Ich fühle mich Herrn Krenz persönlich verbunden.

TP-Interview mit Krenz-Anwalt Dr. Dieter Wissgott.

TP: Herr Dr. Wissgott, Egon Krenz hat sich heute morgen einem Antrag oder einer Erklärung von Prof. Dr. Hager angeschlossen und gleichzeitig gegenüber dem Gericht geäußert, er werde sich seinerseits nicht eher zu seiner Person äußern, bevor er nicht selbst die Möglichkeit zu einer Erklärung bekäme. Das Gericht hat daraufhin auf den § 111 des Ordnungswidrigkeitengesetzes hingewiesen, der besagt, daß derjenige ordnungswidrig handelt, der gegenüber einer zuständigen Behörde Angaben über seine Person verweigert und in dem Falle mit einer Geldbuße bis zu tausend Mark rechnen kann.

Dr. Wissgott: Dieser Hinweis des Gerichts auf die Ordnungswidrigkeit ist zwar sachlich richtig, in der konkreten Prozeßsituation aber verfehlt, weil nichts anderes mit diesem Hinweis ausgeübt werden soll als Druck auf die Angeklagten, die vom Gericht an dieser Stelle gewünschte Erklärung zur Person abzugeben. Im Hintergrund ist das unverkennbare Bemühen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Verlesung der Anklage zu geben und alles, was danach kommt, verwertbar zu machen. Deshalb wird dieser Druck ausgeübt. Und das halte ich für unzulässig.

TP: Wird Herr Krenz ein Bußgeld in Kauf nehmen?

Dr. Wissgott: Ich bin mir nicht sicher, wie wir reagieren werden, weil ich eigentlich noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben habe, daß mit dem Gericht eine Verständigung zu diesem Punkt möglich sein wird; aber kommt es nicht zu einem Konsens, werden wir auch diese Konsequenz in Kauf nehmen.

TP: Das Gericht hat ja heute morgen klar und deutlich gesagt, es werde keine Anträge und Erklärungen mehr entgegennehmen.

Dr. Wissgott: Wir werden diese Entscheidung des Gerichts zum Anlaß nehmen, sehr ernsthaft die Frage zu prüfen, ob ein neuer Befangenheitsantrag vorgelegt werden muß. Das Gericht ist durchaus befugt zu sagen, es nimmt keine Erklärungen entgegen. Es ist aber nicht befugt, in eine solche Entscheidung die Erklärung mit aufzunehmen: Wir nehmen keine Anträge mehr entgegen. Es ist ein elementares Recht der Verteidigung, Anträge zu stellen wann immer sie das für richtig hält und mit welchem Inhalt auch immer. Dafür ist der Antragsteller verantwortlich. Es gibt in einem Rechtsstaat kein Gericht – und darf es nicht geben -, das von sich aus erklärt: Wir nehmen keine Anträge mehr entgegen. Das gibt es nicht, und dagegen wird sich die Verteidigung auch mit Nachdruck verwahren.

TP: Wenn das Gericht jetzt seinem Beschluß folgt, geht es dann ans Eingemachte der Verteidigung?

Dr. Wissgott: Ja, das würde ich sagen. Wir sind von Haus aus nicht daran interessiert, daß die Atmosphäre weiter zerschlagen wird. Ich sagte ja eben schon, meiner Meinung nach müßte es denkbar sein, einen Konsens herbeizuführen, aber scheitert das an dem Widerstand des Gerichts und an der erklärten Absicht, nun mit aller Gewalt eine Erklärung zur Person an dieser Stelle herbeizuführen, dann wird das auf massiven Widerstand der Verteidigung stoßen.

Frage: Egon Krenz hat heute morgen gesagt, er sehe diesen Beschluß des Gerichts, keine Anträge mehr entgegenzunehmen, als eine eklatante Verletzung der Verteidigungsrechte, gleichzeitig aber auch den Einfluß von Rupert Scholz, politisch auf das Verfahren einzuwirken.

