„Niemand hat einen Heiligenschein verdient.“

Ex-Anstaltsdirektor Thomas Galli hat mit Thomas Middelhoff gesprochen und philosophiert bei TP Presseagentur über den Sinn unseres Strafrechts..

Warum strafen wir? Wie strafen wir? Was bewirkt unser Strafrecht? Ich habe dazu ein Gespräch mit Thomas Middelhoff geführt. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Bertelsmann und Arcandor wurde mit Urteil des Landgerichts Essen vom 14.11.2014 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilt, weil er private Flüge und die Herausgabe einer Festschrift vom Unternehmen bezahlen ließ. Der gerichtlich festgestellte Schaden betrug knapp 500.000 Euro. 

Vor diesem Gespräch kannte ich Thomas Middelhoff nicht persönlich. Ich hatte daher allein sein medial vermitteltes und gezeichnetes Bild. Das Bild eines Topmanagers mit Millionengehalt, Yacht und Villa in St. Tropez. Das Bild eines prominenten Profiteurs des kapitalistischen Systems, der es sich auch dann noch gut gehen ließ und Millionen kassierte, als zig Tausende von Arbeitsplätzen gestrichen werden mussten. Und schließlich das Bild eines Mannes, der öffentlich demontiert wurde, und seine Freiheit, sein Ansehen, sein Vermögen und seine berufliche Existenz verloren hat. Seine Ehe ging in die Brüche, und seit seiner Inhaftierung leidet er an einer Autoimmunerkrankung. Wenn aktuell über sein Buch oder seine Auftritte und Vorträge berichtet wird, ist diese Berichterstattung sehr oft negativ konnotiert: Er gebe sich reumütig, sei scheinbar geläutert, nur angeblich pleite usw. Wenn Thomas Middelhoff über sein Strafverfahren schreibt oder spricht, führt dies in der öffentlichen Rezeption eher selten dazu, dass dieses Strafverfahren kritisch analysiert wird. Tendenziell ist der Tenor vielmehr oft: „Jetzt beschwert er sich auch noch!“

Dies alles wirft mehrere Fragen über den Sinn unseres Strafrechts auf. Welchen Sinn geben wir diesem Strafrecht offiziell, und welchen verbinden wir tatsächlich damit? 

Im Kern geht es bei unseren Strafen um die Vergeltung von Schuld. Der Täter soll ein Übel erleiden, weil er jemand anderem ein Übel zugefügt hat. Wenn diese Schuld aber verbüßt worden ist, müsste es dann nicht auch „wieder gut“ sein? Müssten wir dann nicht auch vergeben?

Und sind wir tatsächlich bereit, an menschliche Reue zu glauben, wenn wir das nicht einmal bei jemandem tun, der sein Verhalten in der Vergangenheit selbst als gierig, sündhaft und zutiefst falsch bezeichnet? Der für einen minimalen Lohn mit Behinderten gearbeitet hat, und auf zahlreichen Vorträgen junge Manager davor bewahren will, die gleichen Fehler wie er selbst zu machen?

Das offizielle Ziel des Strafvollzuges ist zudem die Resozialisierung im Sinne des Anspruchs, dass ein Inhaftierter nach der Haft nicht wieder straffällig wird. Zum einen muss hier gefragt werden, inwieweit dieser Anspruch durch die Gestaltung des Strafvollzuges tatsächlich gelebt wird. Zum anderen stellt sich die Frage, ob wir es auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene auch insoweit ernst mit der Resozialisierung meinen, als wir auch bereit sind, überhaupt daran zu glauben. Oder denken wir nicht vielmehr „einmal Straftäter, immer Straftäter“?

Unser Strafrecht soll Gerechtigkeit schaffen. Aber lügen wir uns damit nicht vielfach selbst in die Tasche? Ein maßlos ausufernder Kapitalismus schafft fundamentale Ungerechtigkeiten, und legt viele der Regeln fest, deren Bruch dann zur Strafbarkeit führt. Überspitzt und sehr vereinfacht formuliert: wenn ein Manager Zehntausende von Arbeitsplätzen streicht, und sich selbst das Gehalt erhöht, ist dies legal. Wenn er seinen Dienstwagen unerlaubt privat verwendet, wird er bestraft. Und – zahlenmäßig ungleich häufiger: viele haben überhaupt nicht die Chance, vom Kapitalismus zu profitieren, auch wenn sie penibel alle Regeln einhalten. Brechen sie jedoch eine, werden sie bestraft. Schafft unser Strafrecht also oft eine Scheingerechtigkeit, und lenkt so von tatsächlicher Ungerechtigkeit ab?

