Lummer: … nicht umgesetzt hat…, aber ich bin schon der Meinung, wenn ein Staat Mitglied der Vereinten Nationen ist und diesen Pakten beitritt, dann muß er sich auch daran messen lassen – wie gesagt, das ist ja nicht einmalig in der Geschichte, sondern in Nürnberg ist ein solcher Versuch gewesen, jetzt allerdings für Jugoslawien ist ein eigener Gerichtshof mit einem eigenen Kodex eingeführt worden. Die Vereinten Nationen arbeiten ja an diesem generellen Kodex, und ich hoffe, daß er möglichst bald fertig wird, damit wir diese Problematik endlich mal los werden.

TP: Wird ein Staat, der die Hoheitsträger eines anderen Staates, die er vorher in Kenntnis ihrer Verfehlungen hofiert hat, nicht unglaubwürdig, wenn er diese Hoheitsträger nach dem Zusammenbruch dieses Staates vor Gericht stellt?

Lummer: Bis zu einem gewissen Grade -ja, weil natürlich jeder aufmerksame Bürger die innere Konsequenz der praktischen Politik nicht erkennen kann und sie vermißt. Aber das ist nun mal eben die Welt, in der wir leben. Wir haben mit Ländern diplomatische Beziehungen, deren innere Staatsordnung uns überhaupt nicht gefällt und die gemessen eben an den Grundsätzen der Menschenrechte nicht akzeptabel sind. Das gilt heute z.B. auch noch für China. Die Debatte haben wir auch alle Tage über solche Fragen. Nur, wie wollen Sie das Problem lösen? Eine absolute Abkehr? Eine Isolationspolitik ist manchmal möglich, manchmal aber auch nicht wirkungsvoll, so daß man immer nach dem Motto operiert, das kleinere Übel umzusetzen und das heißt, den Versuch zu machen, China so weit wie möglich dazu zu bewegen, die Menschenrechte zu beachten, ohne daß man China aus der Volksgemeinschaft rausschmeißt, zumal es ja auch ein riesengroßes Land ist. Das ist die Kollision, die immer wieder auftaucht zwischen der praktischen Politik, Machtpolitik vielleicht sogar auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Realisierung der Menschenrechte.

TP: Was wäre einem Staatsanwalt passiert, der 1987 gesagt hätte, ihn interessiere das Straffreiheitsgesetz nicht, das Legalitätsprinzip gehe für ihn vor, und hätte Honecker wegen der Toten und Verletzten an Mauer und Grenze festnehmen lassen?

Lummer: Ich weiß nicht, was ihm passiert wäre, aber wahrscheinlich wäre er doch von vielen als Held gefeiert worden.

TP: Heute wird von den Angeklagten und Verteidigern im Politbüroprozeß immer wieder das Rückwirkungsverbot ins Feld geführt, auf das sie sich beziehen, weil sie nicht für etwas bestraft werden dürften, was zu DDR-Zeiten rechtens war. In diesem Zusammenhang wird auch von ihnen gefordert, das Bundesverfassungsgerichtsurteil in Sachen Keßler, Streletz und Albrecht abzuwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat die rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafen gegen diese drei Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates mit der Begründung einstweilen ausgesetzt, weil es noch keine eindeutige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Rückwirkungsverbotes und völkerrechtlicher Fragen insofern gibt, ob politische Verantwortliche der ehemaligen DDR für die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Wäre das für Sie eine Möglichkeit, eben dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes abzuwarten, bevor in den Prozessen gegen Egon Krenz und andere weiterverhandelt wird?

Lummer: Das Rückwirkungsverbot steht außer Frage. Das ist ein Grundsatz, der bei uns absolut akzeptiert und anerkannt ist. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Vergangenheit und die des BGH haben deutlich gemacht, daß so etwas nicht in Frage kommt. Darum geht es aber hier nicht, sondern hier geht es nun darum, entweder haben sie DDR-Recht verletzt – auch das gibt es ja, daß bestimmte Personen das eigene Recht, das gesetzt worden ist, übersehen haben – oder aber eben internationales Recht, von dem man sagt, es hat höhere Qualität und ist jedem staatlichen Recht vorgelagert. Und das ist dann keine Verletzung des Rückwirkungsverbotes, sondern es ist eben die Tatsache, daß man ein Recht hat, und das hätten auch diese Herren im Grunde wissen müssen, und ich denke, sie haben es auch gewußt.

TP: Das ist jetzt Ihre persönliche Meinung, die Sie hier vertreten; das Bundesverfassungsgericht spricht dagegen in den Beschlüssen, mit denen es die Freiheitsstrafen gegen Keßler, Streletz und Albrecht ausgesetzt hat, davon, daß es eben verfassungsrechtlich eben letztlich nicht geklärt ist, ob Mitglieder der DDR-Führung für die Todesfälle an der Mauer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können bzw. ob einer Bestrafung das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht entgegensteht. Wäre es demzufolge nicht doch besser angebracht, dieses Urteil abzuwarten, um so mehr Rechtssicherheit zu haben, bevor gegen Krenz und andere weiterverhandelt wird?

