Ein Artikel von Michèle Winkler, Grundrechtekomitee.
Als uns am 13. Oktober 2018 die erste Teilnehmendenzahl leise geflüstert zugetragen wird, sind wir sprachlos: 150.000 Menschen hier auf dieser Demonstration? WOW! Ein paar Stunden später wird nach oben korrigiert: fast eine viertel Million Menschen sind an diesem Tag mitten in Berlin auf den Beinen. Zusammen gekommen unter dem Motto „Unteilbar“ (link is external) – im Namen von Solidarität, Offenheit und Freiheit, gegen jedwede Ausgrenzung.
Dass sich so viele aufgemacht hatten, zeigt auf, für wie dringlich die Lage empfunden wird. Nicht erst seit den Naziaufmärschen in Chemnitz und den Entgleisungen Seehofers und Maaßens ist klar, dass sich die aktuelle politische Lage nicht schön reden lässt. Immerhin gab es in den Wochen und Monaten zuvor an vielen Orten Demonstrationen zu einzelnen Themen aus dem Unteilbar-Aufruf, zu denen auch schon Zehntausende auf die Straßen gingen. Hier in Berlin fanden sich nun verschiedene Bewegungen zusammen, die in den Vorwochen eigenständig mobilisiert hatten, und diese Verbindung der Einzelthematiken riss offensichtlich nochmals viele Menschen mit.
Als wir die unglaubliche Zahl von 242.000 Menschen hören, sitzen wir müde und hungrig auf einer Verkehrsinsel vor dem Brandenburger Tor und schauen dem hinteren Drittel der Demo dabei zu, wie es an uns vorbei zieht. Immer wieder kommen neue Lautsprecherwagen, umringt von Menschenmassen, um die Kurve. Was, immer noch nicht zu Ende? Obwohl wir seit Stunden auf den Beinen sind, können wir uns nicht so recht losreißen, um endlich etwas zum Essen aufzutreiben. Die euphorische Stimmung, die Freude über diese vielen Menschen, die vielen kreativen Botschaften machen es schwer, jetzt einfach wegzugehen, für so etwas Profanes wie Nahrungsaufnahme. Lieber weiter Schilder und Transparente lesen, Redebeiträgen zuhören, uns über die verschiedensten Menschen und ihre Botschaften freuen.
Die Stimmung ist super, die Sonne scheint, Menschen tanzen. Und dennoch, das hier ist kein Happening, nicht seicht, nicht verwaschen, auch wenn das einige herbeizureden versuchen. Der Hintergrund ist ernst und der Aufruf zur Demonstration (link is external) ist zwar knapp gehalten und zeigt doch klare Kante: Gegen das Erstarken von Rechtspopulismus und Nazis allerorten, gegen Ausgrenzung und Rassismus, gegen Antifeminismus und Queerfeindlichkeit, gegen autoritäre Gesetzesverschärfungen und das ausgedünnte Sozialsystem. Eben gegen den ganzen langweiligen graubraunen Einheitsbrei, den die Rechte gerade zum Greifen nah wähnt und als erstrebenswerten Zustand ansieht. Die angesprochenen Themen sind auch nicht zu breit oder zu beliebig, sondern es sind eben die, die dazu gehören, wenn wir von einer freien und solidarischen Gesellschaft sprechen. Und wem es dann doch allzu wohlfeile Worte mit zu wenig Tiefgang waren, der war aufgerufen, eigene Akzente durch ergänzende, weitergehende Aufrufe zu setzen.
Aber hier passiert viel mehr, als dass sich Leute einfach nur gegen alle möglichen #Ismen zusammen finden. Hier ist eine Idee von Gesellschaft sichtbar, die etwas Utopisches hat. Für mich heißt sie „die Gesellschaft der Vielen“ (link is external). Diese Bezeichnung habe ich zum ersten Mal im Mai 2017 während des NSU-Tribunals (link is external) in Köln gehört. Seitdem trage ich sie im Herzen. Mittlerweile begegnet sie mir öfter – auch mehrfach hier auf der Unteilbar-Demonstration. Denn hier wird sie sichtbar, diese Gesellschaft der Vielen: verschiedenste Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Themen und Politikschwerpunkten – zusammen auf der Straße für Solidarität, Freiheit, Gleichheit und eine Unteilbarkeit der Menschenrechte über Grenzen hinweg. Und was besonders erfreulich ist: Migration und soziale Fragen werden hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zusammen gedacht.
