Unter Kinkels Satz läßt sich alles subsumieren.

TP-Interview mit Honecker-Verteidiger Dr. Friedrich Wolff.

TP: Herrn Dr. Wolff, der Prozeß gegen Ihren Mandanten Erich Honecker hat sich wegen seiner Erkrankung durch Einstellung erledigt, der Prozeß gegen Egon Krenz ist mit einem Urteil geendet: 6 1/2 Jahre. Finden Sie, daß das ein gerechtes Urteil ist?

Wolff: Nein, das finde ich nicht. An sich hätte er freigesprochen werden müssen, weil das, was er getan hat, nach dem Recht der DDR nicht strafbar ist. Und nach dem Recht der DDR soll er ja verurteilt werden. Man sagt auch, er würde nach dem Recht der DDR behandelt werden, aber das ist tatsächlich nicht der Fall. Insofern ist es ein ungerechtes Urteil.

TP: Geht manchmal Recht nicht ein bißchen zu weit, das sich ein Staat setzt?

Wolff: Sicher kann das manchmal zu weit gehen, aber in diesem Fall geht es, wenn man es mit dem Recht anderer Staaten vergleicht, nicht zu weit. Sehen Sie mal, wenn ein Staat, wie die USA, von seinen Bürgern verlangen kann, daß sie nach Vietnam gehen und sich dort erschießen lassen, dann geht das weiter. Aber kein Mensch zweifelt daran, daß die USA dieses Recht hat. Oder um von Rußland zu sprechen, daß auch die russischen Soldaten nach Afghanistan gehen und sich dort erschießen lassen zu müssen. Das läuft doch alles auf dasselbe hinaus. Es ist doch die Frage ganz allgemein zu stellen: was kann ein Staat von seinen Bürgern verlangen? Jetzt sagt man, ein Staat kann nicht verlangen, daß seine Bürger im Lande bleiben. Aber das ist nicht richtig. Das konnte bisher ein Staat verlangen. Und wenn ein Staat das nicht verlangen könnte, müßte jeder andere Staat bereit sein, diese Bürger aufzunehmen. Darüber gibt es gar keinen Streit, daß die anderen Staaten nicht verpflichtet sind, die Bürger, die aus dem einen Land rausgehen, auch aufzunehmen. Von den Türken verlangt man jetzt, daß sie die Kurden im Lande festhalten. Das ganze ist doch in sich unlogisch und heuchlerisch. Wenn ich jemanden in den Tod schicken kann, dann kann es auch nicht strafbar sein, wenn ich jemand sage: „Geh da nicht hin, sonst wirst Du eventuell erschossen, wenn Du nicht auf Anruf stehen bleibt.“

TP: Muß denn ein Staat seine Grenzen unbedingt mit Waffengewalt schützen. Gibt es da keine anderen Möglichkeiten, um zum gleichen Ergebnis zu kommen, nämlich daß man denjenigen, der raus will bzw. dem man habhaft werden will an der Grenze, anders bekommt als mit der Schußwaffe?

Wolff: Sicher kann es das geben, aber das kommt eben auf den einzelnen Fall drauf an. Die DDR hat sich bemüht, diesen Zustand zu erreichen, weil jeder Tote an der Grenze ein diplomatischer Mißerfolg für die DDR war. Sie geriet dadurch in Mißkredit im Ausland. Und die Statistik beweist, daß die Grenze im Laufe der Zeit so ausgebaut wurde, daß es immer weniger zu tödlichen Zwischenfällen gekommen ist. Also bemüht hat man sich. Nicht alles, worum man sich bemüht, erreicht man. Das geht den Rechtsanwälten besonders häufig so.

TP: Wenn man einem Zeugen im Politbüroprozeß Glauben schenken darf, dann hat man sich in der DDR nicht genug darum bemüht, andere Maßnahmen zu finden, um Flüchtlinge von einem Grenzübertritt abzuhalten.

