Rede des Berliner Justizsenators Dr. Dirk Behrendt zu 550 Jahren Kammergericht.

Festakt am 9. Juni 2018.

Am 09. Juni 2018 fand im Jüdischen Museum in Berlin der Festakt zum 550. Jubiläum des Kammergerichts statt. Das Kammergericht residierte in diesem Gebäude von 1735 bis 1913. Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert die einzelnen Festreden (hier die des Berliner Senators für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt). Es gilt das gesprochene Wort.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Anwesende,

ich freue mich, Sie heute hier in Kreuzberg begrüßen zu dürfen – hier in der Lindenstraße.

Ich freue mich auch deshalb, weil mich mit der Lindenstraße Erinnerungen an meine Studienzeit verbinden.

Schon zu meiner Studienzeit, fuhr ich auf dem Weg zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät fast täglich hier entlang. Vorbei am Kollegienhaus, dem früheren Sitz des Kammergerichts vorbei.

In meinen Lernpausen war ich auch regelmäßig auf dem Berliner Kreuzberg und musste angesichts des Nationaldenkmals für die Befreiungskriege an das sogenannte Kreuzbergurteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts von 1882 denken.

Sie sehen, dieser Bezirk hat rechtshistorisch einiges zu bieten.

Aber heute soll es nicht um den Bezirk Kreuzberg gehen und auch nicht um das Preußische Oberverwaltungsgericht.

Wir feiern heute das 550-jährige Bestehen des Kammergerichts.

550 Jahre! Das ist eine abstrakte Zahl, das ist ein abstrakter Zeitraum. Fällt Ihnen ein konkretes Ereignis aus dem Jahr 1468 ein?

–         1468 starb beispielsweise Johannes Gutenberg. Wir befinden uns also in einer Zeit, in der der Buchdruck gerade erfunden worden war.

–         Fünf Jahre später, also 1473 wurde beispielsweise Nikolaus Kopernikus geboren, der erst Jahrzehnte später  mit seinen Forschungen das geozentrische Weltbild in Frage stellte.

Zu dieser Zeit also fanden bereits Verfahren vor dem Kammergericht statt. Das Gericht hieß damals noch Hof- und Kammergericht und hatte seinen Sitz im Berliner Stadtschloss, im heutigen Bezirk Berlin-Mitte.

Seit dieser Zeit ist das Kammergericht ein Teil der wechselvollen Geschichte Deutschlands. Und ein Teil der wechselvollen Geschichte Berlins.

An dieser Stelle möchte ich ein kleine Anekdote erzählen: Denn den Umstand, dass wir heute gemeinsam das 550-jährige Bestehen des Kammergerichts feiern dürfen, verdanken wir einem Zufall:

Das Kammergericht entschied nämlich damals, also Mitte des 15. Jahrhunderts, in zweiter Instanz über Beschwerden gegen Urteile der niederen Gerichte der gesamten Mark Brandenburg. Die Interessen des Landesherrn vertrat in solchen Rechtsstreitigkeiten ein sogenannter Fiskalprokurator – eine Art Rechtsanwalt der Landesherren.

Dieser damalige Vertreter der Landesherren musste vom Kammergericht benannt werden. Heute würde man vermutlich von einer Vollmacht sprechen. Und genau in einer solchen Urkunde aus dem Jahr 1468 wird das Kammergericht erstmals erwähnt.

Und dass diese Urkunde erhalten blieb, liegt an dem Zufall, dass sie dem Rechtsbeistand nicht zugestellt werden konnte. Sie kam also zurück zum Kammergericht und ist sozusagen die Grundlage unseres heutigen Festaktes.

Meine Damen und Herren,

daraus können wir zwei Erkenntnisse ziehen:

  1.  Zustellungsprobleme gab es offenbar schon vor 550 Jahren!
  2. Der Fall macht auch deutlich: Zustellungsfehler können erhebliche Folgen mit sich bringen.

Das Kammergericht war also Mitte des 15. Jahrhunderts im Berliner Schloss angesiedelt. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen blieb es dort auch für 150 Jahre.

–         Ein kurze Unterbrechung gab es beispielsweise, weil das Gericht 1598/99 wegen der in Berlin grassierenden Pest im  Ruppiner Schloss verhandeln musste.

Erst im Jahr 1698 zog das Gericht in die Brüderstraße, ganz in der Nähe des Berliner Schlosses.

Dort blieb es knapp 40 Jahre bis König Friedrich Willhelm I. im Jahr 1735 befahl, dass das Gericht in das neue Kollegienhaus in der Lindenstraße ziehen solle. Also an den Ort, an welchem wir uns heute befinden.

Dieser Umzug war entscheidend.

Entscheidend für die Entwicklung des Gerichts.

Und entscheidend für den guten Ruf des Gerichts.