Um die Breite und Tiefe der Demo zu erfassen, muss der Blick auch über die zentralen Auftakt- und Abschlusskundgebungen hinaus gehen, die mit namhaften Redner*innen und Künstler*innen und auch mit Aktivist*innen verschiedenster politischer Gruppen und Initiativen besetzt waren. Denn wirklich mit Tiefe wurden die Themen in den einzelnen Blöcken behandelt, in denen viele Aktive aus Zivilgesellschaft, NGOs und Graswurzelbewegungen mitliefen und sich Gehör verschafften. Über vierzig Lautsprecherwagen und Blöcke verliehen den verschiedenen Wirkungsfeldern dieser Gesellschaft der Vielen einen Ausdruck. Es gab einen Block von Seebrücke und Welcome United, einen Gewerkschaftsblock, den linksradikalen Dagegenhalten-Block, einen Queer-Block, die Taxi-Innung Berlin, den Freiheit-statt-Angst-Block, mehrere Lautsprecherwagen der alternativen Clubszene und noch viele mehr. Wir liefen im Block des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, zusammen mit den Strafverteidigervereinigungen, der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen. Allein hier war die Breite und Tiefe in den Redebeiträgen beeindruckend. Hier sprachen Anwält*innen, Bürgerrechtler*innen und Aktivist*innen zur Einschränkung von anwaltlichen Rechten, zu verringertem Zugang zur Rechtsberatung, zu polizeilichen und strafrechtlichen Besonderheiten im Umgang mit Fußballfans, zu Zumutungen im Mietrecht und zur Kriminalisierung von Seenotrettern.
Die Gesellschaft der Vielen braucht Auseinandersetzung
Die proklamierte Gesellschaft der Vielen ist aber natürlich nicht nur heile Welt. Dazu gehören notwendigerweise Auseinandersetzungen und Streit. Denn Widersprüche und Gegensätze bleiben nicht aus, wenn so viele Menschen und so viele Themen aufeinander treffen. Das ist erstmal positiv, denn durch Streit und Konflikte können wir dazulernen, wenn wir uns denn darauf einlassen, wirklich zuhören und auch Empathie beweisen. Die große Frage dabei ist, wo die roten Linien verlaufen – wo die Widersprüche unausräumbar sind und den Kerninhalten von Solidarität und unteilbaren Menschenrechten zuwider laufen.
Und so wurde wenige Tage vor der Demonstration Kritik an einigen Erstunterzeichner*innen und Redner*innen laut. Neben einiger Polemik und den üblichen Dauernörglern, ist mindestens die Kritik am Zentralrat der Muslime (link is external) begründet. Der Verband ist einer von mehreren islamischen Dachverbänden in Deutschland. Einzelne Funktionäre, aber auch einzelne Mitgliedsvereine stehen den faschistischen Grauen Wölfen oder anderen fundamentalistisch-repressiven Strömungen wie der Muslimbruderschaft oder dem iranischen Mullah-Regime nahe oder setzen direkt deren Interessen um. Der pompöse Name täuscht darüber hinweg, dass der Verband nur wenige der in Deutschland lebenden Muslime vertritt und wohl in weiten Teilen eher nicht die liberalen und progressiven Strömungen, von denen sich deshalb auch einige Vertreter*innen genötigt sahen, der Demo fernzubleiben.
Dass die Sprecher*innen des Unteilbar-Bündnisses so kurz vor der Demo auf die vorgebrachte Kritik nur mit dem Verweis auf die gemeinsam getragenen Inhalte des Aufrufs reagierten, ist nachvollziehbar. Wer schon einmal Bündnisarbeit gemacht hat, kann sich in etwa ausmalen, wie schwierig es ist, sich einerseits im Sinne des Bündnisses und gleichzeitig nicht nur nebulös zu verhalten. Erst recht, wenn eine Idee so zündet, wie die von Unteilbar und innerhalb kürzester Zeit eine sehr breite Unterstützung deutlich wird. Dann ist es oft kaum leistbar sich mit einzelnen Unterzeichnenden eingehender zu beschäftigen. Umso besser, wenn entsprechende, fundiert argumentierte Kritiken dann von außen kommen. Die Erwartung an das Bündnis oder die Sprecher*innen, sich innerhalb kürzester Zeit ohne eigene Recherche gegen einen Bündnispartner zu stellen, ist dennoch zu hoch. Da es aber kein Ziel sein kann, im Namen von falsch verstandener Toleranz rechten und fundamentalistischen Akteur*innen eine Bühne zu bieten, ist das Bündnis jetzt im Nachgang gefragt, sich zu positionieren. Ansonsten haben all jene eine Angriffsfläche, die nur zu gern dieses starke Zeichen klein reden und in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwinden sehen wollen.
Aus einer emanzipatorischen Perspektive lassen sich weitere Kritikpunkte finden. So lief zum Beispiel die Gewerkschaft der Polizei mit, die nicht gerade für ihren Einsatz für Grund- und Freiheitsrechte bekannt ist und deren Lobbyarbeit einen nicht zu unterschätzenden Anteil an den grundrechtswidrigen Polizeigesetz- und Strafrechtsverschärfungen der letzten Jahre und Monate hat. Auch das Internationalistische Bündnis um die MLPD nutzte Unteilbar als Bühne für ihre kruden politischen Vorstellungen. In deren Block wurden – nicht ganz unerwartet – antisemitische Hetzreden gehalten. Dazu hat sich das Unteilbar-Bündnis glücklicherweise recht schnell verhalten und sich deutlich distanziert.
