Olaf Heischels Dissertation über Haftverschonung aus Gesundheitsgründen.
Von Dietmar Jochum, TP Berlin.
Dass ein von einem Gericht verurteilter Straftäter in der Regel die verhängte Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt antreten muss, weiß jedes Kind. Ausnahme: Die Freiheitsstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Dass eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung, bevor sie angetreten muss, unter Umständen aufgeschoben oder – wenn sie bereits (auch im direkten Anschluss an eine Untersuchungshaft) – unterbrochen werden kann oder sogar muss, ist dagegen meist nur den wenigsten bekannt.
Die Haftverschonung aus Gesundheitsgründen (zum Beispiel wegen Geisteskrankheit) ist eine Variante von Haftverschonungsmöglichkeiten. Sie ist im Paragraphen 455 der Strafprozessordnung (StPO) geregelt.
Der Berliner Rechtsanwalt Olaf Heischel hat diese Haftverschonung aus Gesundheitsgründen in ihren rechtlichen Grundlagen und in der Praxis in einer Dissertation eingehend untersucht.
Heischel macht darin deutlich, dass „Eingriffe in die Strafvollstreckung, wie Haftaufschübe und Haftunterbrechungen, (…) historisch betrachtet Kernfelder der Gnadengewalt des Souveräns (sind), die lange Zeit weder den Justiz- und Vollzugsorganen anvertraut noch Rechtsregeln unterworfen waren“. So habe es, zeigt der Verfasser auf, „harter Kämpfe“ bedurft, „dieses Mittel der Ausübung persönlicher Launen und der Politikgestaltung auf an Recht gebundene Institutionen zu übertragen und – wenigstens rudimentären – Regeln zu unterwerfen“. Zwar hatte bereits im Jahre 1752 Friedrich der Große großspurig verkündet: „Ich habe mich entschieden: In den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen und muss der Souverän schweigen“, aber er hatte sich, wie Heischel konstatiert, nicht immer daran gehalten.
Dass es auch heute noch einen „fortschwelenden Streit zwischen VerfechterInnen des Gnadenrechts und des Gesetzesrechts“ gibt, macht Heischel am Beispiel des ehemaligen RAF-Aktivisten Rößner deutlich, für dessen zwecks einer notwendigen Behandlung erforderliche Haftunterbrechung trotz der gesetzlichen Regelung des Paragraphen 455 StPO auf das Gnadenrecht zurückgegriffen wurde (werden musste?). Rößner, der in den siebziger Jahren aufgrund seiner Beteiligung an dem Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, erkrankte im achten Haftjahr psychisch, was auch psychosomatische Folgen nach sich zog. Mit Hungerstreiks, mit denen er auf seine gesundheitliche Situation aufmerksam machen wollte, soll er diesen Zustand darüber hinaus noch durch eigenes Verschulden verschlechtert haben.
Auf einen Antrag seiner Anwälte, die Haft für eine Therapie nach Paragraph 455 (Absatz 4) StPO zu unterbrechen, erfolgte keine Entscheidung. Im Gegensatz zu den ersten beiden Absätzen dieser Vorschrift, die einen Aufschub einer (noch nicht vollstreckten) Freiheitsstrafe bei „Verfall in Geisteskrankheit“ und „naher Lebensgefahr“ zwingend vorsieht, handelt es sich bei dem Absatz 4 des Paragraphen 455 StPO nur um eine Ermessensvorschrift, nach der die Vollstreckungsbehörde eine (bereits im Vollstreckungsstadium befindliche) Freiheitsstrafe bei „Verfall in Geisteskrankheit, naher Lebensgefahr“ oder sonstiger schwerer Erkrankung, die in einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann, lediglich unterbrechen kann, aber nicht muss, es sei denn, das Ermessen wäre sozusagen auf Null reduziert. Aber wann ist es das in einer Vollzugsanstalt schon – etwa wenn der Kopf unter dem Arm getragen wird?