Lummer: Das kann man machen; obwohl ich persönlich keine Zweifel an der Schuld dieser Leute habe, unterwerfen wir uns doch immer den Entscheidungen der höchsten Gerichte, auch wenn sie einem dann und wann nicht passen.

TP: Wie beurteilen Sie die von der Verteidigung im Politbüroprozeß aufgestellte These von den beiden Lebenslügen in Deutschland: Früher hat man immer so getan, als existiere die DDR nicht (man hat sie auch teilweise in Anführungsstriche gesetzt – Sie wissen, wovon ich spreche), und heute tue man alles, um sie so souverän wie möglich zu machen. Insofern würde der Prozeß in Berlin zu einem verlogenen Verfahren.

Lummer: Ach, das will ich nicht sagen, kann ich auch nicht sagen, möchte ich auch nicht sagen. Wir haben im Grunde die Anführungszeichen gestrichen zu einem Zeitpunkt, wo die DDR sich selber ad absurdum geführt hat und wo deutlich wurde, sie hat zu Recht die Anführungszeichen gehabt. Es war in dem Sinne kein demokratisch legitimierter Staat. Aber sei es drum, wir haben eine Politik betrieben über lange Zeit, die davon gekennzeichnet war, es gibt nur ein Deutschland und die DDR ist ein illegitimer Staat, haben dann aber in Akzeptanz jenes Grundsatzes von der normativen Kraft des Faktischen die DDR zur Kenntnis genommen und sind mit ihr in die Vereinten Nationen eingezogen. Und seit diesem Zeitpunkt, das ist immerhin Anfang der 70er Jahre gewesen, hat die DDR sich zu benehmen als ein anständiges Mitglied der Vereinten Nationen. Und da muß sie ja auch die Rechtsvorschriften oder die Pakte der Vereinten Nationen akzeptieren; insofern gibt es von daher gesehen eine Basis für eine Beurteilung und möglicherweise Verurteilung.

TP: Auf wessen Veranlassung ist Ihrer Meinung nach 1961 die Mauer gebaut worden? Hatte die DDR sie verlangt oder ist sie ihnen regelrecht vom Warschauer Pakt respektive den Sowjets aufoktroyiert worden?

Lummer: Also, die Entscheidung ist sicherlich nicht nur in Ostberlin durch DDR-Behörden und Größen der DDR erfolgt. Wir kennen ja jenes berühmte Zitat von Ulbricht, das wenige Wochen vor dem Mauerbau geäußert worden ist: Niemand denkt daran, eine Mauer zu bauen. Zu jenem Zeitpunkt war Ulbricht – ich unterstelle jetzt gar nicht, daß er gelogen hat zu dem Zeitpunkt – wohl noch der Meinung, er würde eine andere Lösung mit der Sowjetunion bekommen, nämlich die Lösung einer Kontrolle der Landzugangswege zwischen Westberlin und Westdeutschland. Das hätte die Flüchtlingsproblematik natürlich auch gelöst, denn der Mauerbau ist ja eine Antwort darauf, daß die Leute eine Abstimmung mit den Füßen gemacht haben und zu Hunderttausenden eben weggelaufen sind. Wir hatten ja hier in Berlin manchmal täglich mehrere Tausend Leute in den Flüchtlingslagern aufzunehmen. Dann hat eine Konferenz der Warschauer Paktstaaten in Warschau stattgefunden, und dort hat sich offenbar die Position durchgesetzt, daß man eine Abgrenzung im Sinne eines Mauerbaus machen müßte. Zu mehr hat Ulbricht von seiten der Sowjetunion keine Zustimmung bekommen – so sehe ich das. Und insofern ist es weniger als Ulbricht wollte, aber eben eine Entscheidung auch, die getragen wurde von der Gemeinschaft der Warschauer Paktstaaten. Das entbindet Ostberlin nicht von der Verantwortung.

TP: Hätte die DDR an dieser Mauer konkret etwas ändern können?

Lummer: Wer will diese Frage beantworten? Vielleicht sind die Historiker mal in der Lage – bei einer genauen Durchsicht der Archive – konkretes zu sagen. Richtig ist, daß die DDR sicherlich nicht einen solchen Handlungsspielraum hatte, etwas zu tun gegen evidente sowjetische Interessen. Andererseits aber war sie im Warschauer Paktkonzert ein Mitglied, das doch ein beachtliches Gewicht hatte wie durch Prag 68 und auch hinsichtlich der Haltung gegenüber Polen deutlich geworden ist.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die DDR, wenn sie es denn wirklich gewollt hätte, hätte sagen können: Na gut, dann verzichten wir auf die Mauer und nehmen in Kauf, daß die Leute weglaufen. Und dann hätte man auch internationale Vereinbarungen beachtet. Aber es war eben der Eindruck – sowohl der Führung in Ostberlin als wahrscheinlich auch der anderen -, daß hier das ganze System in Frage gestellt wurde durch die Abstimmung mit den Füßen und daß man sich offene Grenzen im Grunde nicht leisten konnte.

TP: Auch im übergeordneten Interesse der Warschauer Vertragsstaaten?

