Rede von Außenminister Heiko Maas bei der 75. Generalversammlung der Vereinten Nationen.

Die diesjährige Generaldebatte der Vereinten Nationen muss wegen der Corona-Pandemie virtuell stattfinden. Auch Bundesaußenminister Heiko Maas hält seine Rede als Video-Botschaft.


„‚Die Überlebenden waren immun, die anderen tot.‘
So lapidar beschreibt ein deutscher Medizinhistoriker das Ende der Spanischen Grippe vor einhundert Jahren.

So lapidar, dass es einen erschrecken lässt beim Blick auf die Pandemie, die unsere heutige Welt fest im Griff hat.

• 30 Millionen Menschen haben sich bereits mit dem Covid-Virus infiziert.
• Fast eine Million Menschen sind gestorben.
• Und die längerfristigen Folgen – Hunger, Armut, Flucht und Konflikte – beginnen gerade erst, uns zu erreichen.
Und doch: 2020 ist nicht 1920.
Geschichte wiederholt sich nicht – wenn wir es nicht zulassen.
Wir haben die Wahl, meine Damen und Herren, und kaum etwas macht dies so deutlich wie die Erfahrungen, die wir in der Corona-Pandemie gesammelt haben.
Sie zeigen einerseits: Mangelnde Transparenz, Desinformation und Verschwörungstheorien können töten.
Andererseits aber weisen sie auch einen Weg aus der Krise:
Es ist der Weg der Vernunft, der sich auf wissenschaftliche Expertise stützt.
Der Weg der Kooperation, der auf gemeinsame Regeln baut.
Regeln, an die wir alle uns halten müssen. Und deshalb spreche ich heute aus der Quarantäne bei mir zuhause zu Ihnen, nachdem ich vor einigen Tagen Kontakt zu einer positiv getesteten Person hatte.

Und ich hoffe, dass die Technik mitspielt und ich trotzdem gut zu verstehen bin.
Meine Damen und Herren,
solange das Virus existiert, kann es jede und jeden von uns treffen.
Und darum gilt: Nur wenn wir die Pandemie überall auf der Welt unter Kontrolle bringen, werden wir sie auf Dauer überwinden.
Die Betroffenen gehören ins Zentrum all‘ unserer Anstrengungen. Und die Suche nach Impfstoffen und Medikamenten darf kein Wettlauf sein, kein Schönheitswettbewerb.
Deshalb hat Deutschland in diesem Jahr bereits mehr als 3 Milliarden Euro für die globale Krisenbewältigung bereitgestellt – mit einem besonderen Fokus auf den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.
Und als größter Exporteur pharmazeutischer Produkte bekennen wir uns klar dazu, mögliche Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19 fair zu verteilen – als ein „global public good“.
Meine Damen und Herren,
auch in dieser Krise zeigt sich: Internationale Kooperation ist keine Ideologie und kein Selbstzweck.
Ganz im Gegenteil: Sie liefert Ergebnisse.
Und dies auch weit über die eigentliche Pandemie hinaus.  

