TP-Interview mit Günter Schabowski.
Frage:
Herr Schabowski, wie beurteilen Sie die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg?
Schabowski:
Ich kann die Entscheidung des Gerichtshofes nicht beurteilen. Dazu fehlen mir völkerrechtliche Kenntnisse. Da ich andere als nur juristische Gründe für die Strafwürdigkeit oder Ahndung von Schuld in Ausübung politischer Macht sehe, war das Urteil für mich kein Anlaß zu besonderer Analyse oder Bewertung.
Frage:
Warum haben Sie von einer Beschwerde an den Gerichtshof abgesehen?
Schabowski:
Aus dem gerade angedeuteten Grund. Das Urteil der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit wollte ich nicht anfechten, weil ich zu einem eigenen Schluß gelangt war. Schuld der mich betreffenden Art kann und sollte nicht nur dem – vermutlich begrenzten – Instrumentarium des Rechts unterworfen sein. Deshalb hatte ich mich über Jahre vor dem Prozeßbeginn für eine breite öffentliche Auseinandersetzung über das gescheiterte DDR-Experiment und seine Träger ausgesprochen.
Frage:
Was aber die Justiz nicht davon abhielt, dennoch ihre Maßstäbe dann zu setzen.
Schabowski:
Ja, letztlich blieb die Abrechnung der Justiz überlassen. Der öffentliche Raum war damit auf den Gerichtssaal beschränkt.
Dennoch bleibt als wichtigstes die Warnung, daß politische Macht sich nicht und niemals auf „gute Ziele und Zwecke“ berufen kann, wenn Menschen dafür mit dem Leben bezahlen müssen oder Repressalien ausgesetzt sind. Mißachtet Macht diesen Maßstab, delegitimiert sie sich. Wer als Politiker an der Macht teil hat, sollte diese Warnung beherzigen. Er muß wissen, wann er sich schuldig und strafbar macht. Darin sehe ich den präventiven Sinn des Urteils. Die im wesentlichen auf das Juristische beschränkte „Aufarbeitung“ von SED- und DDR-Vergangenheit hat allerdings eine nachteilige Folgewirkung. SED-Nachgelassene, die sich zur PDS umgetauft haben, wähnen sich damit von der Pflicht entlastet, sich einer ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen. Die Verbrecher waren und bleiben die anderen. Das sei ja mit der Verurteilung amtlich festgestellt.
Wenn die Demokratie dieser Denkweise folgte, verkennt sie den Charakter einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei. Achtzig Prozent der PDS-Mitglieder hatten einst ein SED-Mitgliedsbuch. Natürlich gibt es unterschiedliche Verantwortungsgrade. Aber die Intensität ideologischer Verblendung ist für alle, auch für das rank and file der Partei gleich. Sie waren ja „monolithisch“ geprägte Verfechter der Parteilinie und verstanden sich auch so. Darüber ist die Auseinandersetzung unterblieben. Auch die papierenen Absetzbewegungen vom SED-Unrecht, die angesichts der Aussichten auf eine Senatsbeteiligung in Berlin von der PDS schnell feilgeboten wurden, ändern daran nichts. Sie sind nicht nur unzulänglich, was die Inhalte betrifft, sie sind auch so formuliert, als urteilten die Verfasser über eine andere Partei und nicht über eigene Haltungen – es sei denn, sie wären heimliche Widerstandskämpfer gewesen. Es wäre grotesk und für die Gesellschaft verfänglich und für die Demokratie unerträglich, wenn der PDS die Deutungshoheit über das dunkle Kapitel Geschichte, das mit „DDR“ überschrieben ist, überlassen bliebe.
Frage:
Ihre Antwort könnte auch dahingehend gedeutet werden, daß Sie sich gewissermaßen als Sündenbock der SED-Nachfolger empfinden.
Schabowski:
Die Deutung trifft nicht zu. Als Sündenbock kann sich nur jemand fühlen, der sich zu Unrecht beschuldigt sieht. Es geht im Gegenteil darum, daß die PDS ihre Mitverantwortung am Unrecht der DDR begreift. In ihren Papieren jüngeren Datums redet sie zwar davon. Aber mit einer erhabenen Unschulds-Semantik. Damit ich nicht wieder mißverstanden werde: Es liest sich so – und sie tut auch so -, als wäre sie ein Verein, der mit dieser Vergangenheit nichts zu schaffen hat, als spräche sie über einen dahingeschiedenen Sünder. Aber sie trägt ja diese Vergangenheit mit sich herum, sie ist ein Teil davon. Also, wenn schon Sündenbock, dann ist s i e eine störrische und unaufrichtige Variante solchen Hornviehs.
Frage:
Wenn die Beschwerden in Straßburg von Erfolg gekrönt worden wären, hätte das auch die Aufhebung Ihres Urteils bedeutet. Waren Sie Krenz insofern dankbar, daß er den Weg nach Straßburg beschritten hat.
