Inneres und Heimat/Ausschuss.
Berlin: (hib/PK). Der Innenausschuss des Bundestages hat heute über den aktuellen Stand der Erkenntnisse zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg beraten. Zu der Sondersitzung am Montagnachmittag in Berlin waren neben Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zahlreiche Sicherheitsexperten wie etwa der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, und der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Sinan Selen, eingeladen sowie die Oberbürgermeisterin von Magdeburg, Simone Borris.
Der 50-jährige Attentäter Taleb A. war am 20. Dezember mit einem schweren Geländewagen über den Weihnachtsmarkt und gezielt in die Menschenmenge gerast und hatte dabei fünf Menschen getötet und mehr als 200 teils schwer verletzt. Der aus Saudi-Arabien stammende Mann sitzt in Untersuchungshaft. Das Motiv für den Anschlag ist unklar. Der Mann passt nach Einschätzung von Experten in kein gängiges Täterschema.
Hinweise deuten dem Vernehmen nach auf eine psychische Erkrankung des Täters hin. Taleb A. lebt schon seit 2006 in Deutschland, vor Jahren war ihm Asyl gewährt worden. Zuletzt arbeitete er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in einer Klinik in Bernburg nahe Magdeburg.
Taleb A. war den Sicherheitsbehörden vor dem Anschlag mehrfach aufgefallen. Demnach hat die Polizei in Sachsen-Anhalt den Mann zuletzt im Oktober 2024 mit einer sogenannten Gefährderansprache konfrontiert.
Die Amokfahrt hat auch eine Diskussion über die Sicherung des Weihnachtsmarktes ausgelöst, weil der Mann mit dem Auto durch eine größere Lücke in den Betonabsperrungen gefahren ist.
Am Montag tagte auch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) im Bundestag, um sich mit der Aufarbeitung des Attentats zu befassen. Abgeordnete erinnerten am Rande der Sitzungen an das Leid und das schwere Schicksal der Betroffenen und Hinterbliebenen der Amokfahrt und sicherten den Bürgern eine detaillierte Aufklärung zu.
Innenexperten der Fraktionen forderten übereinstimmend eine umfassende Analyse des gesamten Geschehens und der Vorgeschichte, um ähnliche Straftaten künftig möglichst zu vermeiden. Dabei erinnerten Abgeordnete auch an das verheerende Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016 mit 13 Toten und zahlreichen Verletzten.
Zur Sprache kamen bei den Abgeordneten das Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt in Magdeburg sowie die Hinweise von Sicherheitsbehörden auf eine Radikalisierung des Täters, die schon länger vorgelegen haben sollen und womöglich nicht effektiv zusammengeführt wurden. Zudem forderten Abgeordnete erweiterte Befugnisse der Sicherheitsbehörden, etwa die Speicherung sogenannter IP-Adressen (Internetprotokoll), sowie schärfere Regelungen zur Abschiebung krimineller Ausländer.
Bundesinnenministerin Faeser sagte nach der vierstündigen Sondersitzung des Innenausschusses vor Journalisten im Bundestag, im Ausschuss sei über die bisher vorliegenden Erkenntnisse umfangreich berichtet worden. Die Atmosphäre sei dem Vorfall angemessen, ruhig und nicht hitzig gewesen. Sie fügte hinzu: „Alle Hintergründe müssen gründlich und genaustens ermittelt werden. Hier wird jeder Stein umgedreht.“ Die Ermittlungen liefen derzeit auf Hochtouren. Es sei noch zu früh, um Schlussfolgerungen zu ziehen.
Für psychisch auffällige potenzielle Täter seien jedoch neue Handlungskonzepte erforderlich. Außerdem gelte es, die Sicherheitsbehörden zu stärken, betonte Faeser. Sie müssten alle nötigen Befugnisse und mehr Personal bekommen. Gebraucht würden unter anderem rechtssichere Speicherfristen von IP-Adressen.
KUHLE: Parlamentarische Aufarbeitung des Anschlags von Magdeburg hat erst begonnen.