Lummer: Auch im übergeordneten Interesse der Warschauer Vertragsstaaten, soweit sie eben daran interessiert waren, Strukturen zu erhalten, die offenbar von der Bevölkerung nicht akzeptiert wurden.

TP: Die Angeklagten im Politbüroprozeß argumentieren, daß sie an diesem Grenzregime nichts ändern konnten. Trifft das Ihrer Meinung nach auch für die Art der Sicherung desselben zu?

Lummer: Man kann sicher ein Grenzregime mehr oder weniger human gestalten. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die für total offene Grenzen eintreten. Das „Institut Grenze“ hat nach wie vor seine Bedeutung. Auch wir haben ja jetzt zwischen Deutschland und Polen eine Grenze, die nicht ganz ungesichert ist, sondern wo wir zum Teil auch ganz subtile Maßnahmen getroffen haben, um das illegale Eindringen von Ausländern sozusagen möglichst in Grenzen zu halten. Insofern gibt es keinen Zweifel, daß Grenzen ihren Sinn haben und auch der Schutz von Grenzen. Aber das muß nicht heißen, daß man eine Mauer errichtet und daß man auf jeden, der da hinüber will, rumballert, wie man das auf Hasen macht – wie das Lothar Löwe mal gesagt hat und wo er dann aus der DDR rausgeflogen ist -, sondern das kann man so und auch anders machen.

Richtig ist, wenn man den Staat DDR als einen akzeptierten Staat sieht, dann hat er natürlich auch die Berechtigung, ein gewisses Grenzregime durchzuführen. Das ist für mich gar keine Frage. Insofern bleibt dann hier die Frage der humanen Regelung und die Frage der Akzeptanz der internationalen Pakte; und die DDR hat den internationalen Pakt für Bürger- und Menschenrechte unterschrieben und mußte sich daran halten.

TP: Wobei nochmals erwähnt werden muß, daß sie ihn nicht in ihr innerstaatliches Recht umgesetzt hat…

Lummer: … das ist keine Entschuldigung, sondern die Schuld bleibt für mich erhalten, und dies muß man auch, finde ich, sagen im Namen der vielen, die da gestorben sind durch dieses Grenzregime.

TP: Nochmals zu dem Duma-Schreiben. Wie beurteilen Sie den Inhalt dieses Schreibens?

Lummer: Nun, wenn man das Schreiben liest und zudem weiß, daß ein Unterstützungskreis Erich Honecker für die Verbreitung gesorgt hat, dann spürt man…

TP: … woher wissen Sie das…

Lummer: …von einem Journalisten, der von diesem Kreis den Brief bekommen hat…, dann spürt man ein wenig die Handschrift der PDS, die da durchschimmert. Ich glaube nicht, daß die Duma-Abgeordneten von sich aus auf eine solche Idee gekommen wären. Im übrigen habe ich meinen Antwortentwurf den Kollegen unseres Außenpolitischen Arbeitskreises vorgelegt, und inzwischen haben fast alle den Brief von unserem CDU/CSU-Arbeitskreis für Außenpolitik mit unterschrieben, so daß wir ihn also mit einer Reihe von Unterschriften dort hinsenden werden.

Ich finde, es ist eine wirkliche Zumutung, die da zum Teil geäußert wird in diesem Brief, so daß man also vor der Situation stand, entweder Papierkorb oder zu sagen, er verdient eine Antwort. Ich meine, er verdient eine Antwort, weil wir ja mit der Duma in angemessener Weise verkehren wollen, und da müssen sie auch unsere Meinung zu einem solchen Brief wissen.

TP: Glauben Sie, daß diese Prozesse, die derzeit geführt werden, das deutsche Volk eher spalten als es zu vereinen – wie z.B. Hans Modrow es ausdrückt?

Lummer: Ich glaube nicht, daß das zu einer Spaltung führt. Natürlich ist damals im Prozeß der Vereinigung auch über die Frage einer generellen Amnestie geredet worden. Und ein solches Angebot hat, so viel ich weiß, auch von seiten der Bundesrepublik – geäußert durch Herrn Schäuble – bestanden. Aber es war eben die frei gewählte Volkskammer der DDR selbst, die sich für die Verfolgung dieser Personen eingesetzt und entsprechende Beschlüsse gefaßt hat, und wie gesagt, auch die ersten Prozesse eingeleitet hat. Und das war eben die legitime Stimme der Menschen in der DDR, das war noch vor der formalen Wiedervereinigung.
Man muß natürlich zweierlei sehen: Auf der einen Seite die Harmonie in einem Volke, die manchmal dadurch entsteht, daß man Fünfe gerade sein läßt und geschichtliche Dinge amnestiert und verdeckt, auf der anderen Seite aber eben die hohe Zahl der Opfer. Und das sind nicht nur Leute um Bärbel Bohley, sondern das sind auch wirklich Menschen, die ihre Familienmitglieder verloren haben; und die würden eine solche Haltung des einfachen Zudeckens beim besten Willen nicht verstehen können.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1995

Fotoquelle/Collage: TP Preseagentur Berlin

Heinrich Lummer, CDU, ehemaliger Innensenator und Bürgermeister von Berlin, ist seit 1987 Mitglied des Bundestages.

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