Dr. Wissgott: Zu dem ersten Teil der Erklärung kann ich nur sagen, daß er meine volle Billigung findet. Und hier sagte ich ja schon deutlich, daß die Verteidigung das auf gar keinen Fall hinnehmen wird. Inwieweit der unzulässige, und das muß ich auch sagen, unselige Versuch von Rupert Scholz eine Rolle spielt, auf dieses Verfahren Einfluß zu nehmen, vermag ich abschließend nicht zu beurteilen. Es drängt sich natürlich für einen außenstehenden Betrachter auf, eine Parallele zu ziehen; denn dieser Versuch von Rupert Scholz, auf das Verfahren Einfluß zu nehmen in Berlin, ist so eine Unverschämtheit, noch dazu von einem Rechtsberater der Union, daß wir nicht ganz ausschließen können, daß sich das Gericht davon vielleicht doch beeindruckt fühlt und sich danach richtet. Insofern habe ich Verständnis für die Erklärung von Herrn Krenz.

TP: Ist es nicht eher unwahrscheinlich, daß sich das Gericht von einer Äußerung von Rupert Scholz beeinflussen läßt?

Dr. Wissgott: Ich kann darauf nur sagen, daß ich das hoffe, daß sich das Gericht nicht beeindrucken läßt. Herr Hoch hat ja auch erklärt, daß ihm die Gewaltenteilung bekannt sei und daran appelliert, daß wir uns das alle vor Augen halten. Ich habe aber, und deshalb bin ich auch etwas skeptisch in meiner Erklärung, eine deutliche Distanzierung des Gerichts von diesem massiven Einmischungsversuch vermißt. Ich hätte mir auch für die Atmosphäre dieses Verfahrens gewünscht, daß hier eine deutliche Stellungnahme des Gerichts im Sitzungssaal abgegeben worden wäre.

TP: Wieso ist ein Anwalt aus Stadthagen der Verteidiger von Egon Krenz?

Dr. Wissgott: Ich habe Herrn Krenz auf einer politischen Veranstaltung kennengelernt, die in Stadthagen stattgefunden hat.

TP: Wie lange ist das her?

Dr. Wissgott: Das ist jetzt etwa zwei Jahre her; jedenfalls wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von diesem Ermittlungsverfahren, das gegen ihn lief – es war auch damals noch gar keine Anklage erhoben; wir haben dann unsere Adressen ausgetauscht, und es hat sich dann einfach so ergeben, daß wir hier und da, zunächst nur gelegentlich, dann aber regelmäßig Kontakt hatten, und der hat sich dann verdichtet, und so ist das dann auch mit dem Fortschreiten dieses Ermittlungsverfahrens und der Anklageerhebung einfach in den Mittelpunkt gerückt; und so ist das Mandat, wenn ich das mal so sagen darf, organisch gewachsen.

TP: Politische Freundschaften?

Dr. Wissgott: Ich will Ihnen mal so antworten: Ich fühle mich Herrn Krenz persönlich verbunden, nicht unbedingt politisch, was mich nicht davon abhalten wird, das Mandat, das mir übertragen wurde, mit Engagement auszuüben.

TP: Wie es das Gesetz erwartet…

Dr. Wissgott: Wie es das Gesetz erwartet.

TP: Und wie es bei „Dahs-Dahs“ – Handbuch des Strafverteidigers – postuliert wird.

Dr. Wissgott: Sehr richtig; ich füge einen bekannten Spruch eines berühmten französischen Philosophen hinzu, der die Meinungsfreiheit betrifft. Dieser Begriff ist meiner Meinung nach nie wieder treffender umschrieben worden. Der hat zu seinem König gesagt – dem Sinne nach: Sire, ich bin entsetzt über Ihre Gedanken, aber ich will mich in Stücke reißen lassen, daß sie sie frei äußern dürfen. Ich finde, wir können in der westdeutschen Justiz in diesem Verfahren und anderen Verfahren gegenüber DDR-Repräsentanten viel von dieser Erkenntnis lernen.