Wolff: Ich kenne nun nicht alle Maßnahmen, um die man sich bemüht hat, aber das Bestreben ging jedenfalls dahin. Vielleicht hätte man mehr tun können, anderes tun können – will ich alles für möglich halten. Aber die Grenzsicherung, so wie sie war, war ohnehin mit einem sehr hohen Aufwand verbunden. Man muß hierbei die Länge der Grenze in Betracht ziehen. Man muß die Intensität der Leute in Betracht beziehen, die darauf hingewirkt haben, diese Grenze zu überwinden. Also ich glaube nicht, daß dieser Zeuge, ich kenne ihn nicht, Recht hat.

TP: Ich nenne den Namen, den Zeugen Bazyli.

Wolff: Ich habe das nicht im Gedächtnis und ich habe es vielleicht auch nicht gelesen, was der Zeuge Bazyli gesagt hat. Was dieser Zeuge sagt, deckt sich nicht mit meinem eigenen Eindruck.

TP: Nun ist ja bei dem Urteil hinsichtlich Egon Krenz das sogenannte Rückwirkungsverbot außer Kraft gesetzt worden. Sehen Sie hier eine weitere Gefahr für die weitere Entwicklung im Rechtsstaat?

Wolff: Diese ganze Art der juristischen Vergangenheitsbewältigung stellt den Rechtsstaat in Frage. Wir haben es tatsächlich mit einer politischen Strafverfolgung im großen Ausmaß zu tun. Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, früher genannt Abteilung Regierungskriminalität beim Kammergericht, ist eine politische Staatsanwaltschaft. Das gab es in der Bundesrepublik, ich glaube seit 1968, nicht mehr. Von 1951 bis 1968 gab es dagegen sehr intensive politische Strafverfolgungen, die ähnlich verliefen wie jetzt. Da gab es eine große Zahl von Ermittlungsverfahren und eine kleine Zahl von Anklagen und eine noch kleinere Zahl von Urteilen. So ist es jetzt – genauso. Die Zahlen der Ermittlungsverfahren gehen jetzt in die 50.000, glaube ich. Und die Zahl der Anklagen und Urteile ist dem gegenüber sehr gering, d.h. diese Ermittlungsverfahren haben natürlich für sich genommen schon einen Abschreckungserfolg und erreichen politische Ziele. Ob man sich dessen nun bewußt ist oder nicht bewußt ist, ist völlig nebensächlich. Mit den damaligen Strafverfahren ist es gelungen, die kommunistische Partei in Westdeutschland aus dem politischen Leben zu eliminieren.

TP: Sie haben eben den Begriff „politische Staatsanwaltschaft“ benutzt. Können Sie diesen Begriff bitte präzisieren?

Wolff: Das ist eine Staatsanwaltschaft, die sich mit Delikten beschäftigt, die politische Delikte sind. Und meiner Ansicht nach ist es ein politisches Delikt, wenn man einer Regierung vorwirft, sie habe falsche Maßnahmen, falsche politische Maßnahmen wie Grenzsicherung, Art der Grenzsicherung getroffen oder politische Urteile fällen lassen. Oder Richtern vorwirft, sie haben politische Urteile gefällt. Das ist doch alles Politik.

TP: „Politische Staatsanwaltschaft“ meinen Sie aber nicht in dem Sinne, daß sie irgendwie von der Politik installiert wurde?

Wolff: Naja, was heißt, von der Politik installiert? Letzten Endes wurde sie natürlich von der Politik installiert, denn die Installation wird durch den jeweiligen Justizminister des Landes bewirkt. Der bestimmt und das ist nun eben ein Politiker. Außerdem ist natürlich die ganze Entscheidung, so mit der Vergangenheit abzurechnen, wie das geschieht, eine politische Entscheidung. Das hat ja nicht die Justiz gemacht, sondern die Justiz hat den Ball zugespielt bekommen oder man hat ihr den Ball überlassen – wie immer man das sehen mag. Man hätte auch sagen können: „Nun sind wir ein Volk und nun wollen wir mal mit der Vergangenheit Schluß machen.“ Dazu hätte es gar keiner Gesetze bedurft. Wenn man sich also streng an das Rückwirkungsverbot gehalten hätte, dann würde dieses ganze Schauspiel, das jetzt vollzogen wird, nicht stattfinden.

