Eröffnungsentscheidung der Wirtschaftsstrafkammer über eine Anklage im sogenannten NOx-Verfahren.

Nach umfangreicher Prüfung der Anklage und Durchführung von weiteren Ermittlungen im Zwischenverfahren hat die 6. große Strafkammer – Wirtschaftsstrafkammer – des Landgerichts Braunschweig durch Beschluss vom 08.09.2020 die Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 11.04.2019 (Aktenzeichen 6 KLs 23/19) mit Änderungen zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Anklage wegen des Vorwurfs des Betrugs und anderer Straftaten im sog. NOx-Verfahren richtet sich gegen fünf – teilweise ehemalige – Mitarbeiter der Volkswagen AG, darunter den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Martin Winterkorn.  Wegen des Inhaltes der Anklagevorwürfe wird auf die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 15.04.2019 Bezug genommen (abrufbar unter https://staatsanwaltschaftbraunschweig.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/).

Im Rahmen der Eröffnungsentscheidung hatte die Kammer die Anklagevorwürfe in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen. Zusammenfassend ist sie zu folgenden Ergebnissen gekommen:  Die Kammer hat hinsichtlich des Angeklagten Prof. Dr. Winterkorn einen hinreichenden Tatverdacht – d. h. eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit – wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs bejaht. Hinsichtlich der übrigen Angeklagten sieht die Kammer einen hinreichenden Tatverdacht wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in Tateinheit mit Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall und mit strafbarer Werbung beziehungsweise wegen Beihilfe zu diesen Delikten. Dem hinreichenden Tatverdacht des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs liegt der Vorwurf zugrunde, dass Käufer bestimmter Fahrzeuge aus dem Volkswagen-Konzern über deren Beschaffenheit, insbesondere die Verwendung einer sog. Abschalteinrichtung in der Motorsteuerungssoftware getäuscht worden seien, durch die eine Einhaltung der maßgeblichen Stickoxidemissionen lediglich auf dem Teststand gewährleistet gewesen sei. Die Käufer hätten hierdurch jeweils einen Vermögensschaden erlitten.  Anders als die Staatsanwaltschaft, die gegenüber den Angeklagten lediglich den Vorwurf eines Vergehens des Betrugs im besonders schweren Fall (§ 263 Absatz 1, Absatz 3 Strafgesetzbuch) erhoben hat, sieht die Kammer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine bandenmäßige Begehung der Tat durch die Angeklagten und hat ihrer Eröffnungsentscheidung daher jeweils die Verwirklichung des Verbrechens des banden- und gewerbsmäßigen Betrugs (§ 263 Absatz 5 Strafgesetzbuch) zugrunde gelegt. Der Vorwurf des Betrugs betrifft insgesamt etwa 9 Millionen Fahrzeuge, die in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika verkauft worden sein sollen. Es steht ein Vermögensschaden der Käufer in Höhe von insgesamt mehreren 100 Millionen € im Raum. Drei der Angeklagten wird eine Beteiligung an der Tat allerdings nicht für den gesamten Tatzeitraum, der sich von 2006 bis 2015 erstrecken soll, zur Last gelegt, so dass sich der Tatverdacht für diese Angeklagten auf entsprechend geringere Fahrzeugzahlen und Schadenssummen bezieht.