Im Falle Rößner entschied schließlich das Bundesjustizministerium im Einvernehmen mit dem Bundespräsidenten, eine Haftunterbrechung zur Behandlung in einer öffentlichen Therapieeinrichtung zu ermöglichen. Nach Ansicht von Gutachtern wäre es ausgeschlossen gewesen, Rößners psychosomatische Leiden, die im Zusammenhang mit der Haft gestanden haben, in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt zu behandeln. Hätte nicht schon hier eine Ermessensreduktion auf Null vorgelegen und einem Gnadenakt zugunsten einer rechtlich zwingenden Lösung der Nachrang gegeben werden müssen?
Um überhaupt aus Gesundheitsgründen von der Haft verschont zu werden, wenn keine „überwiegenden Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit“ entgegenstehen, die eine Haftverschonung ausschlössen, müssen schon gravierende Gesundheitsprobleme vorliegen. Eine HIV-Infektion ohne Ausbruch der Krankheit rechtfertige einen Strafaufschub oder Unterbrechung regelmäßig nicht, schreibt Heischel, eine (aktuelle) Selbstmordgefahr reiche ebenfalls nicht aus.
Bei HIV/AIDS-Fällen komme es aber vor, so Heischel, „dass unzulässiger Weise aus fiskalischen Gründen statt der Vollzugslösung (z.B. Behandlung in einem Haftkrankenhaus) die Vollstreckungslösung (Unterbrechung der Haft) gewählt“ werde, „damit die Behandlungskosten nicht mehr von den Justizbehörden getragen werden müssen“. Dabei sei unter Umständen die Unterbringung in einem Vollzugs- oder allgemeinen Krankenhaus deshalb wesentlich günstiger, da sie auf die Strafzeit angerechnet würde, was bei einer Haftunterbrechung nicht der Fall sei.
Problematisch sieht Heischel bei einer Haftunterbrechung aus Gesundheitsgründen auch den nicht befriedigenden Zustand, „dass das Damoklesschwert einer möglichen (Weiter-) Vollstreckung womöglich trotz Weiterbestehens der Erkrankung, sicher auch an sich gesundheitsschädigend sein kann“. Dennoch erzwinge der Vollzug, so kritisiert Heischel, „des Öfteren jedoch auch Haftunterbrechungen gegen den Willen des Verurteilten, um die Staatskasse von den fiskalischen Folgen erheblicher Fürsorge- und Versorgungsanstrengungen und sich selbst vor dem organisatorischen Aufwand zu bewahren“.
Wie auch immer die Haftverschonung aus Gesundheitsgründen in heutiger Zeit geregelt ist oder angewandt wird, kranke Straftäter anders zu behandeln als Gesunde, hat eine lange Tradition, zeigt Heischel historisch auf.
Schon in den drei westlichen Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam) hat Heischel Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die Bestrafung Kranker anders zu handhaben sei, als die Gesunder. In früheren Kodifizierungen, etwa dem Landrecht III des Sachsenspiegels im 13. Jahrhundert, wurde die Unterscheidung zwischen der Behandlung kranker und gesunder Straftäter, wenn auch in zeitgemäß menschenverachtender Weise, immer konkreter formuliert: „Über richtige Toren und sinnlose Menschen soll man nicht richten“, heißt es dort. Heute hängt es – vom richtigen oder falschen Ermessensgebrauch der Vollzugs- und Vollstreckungsbehörden mal abgesehen – meist vom „richtigen Gutachter“ oder – wie sollte es anders sein – von der gesellschaftlichen Stellung ab, wer in welche Kategorie eingeordnet wird.
Olaf Heischel hat sich eingehend und regelrecht akribisch mit der Problematik der Haftverschonung aus Gesundheitsgründen auseinander gesetzt. Da er nicht nur der Rechtspraxis, sondern auch der gesetzlichen Grundlage kritisch gegenüber steht, macht er in der Dissertation eigene Gesetzesvorschläge, wie der Problematik der Haftverschonung aus Gesundheitsgründen noch effektiver begegnet werden könne. Diese Dissertation sollte daher auf keinen Fall auf den Tischen der Gesetzgeber fehlen.
Olaf Heischel: § 455 StPO – Die Haftverschonung aus Gesundheitsgründen in ihren rechtlichen Grundlagen und in der Praxis, Shaker Verlag, ISBN 3-8265-5627-5, 344 Seiten, 42.- Euro.