Und schließlich: trennt unser Strafrecht, wie viele glauben, tatsächlich die gute von der schlechten Tat, und das Gefängnis den guten vom schlechten Menschen? Im Milieu der Topmanager sind 500.000 Euro so viel Geld, wie es für uns andere 5,50 oder 500 Euro sind. An Stelle eines Dienstwagens oder eines vom Arbeitgeber bezahlten Nahverkehrstickets benutzt man Hubschrauber und Privatjets. Tagtäglich sind Entscheidungen zu treffen, bei denen es um Hunderttausende von Arbeitsplätzen und Milliarden von Euro gehen kann. Ein Termin jagt den nächsten. Ein Arbeitstag hat 16 Stunden, und ist minütlich durchgetaktet. Von der Aufsichtsratssitzung in New York geht es direkt zu einem Gespräch mit der Bundeskanzlerin, um danach eine Rede vor Aktionärsvertretern zu halten. Ist es wirklich ein Normbruch, wenn man in diesem Kontext, und bei Hunderten von Flügen jedes Jahr, nicht jeden Flug und nicht jede sonstige Ausgabe korrekt abrechnet? Oder ist es vielmehr die Norm? „Tun das nicht alle“? Pickt das Strafrecht also aus der unendlichen Komplexität des menschlichen Interagierens oft Handlungen heraus, die für diejenigen, die es tatsächlich betrifft, gar nicht „schlecht“, sondern normal sind? So wie es in politischen Kreisen normal sein kann, die Unwahrheit zu sagen oder Konkurrenten brachial zu verdrängen. Wie es in Beamtenkreisen normal sein kann, auf dem dienstlichen Computer privat zu surfen oder das Diensttelefon für private Gespräche zu verwenden. Wie es in Medienkreisen normal sein kann, Menschen persönlich zu schaden, um die Auflage zu erhöhen. Oder wie es im Drogenmilieu normal sein kann, schwarzzufahren oder Lebensmittel zu stehlen, um das wenige Geld zur Befriedigung der Sucht ausgeben zu können. Wäre es also zum Schutz bestimmter Normen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene insgesamt nicht ungleich wichtiger, auf Strukturen Einfluss zu nehmen, in denen das, was das Strafrecht als Normbruch definiert, tatsächlich die Norm ist?   

Oder konstituiert unser Strafrecht eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner von Normen nach dem Motto: „Ganz egal, welche Regelmäßigkeiten oder Notwendigkeiten ein bestimmtes Milieu mit sich bringt, das und das geht gar nicht“?

Diese und andere Fragen habe ich mit Thomas Middelhoff diskutiert. Es war der Auftakt einer Reihe von Gesprächen, die unser Strafrecht und insbesondere die Institution Gefängnis aus verschiedenen Perspektiven beleuchten sollen, und die in Buchform und als Videomitschnitte erscheinen werden.

Thomas Middelhoff hat meinen Kollegen Sait Icboyun und mich für das Gespräch zu sich nach Hause in Hamburg eingeladen. Er war sehr freundlich, und es war reflektiert, hochinteressant und spannend, was er zu berichten hatte. Nicht zuletzt konnte ich auch von ihm in Erfahrung bringen, wie er als Manager einen Konzern leiten würde, dem es zuvorderst um Resozialisierung ginge.

Es wird medial oft kritisiert, dass Thomas Middelhoff überhaupt noch öffentlich in Erscheinung tritt. Diese Kritik finde ich grundfalsch. Wir können froh sein, dass er es tut. Niemand hat einen Heiligenschein verdient. Aber er ist ein sehr kluger Kopf (der, nebenbei bemerkt, auch gut schreiben kann) mit einem einzigartigen Erfahrungsschatz. Unser Strafrecht könnte mit mehr Sinn erfüllt werden, wenn dieser Schatz auch genutzt wird.

Fotoquelle: Sait Icboyun

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