EuGH: Die diskriminierenden Maßnahmen des Taliban-Regimes gegen Frauen stellen Verfolgungshandlungen dar.

Bei der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau genügt es, wenn ein Mitgliedstaat lediglich ihr Geschlecht und ihre Staatsangehörigkeit berücksichtigt.

Zwei Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit wenden sich vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Weigerung der österreichischen Behörden, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie machen geltend, die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime in Afghanistan allein rechtfertige schon die Gewährung dieses Status.

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs hat die Rückkehr dieses Regimes an die Macht im Jahr 2021 schwerwiegende Auswirkungen auf die Grundrechte von Frauen. Das Regime führe zahlreiche diskriminierende Maßnahmen ein, die beispielsweise darin bestünden, dass Frauen keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt würden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen erhalten zu können, sie ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen hätten, ihnen der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert werde, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werde, sie einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß nachgehen dürften, der Zugang zu Bildung eingeschränkt werde und sie vom politischen Leben ausgeschlossen würden.

Der Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, afghanische Frauen gehörten zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne der Richtlinie 2011/951. Diese Frauen könnten in Afghanistan Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sein. Es möchte daher vom Gerichtshof zum einen wissen, ob die vorstehend beschriebenen diskriminierenden Maßnahmen in ihrer Gesamtheit als Verfolgungshandlungen eingestuft werden können, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen könnten. Zum anderen möchte es wissen, ob die zuständige nationale Behörde im Rahmen der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau andere Aspekte als deren Staatsangehörigkeit und Geschlecht berücksichtigen muss.

Erstens antwortet der Gerichtshof, dass einige der fraglichen Maßnahmen für sich genommen als „Verfolgung“ einzustufen sind, da sie eine schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts darstellen. Dies gilt für die Zwangsverheiratung, die einer Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen.

Wenn man annimmt, dass es sich bei den anderen Maßnahmen für sich genommen im Hinblick auf die Einstufung als Verfolgung um keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts handelt, so stellen diese Maßnahmen nach Ansicht des Gerichtshofs in ihrer Gesamtheit doch eine solche Verfolgung dar. Aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung führen sie dazu, dass in flagranter Weise die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden.

Zweitens berücksichtigt der Gerichtshof in Bezug auf die individuelle Prüfung des Asylantrags einer Frau mit afghanischer Staatsangehörigkeit die Situation von Frauen unter dem derzeitigen Taliban-Regime, wie sie insbesondere in den Berichten der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) und des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) dargelegt wurde. Der Entscheidung des Gerichtshofs zufolge können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass nicht festgestellt werden muss, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht. Es genügt, lediglich ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht zu berücksichtigen.

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