Der Vorwurf der Steuerhinterziehung betrifft etwa 6.800 Fahrzeuge, die aufgrund der unzutreffenden Annahme, dass sie die Schadstoffklasse „Euro 6“ erfüllten, in Deutschland in den Jahren 2011 bis 2013 zu Unrecht eine Kraftfahrzeugsteuerbefreiung von jeweils bis zu 150,00 € erhalten hätten. Es steht insoweit ein Steuerschaden von insgesamt ca. 820.000,00 € im Raum. Weil dieser Steuerschaden ein großes Ausmaß darstellen könnte, hat die Kammer – auch insoweit weitergehend als die Staatsanwaltschaft – ihrer Eröffnungsentscheidung den hinreichenden Tatverdacht eines besonders schweren Falles der Steuerhinterziehung (§ 370 Absatz 1, Absatz 3 Abgabenordnung) zugrunde gelegt. Der Vorwurf der strafbaren Werbung gemäß § 16 Abs.1 UWG (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) bezieht sich auf Werbemaßnahmen, durch die besondere, tatsächlich nicht vorhandene Vorzüge von Fahrzeugen im Bereich der Emissionen angepriesen worden sein sollen. Anders als die Anklage sieht die Kammer aus rechtlichen Gründen einen hinreichenden Tatverdacht lediglich in Bezug auf Werbemaßnahmen, die den europäischen Markt betreffen, und nicht in Bezug auf Werbemaßnahmen, die den US-amerikanischen Markt betreffen. Aus diesem Grund hat die Kammer hinsichtlich des Angeklagten Prof. Dr. Winterkorn, dem mit der Anklageschrift insbesondere ein strafbares Verhalten in Bezug auf Fahrzeuge auf dem USamerikanischen Markt zur Last gelegt worden ist, keinen hinreichenden Tatverdacht wegen strafbarer Werbung angenommen. Einen hinreichenden Tatverdacht wegen mittelbarer Falschbeurkundung (§ 271 Absatz 1, Absatz 3 Strafgesetzbuch) beziehungsweise Beihilfe hierzu sieht das Gericht nicht. Nach Auffassung der Kammer stellen die in den zu entscheidenden Fällen inhaltlich möglicherweise unrichtigen Angaben zur Nummer der EG-Typgenehmigung in der Zulassungsbescheinigung eines Kraftfahrzeugs keine öffentlichen Urkunden im Sinne dieser Strafvorschrift dar. Eine erhöhte Beweiskraft der entsprechenden Angaben, die für die Annahme öffentlicher Urkunden erforderlich wäre, scheidet aus Sicht der Kammer aus, weil die Zulassungsbehörden diesen Angaben regelmäßig ungeprüft Angaben des Herstellers in der sog. Konformitätsbescheinigung zugrunde legen, für die gerade keine besondere Gewähr der Richtigkeit spricht. Ferner geht die Kammer aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen von keinem hinreichenden Tatverdacht wegen Untreue (§ 266 Absatz 1, Absatz 2 Strafgesetzbuch) zum Nachteil der Volkswagen AG aus. Die Kammer hat den Verfahrensbeteiligten im Eröffnungsbeschluss ferner eine Vielzahl von Hinweisen erteilt, die überwiegend Sachverhalte betreffen, welche in dem nunmehr abgeschlossenen Zwischenverfahren bereits thematisiert worden waren, und die weitere in Betracht kommende von der Anklageschrift abweichende Würdigungen beinhalten. Unter anderem hat die Kammer dargelegt, dass die von der Staatsanwaltschaft erstrebte Einziehung des Wertes der von den Angeklagten erlangten Bonuszahlungen (vgl. §§ 73 Absatz 1, 73c Satz 1 Strafgesetzbuch) voraussichtlich nicht anzuordnen sein wird, weil durch die in Betracht kommenden Taten nicht die Angeklagten, sondern die Fahrzeughersteller unmittelbar etwas erlangt haben. Im Zwischenverfahren hat das Gericht zu verschiedenen Fragen ergänzende Beweiserhebungen veranlasst. Die entsprechenden Ermittlungen sind teilweise noch nicht abgeschlossen. Die Kammer wird nunmehr mit den Verfahrensbeteiligten Gespräche über den Ablauf und die Organisation der Hauptverhandlung führen. Anschließend werden die Hauptverhandlungstermine anberaumt und zu gegebener Zeit im Rahmen einer Pressemitteilung bekannt gegeben. 

Hintergrund: Zum besseren Verständnis sind nachfolgend die Straftatbestände abgedruckt, für die ein hinreichender Tatverdacht bejaht wurde:

§ 263 Strafgesetzbuch – Betrug (1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch

Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft… (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung von Urkundenfälschung oder Betrug verbunden hat, 2. einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeiführt oder in der Absicht handelt, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen… (5) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer den Betrug als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach den §§ 263 bis 264 oder 267 bis 269 verbunden hat, gewerbsmäßig begeht.

§ 370 Abgabenordnung – Steuerhinterziehung (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht… (3) In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt…

§ 16 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb – Strafbare Werbung (1) Wer in der Absicht, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen, in öffentlichen Bekanntmachungen oder in Mitteilungen, die für einen größeren Kreis von Personen bestimmt sind, durch unwahre Angaben irreführend wirbt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Fotoquelle: By Volkswagen AG – This file was derived from:  Martin Winterkorn 2014-03-13 001.jpg, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=56011425

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