Schabowski:
Auch ein anderes Ergebnis für die Antragsteller in Straßburg hätte meine Auffassung über den Sinn des in Berlin gefällten Urteils nicht beeinflussen können.
Frage:
Egon Krenz hat das Urteils des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg als eines bezeichnet, das nicht frei von politischen Erwägungen sei und die Hoffnung ausgedrückt, daß die Geschichte ein faireres Urteil sprechen wird. Wer soll diese Geschichte schreiben, wenn sich sogar die PDS schon von der Mauer in Berlin distanziert hat?
Schabowski:
Das ist das letzte, was mir heute Kopfschmerzen bereitet. Solange die Demokratie besteht, werden Historiker Geschichte realistisch zu werten oder zumindest zu realistischer Annäherung an Tatbestände und Prozesse der Geschichte in der Lage sein. Machen Sie übrigens nicht den Fehler und setzen Sie PDS-Äußerungen zur Mauer mit Geschichtsschreibung gleich. Kommunisten pflegen Geschichte nach jeweiliger Lage und Linie zuzuschneiden bzw. umzuschreiben. Also, Änderungen der derzeitigen Fassung sind abzuwarten.
Frage:
Gäbe es überhaupt in absehbarer oder unabsehbarer Zeit eine Gruppierung, die Egon Krenz historische Genugtuung widerfahren lassen könnte?
Schabowski:
Es geht meines Erachtens nicht um historische Genugtuung für Personen. Es geht um Lesarten der Geschichte, um Geschichtsauffassungen und Gesellschaftsmodelle. Nicht, daß ich Egon Krenz etwas schlechtes an den Hals wünschte. „Historische Genugtuung“ durch eine Gruppe gibt es ja schon. In PDS-Konventikeln ist Egon Krenz im Unterschied zu mir gewiß keine Unperson. Er muß allerdings hinnehmen, daß man sich nicht offen dazu bekennt. Das würde ja die Koalitionsfähigkeit der PDS beschädigen.
Falls aber „historische Genugtuung“ offiziell würde, dann hieße das, die DDR wäre – zumindest in einer Dimension – zurückgekehrt. Wer sollte das wollen?
Frage:
Zum Beispiel Sahra Wagenknecht. 1996 warb sie für die Junge Welt mit dem Hinweis: Für ein Abonnement der Jungen Welt meine schönste Bluse – 30 Prozent Baumwolle, 80 Prozent Marxismus. Auf eine Frage in einem Interview mit mir, wieviele Blusen sie gäbe, wenn es die alte DDR wieder geben würde, antwortete sie: Natürlich alle, die ich habe.
Schabowski:
Ohgott Sahra, Sie sollte nicht alle Blusen weggeben, damit sie sich in einer zurückgeholten DDR nicht erkältet. Sie stünde wegen systemimmanenter Versorgungslücken womöglich zu lange mit freiem Oberkörper da.
Frage:
Wieviele Hemden würde Günter Schabowski geben, wenn alles so bliebe, wie es ist?
Schabowski:
Von mir kein Hemd. Ich baue auf Kontinuität und sinnvolle Evolution der bestehenden Verhältnisse.
Frage:
Der zweite Politbüro-Prozeß gegen Prof. Häber und andere endete mit einem Freispruch. Wie haben Sie persönlich darauf reagiert?
Schabowski:
Ich habe mich für Herbert Häber gefreut. Er ist ja auf Veranlassung des KGB und durch intrigante und verleumderische Mitwirkung Mielkes von Honecker aus dem Verkehr gezogen worden – unter solchen Umständen, daß er fast zugrunde gegangen wäre. Der Freispruch war richtig und notwendig.
Frage:
Wäre ein Freispruch nicht ebenso richtig und notwendig bei Günter Schabowski, Günther Kleiber und Egon Krenz gewesen?
Schabowski:
Sie kennen doch meine Äußerungen zu meiner Verantwortung und zu dem Urteil. Ich habe keinen Anlaß, davon abzurücken. Da könnte ich mich ebensogut um Mitgliedschaft in der PDS bemühen.
Frage:
Wie empfanden Sie überhaupt die Durchführung eines weiteren Politbüro-Prozesses? Hätten Prof. Häber, Böhme und Lorenz, wenn es denn schon sein sollte, nicht bereits mit Ihnen, Kleiber und Krenz auf der Anklagebank sitzen müssen?
Schabowski:
Ich weiß nicht, warum es diesen besonderen Prozeß gegeben hat. Vermutlich hat man nach Kalender entschieden. Die drei sind nach mir Politbüromitglieder geworden.
Frage:
Wie haben Sie die Haft in Hakenfelde empfunden? Ist der Offene Vollzug der ständig von der Springer-Presse verpönte Hotel-Vollzug?