TP: Sehen Sie eine Gefahr, daß das Rückwirkungsverbot auch hinsichtlich anderer Verfahren als Mauerschützenprozesse und vielleicht schwerer Rechtsbeugungsverfahren relativiert werden könnte – nachdem man einmal damit angefangen hat, daß es dann immer weiter geht?

Wolff: Also, diese Gefahr vermag ich derzeit nicht zu erkennen. Meines Erachtens ist diese Art von Justizpolitik, denn darum handelt es sich ja, eine Fortsetzung der Kommunistenverfolgung von 51 bis 68. Die Kommunistenverfolgung war eine Fortsetzung der Politik der Nationalsozialisten gegen die Kommunisten und die Politik der Nationalsozialisten gegen die Kommunisten war eine Fortsetzung der Politik der Gerichte der Weimarer Republik gegen links. Das ist eine ununterbrochene Kette. Das ist die Tradition, von der schon ein Schriftsteller gesprochen hat, daß sie nicht abgebrochen worden ist. Und insofern ist das natürlich eine Gefahr, daß sich daraus eine Rechtsentwicklung in Deutschland ergibt, weil sie auch ein völlig falsches Bild der Geschichte im deutschen Volk entstehen läßt. Es werden Wertungen getroffen über die DDR, die gleichzeitig auch Wertungen über Deutschland in der Weimarer Republik oder der Nazi-Zeit beinhalten. Und da sehe ich große Gefahren darin.

TP: Es wird ja immer wieder mal davon gesprochen, ein ganzes Volk soll kriminalisiert werden. Ist das nicht ein bißchen oder maßlos übertrieben?

Wolff: Also, die Kriminalisierung eines ganzen Volkes sehe ich nicht. Ich sehe die Kriminalisierung eines Systems. Das ist das Ziel. Man will den Versuch der Errichtung eines sozialistischen Staates kriminalisieren. Man will die damit verbundenen Enteignungen kriminalisieren. Alles, was auf diesem Gebiet geschehen ist, was zum Teil Fortsetzung auch der französischen Revolution in Deutschland ist, alles das wird Kriminalisiert, d.h. man versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Und dieser Versuch auf juristischem Gebiet ist natürlich wie immer der Versuch, ein Rad der Geschichte zurückzudrehen und es sich nicht vorwärts drehen zu lassen – ein schädlicher Versuch, ein Versuch, den das Volk büßen wird.

TP: Wie soll man jemandem gerecht werden, der vor etwa 50 Jahren sein Haus weggenommen bekommen hat oder in welcher Form auch immer enteignet worden ist?

Wolff: Da gibt es natürlich sehr unterschiedliche Fälle. Aber ich könnte mir denken, daß man diese Leute entschädigt, ohne daß man das Eigentum deswegen zurückgibt. Denn diese Leute haben sich ja in den 50 Jahren ja schon einmal damit abgefunden, daß sie enteignet worden sind. Das ist ja genauso wie mit den Leuten, die im 2. Weltkrieg ihr Haus verloren haben, weil es ausgebombt worden ist oder ihre nahen Angehörigen verloren haben. Wie soll man die entschädigen? Wie entschädigt man die Opfer Hitlers, die nicht alle im KZ gesessen haben, sondern die an der Front gefallen oder verkrüppelt sind?

TP: In einem Artikel des Neuen Deutschland vom 30./31.August haben Sie geschrieben, daß die Juristen heute nicht mehr das machen, was ihnen ihre Professoren mal beigebracht haben. Sind sie irgendwie schlecht erzogen oder machen sie was sie wollen?