Denn mit dem Umzug verließ das Kammergericht den Schlossbezirk, die ursprüngliche Bindung an den Hof wurde lockerer und das Gericht gewann Profil als Kontrollinstanz gegenüber staatlicher Gewalt. Im Zeitalter der Aufklärung wurde es in ganz Europa bekannt als eine Instanz, in der unabhängige Gesetzeshüter die Idee des Rechtsstaates verteidigen, sogar gegen den erklärten Willen des Königs.

Einer der bekanntesten Fälle, der diese Haltung eindrucksvoll zeigt, war der sogenannte Müller-Arnoldt-Fall.

Im Dezember 1779 zitierte Friedrich der Große unter anderem drei Richter des Kammergerichts ins Berliner Schloss, um ihnen wegen eines Urteils die Leviten zu lesen.

Auslöser war ein Urteil, das die Klage eines Müllers gegen einen adeligen Gutbesitzer in letzter Instanz abgewiesen hatte.

Der König hatte sich ein Urteil zugunsten des Müllers Arnoldt gewünscht. Das Kammergericht entschied jedoch gegen den Willen des Königs. Als Konsequenz ließ der König die drei Kammergerichtsräte verhaften und ins Stadtgefängnis sperren.

Beim Kriminalsenat des Kammergerichts wurde sogar ein Strafverfahren gegen die Kollegen wegen Rechtsbeugung eingeleitet.

Als klar wurde, dass auch das Strafverfahren eingestellt werden soll, verurteilte der König die drei Richter kurzerhand selbst zu Gefängnisstrafen.

Das Ideal des gewissenhaften preußischen Justizbeamten, der lieber ins Gefängnis geht, als sich dem königlichen Willen zu unterwerfen und das Recht zu beugen, hat hier seinen Ursprung.

Von einer anderen Seite zeigte sich das Kammergericht hingegen in einem Fall, der in der Zeit des Vormärzes spielt. Diese Zeit war geprägt durch die Pariser Julirevolution 1830 und das Hambacher Fest im Mai 1832. Im April 1833 versuchten Aufständische beispielsweise vergeblich mit einem Überfall auf Frankfurter Polizeiwachen eine Revolution in Deutschland in Gang zu setzen.

Mit harten Urteilen wendete sich das Kammergericht gegen diese politische Opposition – insbesondere gegen die Burschenschaften.

Höhepunkt dieser juristischen Gegenwehr war der 4. August 1836: an diesem Tag fällte das Kammergericht 39 Todesurteile gegen Burschenschaftler wegen Hochverrats. Mit insgesamt 206 Strafurteilen, überwiegend Haftstraßen, führte das Kammergericht an diesem 4. August 1836 den härtesten Schlag gegen die politische Opposition im Vormärz. Diese harten Urteile stießen jedoch auch bei Konservativen auf Unverständnis. Letztlich änderte der König die Todesurteile in Haftstrafen ab.

Meine Damen und Herren,

diese beiden Beispiele zeigen, dass die Rechtsprechung des Kammergerichts auch immer im Kontext der jeweiligen politischen Umstände betrachtet werden muss.

Aber auch die Struktur, die Zuständigkeit und damit die Stellung des Gerichtes hingen in den vergangenen Jahrhunderten von den jeweiligen politischen Umständen ab.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Gründung des Deutschen Reichs. Im Jahr 1877 verabschiedete der Reichstag die Reichsjustizgesetze, die am 1. Oktober 1879 in Kraft traten. Damit gaben die Bundesstaaten ihre bisherige Justizstruktur auf.

Das Kammergericht verlor seine prominente Stellung als Staatsgerichtshof und höchstes Berufungsgericht für die preußischen Staatsbürger an das Reichsgericht in Leipzig. Es war nur noch eines von 13 neu errichteten Oberlandesgerichten in Preußen.

Immerhin: Auf allerhöchsten Erlass von Kaiser Wilhelm I. behielt das Gericht zumindest die Bezeichnung „Kammergericht“.

Aber nicht nur die politischen Umstände der jeweiligen Zeit beeinflussten die Geschichte des Kammergerichts. Maßgeblich war sicherlich auch ein ganz anderer Faktor: Der Standort des Gerichts:

Ich habe bereits die Anfänge im Berliner Stadtschloss und die Zeit im neuen Kollegienhaus, hier in der Lindenstraße erwähnt. Ein besonderes Ereignis war es daher, als das Kammergericht im Jahr 1913 in das Gebäude am Kleistpark einzog. Dies wird bereits deutlich, wenn man sich die Dimensionen diese neuen Gebäudes betrachtet:

Die insgesamt  540 Räume auf fünf Stockwerken boten plötzlich erheblich mehr Platz. Darunter Räume für den Präsidenten, füe 37 Senatspräsidenten, 6 Präsidialräte, 20 Besprechungszimmer, Arbeitszimmer für den Oberstaatsanwalt, den Ersten Staatsanwalt und 11 Staatsanwälte. Nicht zu vergessen: Die 16-Zimmer-Wohnung für den Präsidenten.