Alles in allem wäre es aber fatal, nur die Haare in der Suppe zu suchen und damit vielen Teilnehmenden bei Unteilbar die inhaltliche Schärfe und politische Vision abzusprechen. Was wir in den letzten Monaten erleben, ist tatsächlich ein Herbst der Solidarität, ein Sichtbarwerden breiter, sozialer Bewegungen. Erste wichtige Schritte waren die Demos gegen das Bayerische Polizeiaufgabengesetz (link is external) in München im Mai 2018, gegen das Nordrhein-Westfälische Polizeigesetz (link is external) im Juli oder jenes in Niedersachsen (link is external) im September. Seit Juli gehen massenhaft Menschen auf die Straßen, um sich für ein Fortführen und Ausweiten der Seenotrettung (link is external) einzusetzen. Im September pilgerten über Wochen hinweg zehntausende in den Hambacher Wald (link is external), um sich mit den langjährigen Besetzer*innen gegen die Abholzung und für einen sofortigen Kohleausstieg zu solidarisieren.
Bevor am 6. Oktober 50.000 Menschen die vorläufige Rettung des Hambacher Waldes feierten, waren eine Woche zuvor in Hamburg 35.000 bei der größten dezidiert antirassistischen Demonstration (link is external) der letzten Jahrzehnte auf der Straße, mit sich selbst organisierenden Geflüchteten und Migrant*innen als den zentralen Stimmen und mit unmissverständlichen Forderungen nach offenen Grenzen, gegen alle Abschiebungen und für gleiche Rechte für alle.
Viele von denen, die sich seit Monaten, oft seit Jahren in kleinen Politgruppen und Graswurzelinitiativen engagieren, waren in Hamburg, in Buir und auch in Berlin auf der Straße. Das macht Mut und sollte als ein Aufbruch verstanden werden.
Lasst uns kritisch miteinander sein, lasst uns streiten, aber auf keinen Fall vergessen, wie wichtig und ermutigend es sein kann, dass man für einen Tag nur eine Person von 242.000 ist. Dass man für einen Tag die Angst und all den Frust der aktuellen Lage auf viele, viele Schultern verteilt weiß. Lasst uns all diejenigen mitreißen und einbinden, auf die wir vorher gehofft hatten, wenn wir uns allzu oft allein fühlten. Lasst uns mitreißend sein auf dem Weg zur Gesellschaft der Vielen!
Dieser Artikel erschien mit dem Titel „Unteilbar auf dem Weg zur Gesellschaft der Vielen“ zuerst in der Ausgabe 433 der Zeitschrift Graswurzelrevolution und ist in leicht gekürzter Version auch auf der Website der Zeitschrift nachlesbar (link is external).
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin
Michèle Winkler schreibt;
“ … das Internationalistische Bündnis um die MLPD nutzte Unteilbar als Bühne für ihre kruden politischen Vorstellungen. In deren Block wurden – nicht ganz unerwartet – antisemitische Hetzreden gehalten.“
Die Meinung, dass das Internationalistische Bündnis um die MLPD Unteilbar „als Bühne für ihre kruden politischen Vorstellungen“ genutzt habe, mag ja als Werturteil durchgehen. Aber dass „nicht ganz unerwartet“ – antisemitische Hetzreden gehalten worden seien, ist dagegen eine Tatsachenbehauptung, die den Tatbestand einer Verleumdung erfüllt, wenn sie nicht der Wahrheit entspricht.
Bemerkenswert ist der Zusatz „nicht ganz unerwartet“, der von großer Voreingenommenheit zeugt, die wahrnimmt was sie erwartet.
Es gibt aber andere Wahrnehmungen und Darstellungen dazu, die im Sinne einer guten Streitkultur auch erörtert werden sollten:
Zum Beispiel hier:
http://www.internationalistische-liste.de/?p=2720
„Kampagne gegen Interbündnis nach #unteilbar-Demo soll Widerstand gegen die Rechtsentwicklung spalten“
oder hier:
https://www.rf-news.de/2018/kw46/unteilbar-ist-unteilbar
„Unteilbar ist unteilbar!“
Um mit den Worten von Michèle Winkler zu sprechen:
“ … durch Streit und Konflikte können wir dazulernen,
wenn wir uns denn darauf einlassen, wirklich zuhören und auch Empathie beweisen“
Fangen wir damit an.
Das wünsche ich mir für das nächste Jahr 2019.
Olaf Swillus.