Im Nachgang zur Sondersitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung des Anschlags von Magdeburg erklärt der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle:
„Die parlamentarische Aufarbeitung des Anschlags in Magdeburg hat mit dem heutigen Tag erst begonnen. Allein aus Respekt vor den Opfern, den vielen zum Teil schwer Verletzten und deren Angehörigen verbieten sich vorschnelle Schlussfolgerungen. Mit Blick auf die Hintergründe der Tat sind viele Fragen offen, die es jetzt schnell zu klären gilt. Der Täter war den Behörden in Bund und Land als Autor zahlreicher verschwörungsideologischer Inhalte, aber auch konkreter Drohungen in Eingaben an Behörden und Justiz sowie in den sozialen Medien bekannt. Um herauszuarbeiten, warum aus diesen zahlreichen Anhaltspunkten zusammen mit den eingegangenen Hinweisen aus dem Ausland keine intensiveren Maßnahmen der Sicherheitsbehörden erfolgt sind, braucht es nun eine lückenlose Zusammenstellung aller Behördenkontakte des Täters. Forderungen nach schärferen Überwachungsgesetzen dürfen von dieser Frage nicht ablenken. Nichts spricht nach der derzeitigen Erkenntnislage dafür, dass die Behörden bestimmte Maßnahmen ergreifen wollten, dies aber nicht durften. Die Diskussion über die sogenannte Vorratsdatenspeicherung ist in diesem Zusammenhang ein reines Ablenkungsmanöver. Vielmehr sollte man sich mit der Frage befassen, wie die Zusammenarbeit der zahlreichen deutschen Sicherheitsbehörden verbessert werden kann — etwa durch eine Föderalismusreform im Bereich der inneren Sicherheit oder durch die Schaffung gesetzlicher Grundlagen für den Datenaustausch zwischen Bund und Ländern in gemeinsamen Zentren wie dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ).“
Das Ministerium für Justiz, Gleichstellung und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern informiert nach aktuellem Kenntnisstand:
Gegen Taleb A. wurde im Frühjahr 2013 in Mecklenburg-Vorpommern bei der Staatsanwaltschaft Rostock ein Ermittlungsverfahren wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten aufgrund einer Strafanzeige der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern eingeleitet. Aus Unzufriedenheit mit der aus seiner Sicht langwierigen Bearbeitung seines Antrages auf Zulassung zur Prüfung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie verwies Taleb A. in einem Telefonat mit einer Mitarbeiterin der Ärztekammer am 16.04.2013 auf seine angeblich prekäre Situation und drohte an, dass etwas geschehen würde, das international Beachtung finden würde. Er fragte die Mitarbeiterin, ob sie die Bilder aus Boston gesehen habe. So etwas würde dann hier auch passieren. Die Staatsanwaltschaft Rostock beantragte beim Amtsgericht Rostock am 18.04.2013 einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von Taleb A. in Stralsund, der auch erlassen wurde. Waffen, sonstige gefährliche Gegenstände oder Material zum Bau von Bomben sind nicht vorgefunden worden. Am 12.08.2013 stellte die Staatsanwaltschaft Rostock einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gegen den bis dahin strafrechtlich nicht vorbelasteten Mann. Am 22.04.2014 kam es zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Rostock. Das Amtsgericht Rostock verhängte im Ergebnis der Beweisaufnahme eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,00 €. Die gegen dieses Urteil eingelegten Rechtsmittel wurden sowohl vom Landgericht Rostock als auch vom Oberlandesgericht Rostock verworfen. Die Geldstrafe wurde vollständig bezahlt.
Außerdem liegt ein Hinweis auf ein möglicherweise weiteres strafrechtliches Verfahren vor. Danach wurde im Oktober 2014 gegen Taleb A. ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung eingeleitet. Am 17.10.2014 hatte Taleb A. sich vor dem Landgericht Rostock auf eine Decke gelegt, wobei an einem Koffer, den er neben sich platziert hatte, ein Plakat angebracht war, auf dem oben „Was ist der Unterschied?“ und links darunter „Richter (…) Ort Amtscht Rostock“ geschrieben stand. Daneben befand sich ein Bild mit dem durchgestrichenen Gesicht von Adolf Hitler und darunter stand „Richter (…) Ort Landgericht Rostock“ geschrieben. Mit welchem Ergebnis dieses Ermittlungsverfahren endete, ist aufgrund der inzwischen gelöschten Akten nicht mehr ermittelbar.
Aus den noch vorhandenen Dateien ergeben sich darüber hinaus Anhaltspunkte auf eine weitere strafrechtliche Prüfung bei der Generalstaatsanwaltschaft. Danach schrieb Taleb A. am 31.08.2015 einen Brief an den Generalstaatsanwalt und führte unter anderem aus: „Aus rein postmodernem philosophischem Blickwinkel sind Sie schmutzige Bakterien die bald vernichtet werden sollen um das deutsche Volk vor Ihrer Gefahr zu schützen. Meine moralische Pflicht ist aber die Artikel 92 und 97 Abs. 1 des Grundgesetzes zu vernichten. Dafür bin ich bereit mein ganzes Leben zu bezahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es wird aber nicht lange dauern. Die ganze Welt wird darüber reden.“ Ein Ergebnis des Vorgangs kann ebenfalls aufgrund der gelöschten Akten nicht mehr ermittelt werden.
Die Löschfrist für Akten in Ermittlungsverfahren, wenn das Verfahren eingestellt wurde und es sich nicht um Verfahren zur Ermittlung der Todesursache, von Bränden oder um solche handelt, die wegen Schuldunfähigkeit eingestellt wurden, beträgt fünf Jahre (§ 3 Abs. 1 S. 1 Justizaktenaufbewahrungsverordnung, Ziffer 1143.0 lit. d). Die Löschfrist für Akten in Beschwerdesachen bei der Generalstaatsanwaltschaft beträgt ebenfalls fünf Jahre (§ 3 Abs. 1 S. 1 Justizaktenaufbewahrungsverordnung, Ziffer 1153.2). Die Löschfrist über Anklagen, wenn auf Geldstrafe nicht über 90 Tagessätze erkannt wurde, beträgt ebenfalls fünf Jahre (§ 3 Abs. 1 S. 1 Justizaktenaufbewahrungsverordnung, Ziffer 1143.2 lit. h). Hier sind nur die auf Strafe lautenden Urteile aufzubewahren, nämlich 30 Jahre (§ 3 Abs. 1 S. 1 Justizaktenaufbewahrungsverordnung, Ziffer 1113.2).