TP: Meinen Sie den Philosophen Voltaire?

DR. Wissgott: So ist das.

TP: Was war das für eine Veranstaltung, bei der Sie Egon Krenz kennengelernt hatten?

Dr. Wissgott: Das war eine Veranstaltung aus Anlaß der Wiedervereinigung, zu der in Stadthagen ein interessierter Kreis Jahr für Jahr Repräsentanten aus beiden Teilen Deutschlands zu einem Vortrag einlädt. Herr Krenz war einer derjenigen, die eingeladen worden waren zu dieser Veranstaltung und hat dort auch einen Vortrag gehalten.

TP: Und da gab es sozusagen die persönliche Liebe auf den ersten Blick?

Dr. Wissgott: Sagen wir mal so: eine persönliche Zuneigung -ja, lieben tue ich meine Frau und nicht Herrn Krenz.

TP: Und Ihre Kinder

Dr. Wissgott: So ist das.

TP: Was passiert am nächsten Verhandlungstag, werden Befangenheitsanträge lediglich in Erwägung gezogen oder sind sie schon irgendwo fest beschlossen.

Dr. Wissgott: Befangenheitsanträge werden in Erwägung gezogen. Wir werden die Tage zwischen den Terminen jetzt bis zum Montag ausnutzen, um uns darüber schlüssig zu werden. Kommt es zu einem Befangenheitsantrag, dann wird der Montag als Verhandlungstag sehr schnell zu Ende gehen, denn Gegenstand der Befangenheit ist der Beschluß der Schwurgerichtskammer, also sämtlicher Berufs- und Laienrichter, so daß sich der Befangenheitsantrag konsequent auch gegen alle Mitglieder des Gerichts richtet mit der prozessualen Folge, daß sie darüber nicht selbst entschieden können. Sie müssen eine andere Kammer um die Entscheidung nachsuchen, und das wird sicher kaum am Montag möglich sein.

TP: Worauf wird sich der Befangenheitsantrag konkret beziehen – auf den Beschluß, daß das Gericht keine Anträge mehr entgegennehmen will?

Dr. Wissgott: Ja; der Befangenheitsantrag, um es negativ zu formulieren, wird sich nicht darauf stützen, daß das Gericht erklärte, es würde keine Erklärungen mehr entgegennehmen. Das ist nicht zu beanstanden. Zutiefst zu beanstanden, weil ein Einschnitt in elementare Verteidigerrechte, ist die Erklärung des Gerichts, es würde keine Anträge mehr entgegennehmen. Dagegen verwahrt sich die Verteidigung. Hier muß einfach eine klare Entscheidung auf den Tisch; es geht nicht an, gerade in einem solchen Verfahren, daß das Gericht die Verteidigung abkanzelt mit der Erklärung: Wir nehmen keine Anträge mehr entgegen. Das kann sich kein Verteidiger gefallen lassen.

TP: Bezog sich der Beschluß des Gerichts nicht darauf, vor Verlesung der Anklage keine Anträge mehr entgegenzunehmen?

Dr. Wissgott: Das weiß ich nicht. Wir haben einen Beschluß so zu verstehen, wie er verkündet worden ist. Er ist ohne Einschränkung verkündet worden und gerade das hat auch mich persönlich – ich bin ja derjenige, dessen Intervention beanstandet worden ist vom Gericht – tief betroffen gemacht.

TP: Herr Prof. hat heute morgen gesagt, er möchte eine Erklärung abgeben, hat auch etwas gesagt und erklärt…, dann aber erwähnt, er möchte seinen Antrag begründen. War es nun eine Erklärung oder ein Antrag von Herrn Hager?