Wolff: Die machen nicht was sie wollen, die machen was sie sollen. Das eine ist, was man in der Theorie, was man vom Professor lernt. Wenn ein Richter in der Praxis ein paar Mal gemerkt hat, daß sein Urteil, von dem er denkt, daß es richtig ist, vom übrigen Gericht, das denkt, daß es nicht richtig ist, aufgehoben wird, wird er also das nächste Mal gleich das machen, was er denkt, daß das übrige Gericht denkt, daß es richtig ist. Und nicht, was er selber denkt. Die Unabhängigkeit der Richter besteht dann darin, genau zu erkennen, was „ihre Vorgesetzten“ – obwohl sie natürlich im technischen Sinn nicht „Vorgesetzte“ sind – wollen. Und das geschieht in der Rechtsprechung.

TP: Besteht hier irgendwo die Gefahr, daß in diesem Staate die zweite Macht zur ersten wird?

Wolff: Also, das glaube ich eigentlich nicht. Die zweite Macht, wenn Sie damit die Rechtsprechung meinen, macht, was die Exekutive will oder was sie denkt, daß es die Exekutive will. Das ist natürlich nicht so primitiv, wie es in der DDR gewesen ist, daß Ulbricht zu irgend einem Richter sagt oder zum Justizminister: „Deine Richter müssen jetzt das und das machen.“ Aber man weiß schon, was man höheren Orts oder anderen Orts will. Und das setzt sich dann in der Rechtsprechung, angefangen vom Bundesgerichtshof bis nach unten zum Amtsgericht, durch.

TP: Aber wenn Sie doch das Rückwirkungsverbot nicht einhalten, dann tun Sie doch offensichtlich als „zweite Macht“ nicht mehr das, was die erste wollte?

Wolff: Ja, die erste wird es nicht zugeben, daß sie genau das in diesem Fall natürlich nur will. Aber das will sie. Die will das, was Herr Kinkel gesagt hat: die DDR zu delegitimieren. Darum geht es. Das war nicht sehr klug von ihm, das zu sagen, es wäre klüger gewesen, wenn er es nur gedacht und dann nachher gemacht hätte. Das will die erste Macht mehrheitlich. Leute wie Schäuble und andere haben das nicht so gewollt, die waren klüger, weil sie ja mit dieser Bevölkerung aus der DDR leben müssen. Und diese Bevölkerung der DDR haben sie nun weitgehend verprellt. So sind die nicht. Die wissen, was ihre DDR war und was sie nicht war. Die haben sie nicht himmelhoch jauchzend geliebt, aber sie haben sie auch nicht gehaßt. Und dieses richtige Bild der DDR, das soll eben zerstört werden. Die Leute lieben soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit. Die lieben überhaupt Gerechtigkeit. Und das erfahren sie jetzt nicht. Sie erfahren das Gegenteil. Sie können nicht mehr in Ruhe abends auf die Straße gehen, nicht mehr in Ruhe in ihre Kneipe gehen. Sie kriegen zwar jetzt ein größeres Angebot an Spirituosen und Kraftfahrzeugen usw., aber sie verlieren die Sicherheit auf vielen Gebieten. Auch auf dem des Rechts.

TP: Wird der Satz von Kinkel nicht irgendwo ein bißchen überbewertet?

Wolff: Nein, weil ich glaube, er trifft genau das, was sich abspielt. Und sicher hat das nur Kinkel – und nur einmal – gesagt, aber dieses eine Mal verdient wirklich hervorgehoben zu werden. Es ist wirklich der Satz, unter dem sich das alles subsumieren läßt.

TP: Ich habe das Gefühl, heute wird zu sehr darauf rumgeritten.

Wolff: Sicher, man wird alles mal satt. Auch das richtige, wenn das andauernd gesagt wird. Ich höre auch nicht gerne täglich „zwei mal zwei ist vier“.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: dr-wolff-und-partner.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*