• Etwa in der Ukraine, wo die Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland zur bisher längsten Waffenruhe seit Beginn des Konflikts beigetragen haben. Hunderttausende Menschen im Osten des Landes leben derzeit nicht mehr in ständiger Kriegsgefahr. Das macht Hoffnung auf eine wirklich dauerhafte Lösung des Konflikts. Wir werden sie nutzen für intensives Engagement im Normandie-Format in den nächsten Monaten, auch auf hoher politischer Ebene.
• Auch in Libyen setzen wir auf Kooperation mit den Vereinten Nationen, um die Beschlüsse der Berliner Konferenz vom Januar vollständig umzusetzen. Die Annäherung, die es in den letzten Wochen zwischen der Regierung in Tripolis und den Kräften im Osten des Landes gegeben hat, ist ein großer Schritt nach vorn. Doch für eine Lösung müssen jetzt auch die Kräfte von außerhalb endlich einlenken. Sie müssen aufhören, immer noch Waffen und Söldner zu schicken und so den Konflikt zu befeuern. Darum wird es gehen, wenn António Guterres und ich Anfang Oktober die Unterstützer des Berliner Prozesses erneut zusammenbringen, um sie auf die Einhaltung ihrer Zusagen zu verpflichten.
• Hoffnung machen auch die jüngsten Entwicklungen im Verhältnis zwischen Israel und den arabischen Ländern am Golf – auch dies ein Ergebnis mutiger Kooperation. In den letzten Wochen habe ich mich dazu eng mit meinen Kollegen aus Jordanien, Ägypten und Frankreich abgestimmt und wir waren uns einig: Diese neue Dynamik sollte von den Parteien genutzt werden für neue, ernsthafte Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung, die allein dauerhaften Frieden verspricht. Dafür müssen sich beide Seiten bewegen, auf Gewalt verzichten, aber auch auf einseitige Schritte wie Annexionen und den Siedlungsbau. Wo immer wir Europäer dies flankieren können – politisch oder wirtschaftlich –, da werden wir das tun.
Meine Damen und Herren,
trotz aller Fortschritte der letzten Wochen – von einem weltweiten Umdenken sind wir noch meilenweit entfernt. Die Aufforderung des Generalsekretärs zu einer globalen Waffenruhe, die der Sicherheitsrat im Juli unter deutscher Präsidentschaft verabschiedet hat, verhallt an vielen Orten ungehört.
Das ist nicht nur ein Problem für die Glaubwürdigkeit des Sicherheitsrats.
Es ist vor allem eine Katastrophe für Millionen Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, die der Pandemie völlig schutzlos ausgeliefert sind.

• Wir brauchen noch größere Anstrengungen im Kampf gegen Gewalt und Terrorismus im Sahel und vor allem eine noch engere Abstimmung zwischen den Staaten der Region, regionalen Organisationen und der internationalen Gemeinschaft. Dafür stehen die Sahel-Allianz, die Partnerschaft für Sicherheit und Stabilität im Sahel und die Sahel-Koalition. Und wir unterstützen die Bemühungen von ECOWAS, Mali schnellstmöglich zurück zur verfassungsmäßigen Ordnung zu führen – denn Frieden, Stabilität und Entwicklung ist, was die Menschen dort erwarten.
• Und, meine Damen und Herren, eine neue, internationale Kraftanstrengung brauchen wir auch, um endlich Frieden nach Syrien zu bringen. Ein landesweiter Waffenstillstand und ein umfassender, echter Verfassungsprozess, wie Resolution 2254 ihn vorsieht – das sind die Voraussetzungen, unter denen wir über einen Wiederaufbau des Landes reden können.   Und auch bis es soweit ist, stehen wir fest an der Seite der Menschen Syriens – durch humanitäre Hilfe, die auch weiterhin grenzüberschreitend möglich sein muss.
Und noch etwas ist Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden: Gerechtigkeit.
Deshalb werden wir die Verantwortlichen für schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit – für Mord, Folter und Vergewaltigung – auch weiterhin vor deutschen Gerichten zur Rechenschaft ziehen und die VN-Mechanismen zur Aufarbeitung mit aller Kraft unterstützen.
Dabei geht es beileibe nicht allein um Syrien. Wer nicht klar trennt zwischen Tätern und Opfern, wer die Linie zwischen Recht und Unrecht verwischt, der rührt an den Fundamenten unserer regelbasierten Ordnung. Der bringt unser friedliches Zusammenleben selbst in Gefahr.
• Das müssen sich diejenigen bewusst machen, die Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof in seiner Arbeit behindern.
• Das gilt für die, die den Sicherheitsrat durch immer neue Vetos blockieren und seine dringend nötige Reform durch immer neue Verzögerungstaktiken verhindern.
• Und das gilt erst recht für diejenigen, die das Völkerrecht brechen, obwohl sie als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ganz besondere Verantwortung für seine Einhaltung tragen.
Nicht zum ersten Mal sind wir konfrontiert mit einem Verstoß gegen ein existenzielles Prinzip internationaler Zusammenarbeit – der Ächtung chemischer Waffen.
Ein Verstoß hiergegen – wie wir ihn gemeinsam mit unseren Partnern bei der Vergiftung Alexej Nawalnys belegen konnten – sind ein Problem für die ganze Staatengemeinschaft.