Dr. Wissgott: Es war eindeutig ein Antrag, den er vorgetragen hat. Allerdings ist der Charakter des Antrages anschließend durch die Begründung und die Art des Vortrages der Begründung etwas verwässert worden – aber es war ein Antrag. Es ist als Antrag angekündigt worden, es ist als Antrag auch vorgetragen worden. Wir haben uns nur in der anschließenden Pause darauf verständigt, daß Herr Hager den Antrag zurückstellt, nicht zurücknimmt, weil die Verteidigung eine andere zeitliche Reihenfolge der persönlichen Erklärungen verabredet hat.

TP: Aber der Antrag ist nicht vor Verlesung der Anklageschrift außer Gefecht gesetzt worden?

Dr. Wissgott: Auf gar keinen Fall. Er wird aufrechterhalten.

TP: Wissen Sie schon, wer den Befangenheitsantrag am Montag stellen wird – wenn einer erfolgt?

Dr. Wissgott: Die beiden Verteidiger von Egon Krenz.

TP: Also Sie und Herr Unger?

Dr. Wissgott: Ja. Ich werde mich mit meinem Kollegen in Verbindung setzen. Wir haben heute verabredet, daß wir die Tage zwischen den beiden Terminen ausnutzen, um einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Wer ihn dann vorträgt in der Hauptverhandlung, ist eine untergeordnete Frage.

TP: Mit anderen Worten, in den nächsten Tagen, vor dem nächsten Verhandlungstag, kommt viel Arbeit auf Sie zu?

Dr. Wissgott: So ist das.

TP: Werden Sie dafür hier in Berlin bleiben oder wird Herr Unger nach Stadthagen kommen? Oder wird das telefonisch abgehandelt?

Dr. Wissgott: Wahrscheinlich werden wir per Telefon und vor allem per Telefax unsere Entwürfe austauschen und stimmig machen.

TP: Von Prozeßkritikern wird Ihnen (damit meinen sie nicht nur Sie, sondern auch Ihre Kollegen) Prozeßverschleppung mit Ihren jeweiligen Anträgen vorgeworfen. Ist dem so?

Dr. Wissgott: Diesen Vorwurf weise ich mit Nachdruck zurück. Unsere Einstellungs- und Aussetzungsanträge haben eine gemeinsame Wurzel, nämlich, schwere Unterlassungssünden in der Aufklärungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft behandelt die Mauer wie ein Bauwerk, das errichtet wurde zur Begehung von Tötungsdelikten. Ich kann auch so formulieren: Die Staatsanwaltschaft hat das politische Gewand, das die Mauer umgab – es ist ja ein politisches Gewand, die Mauer – von dem Bauwerk genommen. Ich will damit zum Ausdruck bringen, daß sich die Staatsanwaltschaft überhaupt keine Mühe gemacht hat, politische, historische Hintergründe ihres Anklagevorwurfes aufzuklären. Ich will Ihnen das an einem ganz kleinen Beispiel deutlich machen: Änderungen des Grenzregimes, sei es die von der Staatsanwaltschaft so genannte Humanisierung, sei es die Abschaffung, wie es der Eröffnungsbeschluß will, waren nicht an die Adresse der DDR zu richten, sondern an die Adresse des Konsultationsausschusses der Warschauer Vertragsstaaten. Dort wurde, wie es dieser Vertrag vorsah, von den Vertragsstaaten beraten, ob und wenn ja, in welcher Form eine Änderung von Grenzen des Warschauer Vertrages insgesamt – dazu zählte ja auch die Westgrenze der DDR und die Mauer in Berlin – überhaupt diskutiert werden konnte und ob solche Maßnahmen, und wenn ja, wie in Frage kamen. Also wenn man mit westdeutschen Maßstäben, westlichen Rechtsvorstellungen an die Würdigung der Vorfälle an der Mauer herangeht, dann muß man sich immer vergegenwärtigen, daß hier nicht etwa nur die Repräsentanten der DDR und ihr Verhalten zur Diskussion stehen, sondern immer eine Gruppe von Repräsentanten der Warschauer Vertragsstaaten. Nichts, aber auch gar nichts in dieser Richtung ist von der Staatsanwaltschaft ermittelt worden.

