Der Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holtz (Bündnis 90/Die Grünen) hält die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in Deutschland für ungenügend. „Schon die Kinder erfahren nichts davon in der Schule und entwickeln daher als Erwachsene kein Verständnis für den Umgang mit diesem Teil unserer Geschichte“, sagte der Entwicklungspolitiker im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag der Themenausgabe „Das koloniale Erbe“: 6. Januar 2020). Das Thema müsse daher unter anderem in den Lehrplänen präsenter werden. Außerdem sollte ein zentraler Gedenkort für die Opfer des Kolonialismus sowie ein finanziell gut ausgestattetes Forschungsinstitut zur deutschen Kolonialgeschichte geschaffen werden.
Der in Namibia geborene Grünen-Politiker hält außerdem eine offizielle Bitte um Entschuldigung der Bundesregierung für den Völkermord an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika für „absolut überfällig“. Die bereits seit vier Jahren laufenden Regierungsverhandlungen müssten schnellstens abgeschlossen werden, da das „zögerliche Verhalten“ der Bundesregierung bereits zu Verwerfungen und neuen Konflikten in Namibia führe. „Da entsteht eine sehr konfrontative Stimmung, die mich sehr sorgt“, warnte von Holtz.
Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das am 6. Januar 2020 in „Das Parlament“ erscheinende Interview vorab im vollen Wortlaut:
Herr von
Holtz, Sie sind in Namibia, ehemals Deutsch-Südwestafrika, geboren und
aufgewachsen und 1984 nach Deutschland ausgewandert, um dem Wehrdienst bei der
südafrikanischen Besatzungsmacht zu entgehen. In Ihrem Büro hängt eine
übergroße Afrika-Landkarte. Wie eng sind Ihre Bindungen zu Ihrem Geburtsland
heute?
Meine Herkunft kann ich nicht verleugnen, auch wenn sie mir nicht sofort
anzusehen ist. Ich habe viel Afrika in meinem Blut und meinem Wesen und bin oft
dort, um Verwandte und Freunde zu besuchen.
Welche
Spuren hat die deutsche Kolonialzeit von 1884 bis 1915 in Namibia hinterlassen?
Viele Gebäude, Straßen und Orte tragen deutsche Namen und es gibt eine große
Zahl an deutschsprachigen Namibiern, die in vierter Generation im Land leben.
Im öffentlichen Bewusstsein war die südafrikanische Kolonialzeit, die von 1920
bis 1990 andauerte, aber lange das viel größere Thema. Das hat sich geändert,
nachdem diese Epoche weitgehend aufgearbeitet wurde. Inzwischen treibt die
deutsche Kolonialzeit vor allem die Angehörigen der Herero und Nama sehr um.
Sie wurden von den Deutschen ihres Landes beraubt und fast ausgerottet, die
Folgen sind bis heute sichtbar.
Die
Gräueltaten gegenüber den Volksgruppen bezeichnet die Bundesregierung erst seit
2015 als Völkermord. Eine offizielle Bitte um Entschuldigung steht aber aus,
obwohl sie seit vier Jahren mit Namibia über den Umgang mit diesem Genozid
verhandelt. Warum tut sie sich so schwer?
Das wüsste ich auch gern. Die Opferseite hat ja klare und nachvollziehbare
Erwartungen. Erstens fordert sie, dass wir die Gewalttaten offiziell als
Völkermord anerkennen. Da wäre es sehr hilfreich, wenn der Bundestag endlich
eine Resolution verabschieden würde. In einem zweiten Schritt sollte die
Bundeskanzlerin oder der Bundespräsident die Angehörigen der Opfer um
Entschuldigung bitten. Drittens soll dem ein finanzielles Engagement folgen,
das spürbar zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen führt.
Die
Bundesregierung ist zu allen drei Schritten grundsätzlich bereit, trotzdem ist
eine Einigung nicht in Sicht.
Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass die Bundesregierung alles in einem
Paket verhandeln will. Aber die Frage der finanziellen Wiedergutmachung
erschwert die Verhandlungen wegen der unterschiedlichen Erwartungen auf beiden
Seiten sehr. Wir sollten deshalb einen Schritt nach dem anderen tun. Prioritär
und absolut überfällig ist die Bitte um Entschuldigung, danach können wir
weiter darüber reden, wie eine Entschädigung aussehen kann. Es eilt, denn
leider führt das zögerliche Verhalten der Bundesregierung bereits zu
Verwerfungen und neuen Konflikten in Namibia.
Wie macht
sich das bemerkbar?
Je länger die Verhandlungen dauern, desto mehr verschlechtert sich vor Ort das
Verhältnis zwischen Namibiern und den Nachfahren der deutschen Kolonialisten.
Die Spannungen und Ressentiments nehmen auf beiden Seiten zu, so gibt es
Drohungen, die Farmen der Weißen ähnlich wie in Simbabwe gewaltsam zu
übernehmen. Da entsteht eine sehr konfrontative Stimmung, die mich sehr sorgt.