Ich fordere Russland auf, mehr zu tun zur Aufklärung dieses Falls. Ein solcher Fall kann nicht folgenlos bleiben. Deshalb hat sich die EU die Verhängung von Sanktionen vorbehalten.
Und wir sind unseren Partnern weltweit dankbar für ihre klare Unterstützung dabei.
Die gleiche Entschlossenheit, den gleichen Willen zur Zusammenarbeit brauchen wir auch in anderen existenziellen Fragen für die Menschheit.
Auch hier stehen wir vor der Wahl.
Wir können weiter zusehen, wie unsere Wälder verbrennen – und dennoch den menschengemachten Klimawandel leugnen.

Oder wir können auf die Stimme der Wissenschaft hören und den Klimawandel als das behandeln, was er ist: die größte Bedrohung für Sicherheit, Wohlstand und Entwicklung auf unserem Planeten.
Auch deshalb haben wir das Thema „Klima und Sicherheit“ in den letzten Monaten fest im Aufgabenheft des Sicherheitsrats verankert.
Und wir freuen uns, dass Norwegen, Irland, Kenia, Mexiko und andere daran weiterarbeiten werden, wenn sie nächstes Jahr im Sicherheitsrat sitzen.
Meine Damen und Herren,
wir können weiter Rüstungskontrollverträge brechen – und so jahrzehntelang gewachsenes Vertrauen zerstören.
Oder wir können nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung wieder auf die internationale Agenda setzen – so wie wir es in den letzten Monaten getan haben, nicht zuletzt mit Blick auf die kommende Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags.
Auch der europäische Einsatz für das Atomabkommen mit dem Iran fügt sich in diesen Kontext.
Ja, wir teilen die Sorge über ein Ende des geltenden Waffenembargos, solange der Iran Israel bedroht und die ganze Region vom Libanon über Syrien bis nach Jemen destabilisiert.
Aber die Zerschlagung des JCPoA bringt uns einem Waffenembargo keinen Schritt näher. Im Gegenteil: Ein Ende des JCPoA bringt allenfalls Iran einen Schritt näher an die Atombombe.
Und deshalb stehen wir als Teilnehmer des JCPoA weiter zu dessen voller Geltung und fordern Iran auf, es ebenfalls vollständig einzuhalten.
Meine Damen und Herren,
wir können zusehen, wie Menschenrechte entkernt und mit Füßen getreten werden, obwohl wir alle uns ihnen verpflichtet haben.
Oder wir können an der Seite derjenigen stehen, die unterdrückt, misshandelt und verfolgt werden – wie etwa die friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten in Belarus.
Immer wieder haben wir gegenüber Lukashenko einen nationalen Dialog angemahnt, vermittelt durch die OSZE. Doch er hat alle Angebote ausgeschlagen und setzt weiter auf Gewalt und Unterdrückung.

Und auch das muss Konsequenzen haben, wenn wir es ernst meinen mit unseren Werten und unseren internationalen Übereinkommen. Darüber beraten wir in der Europäischen Union.
Meine Damen und Herren,
gerade in Krisenzeiten braucht es mutige Entscheidungen.
Vor 75 Jahren – nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs, die von Deutschland ausgingen – hat sich die Weltgemeinschaft entschieden:

• Gegen Krieg und für internationale Zusammenarbeit.
• Gegen das Recht des Stärkeren und für die Stärke des Rechts.
Es war die Geburtsstunde der Vereinten Nationen.
Vor 30 Jahren – nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs – wurde diese Entscheidung mit der Charta von Paris untermauert. Die Konfrontation und die Teilung Europas sind zu Ende gegangen, heißt es darin. Ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ hat begonnen.
Heute, mitten in der Pandemie, steht unsere Generation vor der Wahl.
Vor der Wahl, allein voranzugehen, ohne Rücksicht zu nehmen, und dieses multilaterale Erbe in den Wind zu schlagen.
Oder aber, dieses Erbe zu erneuern – und zu zeigen, dass die richtige Antwort auch auf die Krisen unserer Zeit „mehr Solidarität“ lautet, „mehr Zusammenarbeit“ und „mehr Gerechtigkeit“.
Deutschland ist dazu bereit.
Gemeinsam mit Ihnen – als wahrhaft vereinte Nationen.

Vielen Dank – und bleiben Sie gesund!“

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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