TP: Das Gericht argumentiert ja jetzt ständig mit einem BGH-Beschluß, wonach Völkerrecht verletzt sei durch das Grenzgesetz und das Grenzregime. Warum akzeptieren Sie diese Position des Gerichts nicht? Müssen Ihre Anträge an der Auffassung des Gerichts nicht zwangsläufig abprallen?

Dr. Wissgott: Sie werden so lange abprallen, bis das Bundesverfassungsgericht ein Machtwort gesprochen hat. Denn letztlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht oder, wenn Sie so wollen, in allerletzter Instanz der Europäische Gerichtshof. Ich wage da noch nicht daran zu denken, aber der Europäische Gerichtshof entscheidet letztlich darüber, ob alles das, was hier nach westdeutschem Recht jetzt geschieht, mit dem Anklagevorwurf in Einklang stehen kann. Ich bin davon überzeugt und sage das nicht nur, weil ich der Verteidiger bin, daß das Rückwirkungsverbot unserer Verfassung, ein elementarer Grundsatz, verletzt ist, wenn wir uns die Verurteilungen, die schon geschehen sind und noch kommen sollen, vor Augen halten. Ich bin auch darüber hinaus der Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht einmal klarstellen muß, daß die DDR frei war in der Entscheidung, ob sie dem Internationalen Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte beitreten will oder nicht; denn nur in diesem Pakt ist die Ausreisefreiheit eines jeden Staatsbürgers garantiert. Wenn ich diese Ausreisefreiheit, das mag politisch zu beanstanden sein, ich bin ja gar kein Freund davon, aber ich stelle das mal als Jurist fest: Wenn ich diese Ausreisefreiheit dem Bürger eines bestimmten Staates nicht zuerkennen will, dann kann ich auch konsequenterweise einen Verstoß gegen dieses Gebot dieses Staates, nämlich den dann ungesetzlichen Grenzübertritt, unter Strafe stellen. Und genauso ist das in der DDR gewesen. Das kann man politisch beanstanden, das tue ich auch, aber als Jurist habe ich das so hinzunehmen und habe solche hoheitlichen Entscheidungen eines souveränen Staates zu akzeptieren. Da fehlt mir nur noch das Machtwort des Bundesverfassungsgerichts.

TP: Ist die Schwurgerichtskammer hier im Politbüroverfahren überhaupt verpflichtet, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten? Kann sie nicht erst einmal verhandeln nach ihrer Auffassung oder sagen, was der BGH entschieden hat, ist für uns erst einmal bindend – und dann sehen wir weiter?

Dr. Wissgott: Nein, das Bundesverfassungsgericht wacht darüber, daß alle Instanzgerichte in Deutschland verfassungsgemäß entscheiden. Und wenn das Bundesverfassungsgericht, wie es in dem Vorverfahren gegen Streletz und Keßler per einstweiliger Anordnung, aber immerhin erklärt hat, diese Fragen, die ich hier angesprochen habe, sind verfassungsrechtlich umstritten und nicht ausgestanden, dann kann man schwarz auf weiß nachlesen, wie problematisch das alles ist. Und hier ist, meine ich, ein Instanzgericht, wie hier die Schwurgerichtskammer, gut beraten, wenn sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwartet.

TP: Führen die Richter der 27. Strafkammer demzufolge offenen Auges einen Prozeß, der später durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ad absurdum geführt wird.

Dr. Wissgott: Wenn das Bundesverfassungsgericht so entscheidet, wie ich das hoffe, also zum Beispiel auf das Rückwirkungsverbot besteht -ja. Doch ich habe einen Verdacht. Wenn ich mir anschaue, wie dieses Verfahren durchgezogen wird, soll das Bundesverfassungsgericht wohl mit möglichst vielen Urteilen dieser Art konfrontiert werden. Es soll Karlsruhe schwerfallen, diese Urteile für verfassungswidrig zu erklären und ganzen Schwurgerichtskammern ins Stammbuch zu schreiben, daß sie die Verfassung mißachtet haben.