Und auch in diesen neuen Räumen sollte das Gericht Teil der wechselvollen Geschichte Berlins und Deutschlands bleiben:

Als zum Beispiel am 31. März 1933 die SA in Berliner Gerichte stürmte und jüdische Juristen attackierte blieb auch das Kammergericht nicht verschont.

An diesem Tag stürmten SA-Männer auch über die Flure des Kammergerichts am  Kleistpark und  schrien „Juden raus!“ Ein Wachtmeister soll an diesem Morgen die Leser in der Bibliothek mit dem Satz gewarnt haben: „Die jüdischen Herren tun besser, das Haus für heute zu verlassen!“

Noch am selben Abend erließ der Chef des preußischen Justizministeriums Hanns Kerrl einen Erlass in dem es unter anderem hieß:

„Ich ersuche (…)  umgehend, allen amtierenden jüdischen Richtern nahe zu legen, sofort ihr Urlaubsgesuch einzureichen, und diesem sofort stattzugeben.“

Fast ein Viertel der am Kammergericht tätigen Richter und Staatsanwälte durften das Haus ab diesem Zeitpunkt nicht mehr betreten.

Und wir alle wissen, wo diese Gleichschaltung der Justiz endete:

Elf Jahre später, im August 1944, fand im Plenarsaal am Kleistpark der Schauprozess des Volksgerichtshofes gegen Beteiligte am Attentat vom 20. Juli statt. 156 Männer und Frauen wurden wegen der Beteiligung an dem Umsturzversuch angeklagt, 104 von ihnen wurden hingerichtet. Etwa 70 dieser Todesurteile verkündete der Volksgerichtshof im Plenarsaal am Kleistpark.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges zog das Kammergericht erst einmal nicht zurück in das repräsentative Haus in Schöneberg. Das Kammergericht (West) bezog von 1949 bis 1951 zunächst das Yorkhaus am Fehrbelliner Platz. Ab April 1951 hatte es dann seinen Sitz im Gebäude des ehemaligen Reichsmilitärgerichts an der Witzlebenstraße am Lietzensee.

Hier arbeitete das Gericht 46 Jahre. Dabei teilte es sich das Gebäude auch mit dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes und einer Dienststelle des Generalbundesanwalts.

Der Weg zurück in das Gebäude am Kleistpark beginnt an einem Morgen im Februar 1991. Damals geht an der Witzlebenstraße ein Schreiben der amerikanischen Streitkräfte ein. In dem Brief kündigen die Amerikaner die vollständige Räumung und Rückgabe des ehemaligen Gerichtsgebäudes am Kleistpark an. Und zwar für den folgenden Tag.

In den Jahren danach wurde das Gebäude am Kleistpark aufwendig saniert. Erst 1997 war das Kammergericht wieder komplett in das Gebäude am Kleistpark eingezogen.

Und auch hier eine kleine Anekdote am Rande: Die verlassenen Räumlichkeiten in der Witzlebenstraße sollten später zu Luxusapartments umgebaut werden. Und wer weiß: Vielleicht hat ja nun der ein oder andere Rechtsanwalt, die ein oder andere Rechtsanwältin, das Wohnzimmer dort, wo er zuvor an Gerichtsverhandlungen des Kammergerichts teilgenommen hat.

Meine Damen und Herren,

ich könnte nun noch auf einige spektakuläre Verfahren eingehen, die seit dieser Zeit vor dem Kammergericht spielten: So setzte beispielsweise der 5. Strafsenat des  Kammergerichts im Jahr 2003 die Reststrafe von Egon Krenz zur Bewährung aus. Das Landgericht hatte Krenz 1997 als ehemaliges Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wegen Tötung von vier Flüchtenden an der Grenze zum Westteil Berlins zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.

An dieser Stelle halte ich mich jedoch kurz: Denn auch ohne diese Verfahren der vergangenen zwei Jahrzehnte kann man eines ganz sicher sagen:

Das Kammergericht trägt mehr als fünf Jahrhunderte deutscher Rechtsgeschichte in sich. Und das macht dieses Gericht einzigartig.

Als Justizsenator Berlins freue ich mich daher, dass wir ein Gericht wie dieses in unserer Stadt haben.

Ich würde jetzt gerne sagen, dass ich diesem Gericht auch für die kommenden 550 Jahre alles Gute wünsche. Doch angesichts dieser zeitlichen Dimension wäre das vielleicht etwas vermessen.

Aber 50 Jahre darf man schon mal voraus blicken.

Daher wünsche ich diesem Gericht bis zu seinem 600-jährigen Jubiläum, dass es Werten wie der richterliche Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit weiterhin hoch hält und ihnen treu bleibt. Und ich wünsche diesem Gericht, dass es in diesem Sinne die Geschichte Berlins, und vielleicht auch die Geschichte Deutschlands, auch in den kommenden 50 Jahren weiterhin prägt.

Vielen Dank.

Bildquelle: TP Presseagentur Berlin

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*