Die
Bundesregierung hat unter anderem eine Stiftung zur Aufarbeitung der
Kolonialzeit und einen Fonds für Hilfsprojekte in Namibia vorgeschlagen. Reicht
das der namibischen Seite nicht?
Ich kenne keine konkreten Zahlen, aber ich höre, dass es in Namibia
Vorstellungen von der Höhe der finanziellen Wiedergutmachung gibt, die alles
übersteigen, was Deutschland stemmen könnte. Erschwert wird eine Lösung auch,
weil sich die verschiedenen Herero- und Nama-Gruppierungen nicht immer einig
sind; einige misstrauen der namibischen Regierung, andere sind Teil der
Verhandlungsdelegation. Das alles ändert aber nichts daran, dass es zuallererst
Aufgabe der Bundesregierung ist, um Entschuldigung zu bitten. Die Uneinigkeit
über die Höhe einer Zahlung sollte nicht zu weiteren Verzögerungen führen.
Viele Herero
und Nama fordern individuelle Entschädigungsleistungen. Warum schließt die
Bundesregierung das kategorisch aus?
Das Auswärtige Amt hat möglicherweise Angst vor einer juristischen Festlegung
und möchte keinen Präzedenzfall schaffen. Schließlich hatte Deutschland noch
andere Kolonien in Afrika, und auch wenn die deutsche Kolonialzeit
vergleichsweise kurz war, war sie streckenweise sehr heftig. Mir als Politiker
sind die die Begrifflichkeiten nicht so wichtig. Wir brauchen am Ende eine
Lösung, die auch nennenswerte Geldleistungen umfassen sollte.
Wie ist es
jenseits der Debatte über den Völkermord an den Herero und Nama um die
Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Deutschland bestellt?
Schlecht. Schon die Kinder erfahren nichts davon in der Schule und entwickeln
daher als Erwachsene kein Verständnis für den Umgang mit diesem Teil unserer
Geschichte. Wer weiß heute schon, dass viele Grenzen in Afrika während der
deutschen Kolonialzeit gezogen wurden? Das wirkt sich bis heute aus, nehmen Sie
Kamerun: Dort wurden bei der Grenzziehung die unterschiedlichsten
Bevölkerungsgruppen zusammengewürfelt, heute droht dem Land ein verheerender
Bürgerkrieg.
Union und
SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag erstmals festgehalten, dass die Erinnerung
an die Verbrechen in der Kolonialzeit Teil der deutschen Gedenkkultur werden
soll. Ist das nicht erster, wichtiger Schritt?
Natürlich, nur sind diesem Bekenntnis bislang kaum Taten gefolgt. Allerdings
geht das Thema auch so tief, das wir es nicht in einer Regierungsperiode werden
abhandeln können. Die deutsche Kolonialzeit prägt unter anderem unser
Afrika-Bild bis heute – selbst das des Afrika-Beauftragten der Bundesregierung,
Günter Nooke. Wer meint, dass die Kolonialzeit in Afrika dazu beigetragen habe,
„den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen“, offenbart ein völlig
veraltetes, kolonialistisches Denken. Damit sich an solchen Sichtweisen etwas
ändert, muss das Thema auch in den Lehrplänen präsenter werden.
Braucht es
einen zentralen Gedenkort für die Opfer des Kolonialismus?
Das ist sehr wichtig, wir Grünen haben dazu schon viele Anträge gestellt.
Entscheidend ist dabei, dass wir die Betroffenen am Konzept beteiligen. Nur
gemeinsam können wir das richtige Format und die richtige Ansprache finden.
Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, Kunstwerke aus früheren Kolonien
komplett an die Herkunftsländer zurückzugeben. Ist das ein Vorbild für
Deutschland?
Die Lösung kann nicht sein, die Kunstwerke in einen Karton zu packen und nach
Togo, Kamerun oder Tansania zu verschiffen. Wenn wir uns auf diese Weise der
Vergangenheit entledigen, besteht die Gefahr, dass wir einen Deckel draufmachen
und uns nicht mehr mit ihr auseinandersetzen.
Was ist die
Alternative?
Wir sollten mit den rechtmäßigen Besitzern überlegen, was mit den Werken
passieren soll. Außerdem ist ein finanziell gut ausgestattetes
Forschungsinstitut zur deutschen Kolonialgeschichte überfällig.
Wissenschaftler, Institute und Museen in den einstigen Kolonialstaaten sollten
wir unterstützen und mit ihnen Projekte zur Erinnerung und Aufarbeitung
entwickeln. Es geht hier um unsere gemeinsame Geschichte, deshalb sollten wir
auch eine gemeinsame Erinnerungskultur entwickeln.
Das Gespräch führte Johanna Metz.
Ottmar von Holtz (Bündnis 90/Die Grünen), geboren in Gobabis (Namibia), sitzt seit 2017 im Bundestag und ist dort Obmann seiner Fraktion im Entwicklungsausschuss.
Fotoquelle: By Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25922553