TP: Im Eröffnungsbeschluß heißt es, daß ein Haftbefehl zur Zeit abgelehnt wird, weil möglicherweise im Hinblick auf den Verfassungsgerichtsbeschluß in Sachen Keßler, Streletz und Albrecht gar nicht mit einem Antritt von Haftstrafen zu rechnen ist im Falle einer Verurteilung.

Dr. Wissgott: Diesen Hinweis im Eröffnungsbeschluß verstehe ich ein wenig anders. Er bezieht sich nämlich auf den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Angeklagten in Untersuchungshaft zu nehmen. Dazu hat der Eröffnungsbeschluß erklärt, es bestünde im Augenblick kein Anlaß zu einer solchen Entscheidung, weil eine konkrete Fluchtgefahr nicht besteht, denn es sei offen, wie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eines Tages endgültig ausfällt. Also bräuchten die Angeklagten im Augenblick nicht mit einer längeren Freiheitsstrafe zu rechnen. Und daraus ergäbe sich die Feststellung, daß keine Feststellung vorliegt. Das ist also beschränkt auf diesen Antrag der Staatsanwaltschaft.

TP: Das Gericht hat aber auch erklärt, daß der Antritt von Haftstrafen unwahrscheinlich ist im Hinblick auf die bereits ergangenen Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Kann hieraus nicht gefolgert werden, daß das Gericht nicht unbedingt befangen ist, sonst hätte es doch gleich von Anfang an Haftbefehle ausgestellt – bei dem bestehenden Tatvorwurf Fluchtgefahr zu begründen, dürfte doch keinem Gericht schwerfallen?

Dr. Wissgott: Ich habe auch nicht gesagt, daß sich die Besorgnis der Befangenheit aus diesem Umstand ergibt. Ich habe nur beanstandet, dabei bleibe ich, daß mit aller Energie, im übrigen auch mit erheblichen Kosten, ein Verfahren vorangetrieben wird, von dem man im Augenblick überhaupt nicht weiß, ob es jemals zum Abschluß kommt und ob nicht ein Schuldspruch auf tönernen Füßen steht, weil er gegen die Verfassung verstößt. Da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die nächsten Monate angekündigt worden ist, vergibt sich die Justiz nichts, wenn sie diese wenigen Monate abwartet. Schließlich hat sich die Staatsanwaltschaft auch fünf Jahre Zeit gelassen mit den Ermittlungen und hat dann Anklage erhoben, ohne die Erkenntnisse – ich habe das vorhin schon gesagt – auf historisch-politischem Gebiete auszuschöpfen. Da kommt es jetzt auf ein paar Monate, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten, mit Sicherheit nicht mehr an.

TP: Professor Wesel hat sich dahingehend geäußert, daß eine Verurteilung in jedem Falle erfolgen wird -das Gericht hätte den Eröffnungsbeschluß nicht so gefaßt, wie er gefaßt worden ist, wenn es nicht gewillt wäre, hier zu verurteilen. Lohnt es sich überhaupt noch, diese ganze Arbeit mit diesen ganzen Anträgen zu machen, wenn irgendwann doch eine Verurteilung erfolgt, wenngleich Herr Professor Wesel hinzufügte, zumindest eine Verurteilung der vier jüngeren Angeklagten – also auch Ihres Mandanten Egon Krenz – würde einer Überprüfung des Bundesverfassungsgerichtes nicht standhalten?

Dr. Wissgott: Wissen Sie, wenn ich meinen Beruf überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Skepsis ausüben würde, ich stimme ja Herrn Wesel durchaus in seiner Beurteilung zu…, aber wenn ich meine Tätigkeit als Verteidiger von Herrn Krenz so verstehen würde, könnte ich nicht die Kraft aufbringen, die erforderlich ist, um sich hier voll und ganz mit diesem Schuldvorwurf auseinanderzusetzen. Ich glaube einfach nicht daran, daß unser Rechtsstaat ein Niveau erreicht hat, von dem man sagen müßte, daß schon im Eröffnungsbeschluß unabwendbar zu erkennen sei, daß hier eine Verurteilung gar nicht mehr zu vermeiden ist. Das glaube ich nicht.

TP: Ich wollte ja eigentlich nur wissen, ob die Anträge, die hier in diesem Verfahren gestellt werden, nicht eine gewisse vergebene Liebesmühe sind, ob man seine Konzentration nicht besser darauf richten sollte, später eine Verfassungsbeschwerde zu begründen, wenn ein nicht auszuschließendes endgültiges – zu Ungunsten Ihres Mandanten gefälltes – Urteil – durch den BGH bestätigt – erfolgt ist, was Herr Professor Wesel ja erwartet?

Dr. Wissgott: Dieser Auffassung kann man sein. Ich bin da anderer Auffassung. Ich sagte schon, daß ich mich in dieser Sache aus Überzeugung engagiere. Der Verteidiger kann nicht immer nur seine Tätigkeit unter dem Gesichtswinkel sehen, was letztlich ein Verfassungsgericht oder gar der Europäische Gerichtshof dazu mal sagen wird. Hier haben wir es mit einer ganz schwerwiegenden Anklage zu tun, und hier setzt Herr Krenz unter anderem in mich sein Vertrauen, daß er in einem rechtsstaatlichen Verfahren verteidigt wird. Das ist meine Aufgabe. Darauf konzentriere ich mich.

TP: Siegerjustiz – wie stehen Sie dazu?

Dr. Wissgott: Zieht man ein Resümee dessen, was ich hier gesagt habe, stellt man insbesondere in den Mittelpunkt die Erkenntnis, daß die Schwurgerichtskammer mit Energie versucht, das Verfahren voranzutreiben trotz aller Bedenken, die man haben muß, dann kann man auf die Idee kommen, hier wird Siegerjustiz praktiziert, zumal sich weder die Anklage noch die Schwurgerichtskammer mit den von mir schon erwähnten politisch-historischen Hintergründen auseinandergesetzt hat und auch das Rückwirkungsverbot der Verfassung mißachtet – nach meiner Überzeugung jedenfalls. Wenn ich alle Bedenken, die man haben müßte, die man von den Richtern erwarten müßte…, wenn die alle über Bord geworfen werden, dann kommt man doch zwangsläufig zu der Erkenntnis, hier will jemand unbedingt ein bestimmtes Ziel, nämlich eine Verurteilung erreichen. Und das ist Siegerjustiz. Es ist traurig, daß man solche Fragen überhaupt diskutieren muß, dazu sollte sich unser Rechtsstaat zu schade sein.

TP: Glauben Sie – besteht die Möglichkeit -, daß von irgendeiner Seite auf dieses Gericht politischer Einfluß ausgeübt wird – von wo auch immer?

Dr. Wissgott: Ich wäre froh, wenn ich meine Sorge in dieser Richtung begründen könnte. Ich kann sie nicht belegen. Ich habe nur den Eindruck, daß Versuche in dieser Richtung unternommen werden. Neuestes Beispiel ist der schon erwähnte Rupert Scholz. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, daß ein exzellenter Jurist, der er ja unbestreitbar ist, in so plumper Weise in ein Verfahren eingreifen will, wenn er damit nicht eine bestimmte Zielrichtung verfolgt. Und das wird er sich sicherlich nicht am Nachmittag irgendwo in einer freien halben Stunde haben einfallen lassen, sondern er ist ja ein Mann, der in politisch exponierter Stelle tätig ist. Ich muß einfach unterstellen, daß hier politische Gespräche in der Union vorausgegangen sind. Das ist jedenfalls ein handfestes Indiz, es ist kein Beweis, aber ein handfestes Indiz, daß Einfluß genommen wird. Ob weitere Indizien noch entdeckt werden, weiß ich nicht. Aber ich bin skeptisch.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*