Schabowski:
Mehrmals habe ich gesagt: Die Haft war – wie jeder Freiheitsentzug – niederdrückend, aber nicht entwürdigend. Letzteres sagt etwas über die Vollzugsbeamten. Unter „Offener Vollzug“ wird häufig verstanden, daß sich die Häftlinge nur nächtens in der Haftanstalt einfinden. Richtig ist, wer Arbeit hat, kann ihr tagsüber nachgehen. Wer keine hatte, wie ich, verbleibt in der Anstalt bis auf eine bestimmte Zahl von monatlichen Freistunden.
Vielleicht sollte man noch anmerken, daß die Haftanstalt keine eigens für Politbüromitglieder angelegte war, sondern ein Vollzug entsprechend den bundesdeutschen Gegebenheiten für unterschiedliche Arten von Verurteilten ist. Ausnahmebedingungen hat es keine gegeben.
Frage:
Doch, Sie sind schneller als jeder andere begnadigt worden.
Schabowski:
Wollen Sie mir das ankreiden?
Frage:
Bewahre, ich sitze im Glashaus und schmeiße von daher schon nicht mit Steinen.
Schabowski:
Ich hatte darauf – wie jeder Häftling – keinen Einfluß. Es sei denn, meine Haltung…
Frage:
… daß Sie sich scharf von der SED-Vergangenheit distanziert haben …
Schabowski:
… hat Bürger veranlaßt, sich mit entsprechendem Vorschlag …
Frage:
… Sie zu begnadigen …
Schabowski:
… an das dafür zuständige Gremium …
Frage:
… den Berliner Senat …
Schabowski:
… zu wenden.
Frage:
Rot-roter Senat in Berlin – Regen oder Segen?
Schabowski:
Weder – noch. Auch Regen kann nützlich sein.
Frage:
Hätte ich demzufolge besser gefragt: Fluch oder Segen?
Schabowski:
Die PDS wird sich noch geraume Zeit – solange, wie sie sich in der Abschwungphase des roten Radikalismus wähnt – äußerst angepaßt und vorsichtig verhalten. Sie wird sich als Musterknabe der Demokratie empfehlen, der alle guten Züge von links bis konservativ in sich vereinigt. Im Antiamerikanismus, pardon in der Verurteilung des USA-Imperialismus, teilt sie sogar die Stimmlage mit den extremen Krakeelern von rechts. Der Fluch wird sich also zunächst nur dadurch bemerkbar machen, daß die Entzauberung, auf die manche setzen, ausbleiben wird. Die Verzauberung, die man der PDS mit der Vokabel „Entzauberung“ zugesteht, dürfte denen, die sich mit ihr ins Koalitionsbett legen wollen, noch manche Wählerstimme kosten. Erst wenn die Phase der demokratischen Verpuppung für die PDS nicht mehr angezeigt ist, wird sich Ihre Frage von selbst beantworten.
Frage:
Ihr Politbürokollege Werner Eberlein hat in seinem Buch „Geboren am 9. November“ die Empörung von Bürgern gegen eine Fahrpreiserhöhung von 5 Pfennigen beschrieben, worauf dann die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen wurde.
Wenn man das so liest, könnte man den Eindruck bekommen, daß die SED mehr Angst vor dem Volk hatte als umgekehrt?
Schabowski:
Ich kenne Eberleins Buch nicht. Ich könnte mir vorstellen, er hat die Sache mit der zurückgenommenen Fahrpreiserhöhung eher angeführt, um die Sensibilität der SED gegenüber Unmutsäußerungen des Volkes zu belegen. Oder gar als Schwank, wie feinfühlig Ulbricht mit solchem Unmut umging.
Angst mußte die SED sicher nicht haben mit ihrer Machtmaschinerie. Mißtrauen – oder „Wachsamkeit“, wie es beschönigend hieß – hegten wir immer gegen das Volk, gegen die Arbeiterklasse, weil sie anfällig waren für die „Manipulation des Klassenfeindes“, die über Radio und Fernsehen einwirkte.
Frage:
Erleben wir noch in diesem Leben den Eintritt Günter Schabowskis in die CDU?
Schabowski:
In diesem Leben?
Frage:
Ja, warum nicht?
Schabowski:
Wollen Sie damit andeuten, daß im „anderen Leben“ auch ein CDU-Eintritt möglich wäre? Weil die Christdemokraten da oben das Sagen haben?
Aber im Ernst, auf Ihre Suggestivfrage werden Sie von mir lediglich hören, daß ich mich keiner Partei in der Bundesrepublik, ob CDU, SPD oder FDP als Mitglied andienen würde.
Ich hielte das für eine Geschmacklosigkeit. Außerdem wäre ich nicht mehr imstande, eine spezielle Partei-Raison zu verinnerlichen. Nehmen wir nur das sich anbahnende Wahlkampfgetöse.
Frage:
Ich habe Ihnen keine Suggestivfrage gestellt, sondern meine Frage war von der Vorstellung geprägt, daß es – obwohl ich jedem Menschen mehrere wünsche – nur ein Leben gibt. Aber anders herum gefragt: Ist Ihnen die Aufnahme in die CDU schon einmal angetragen worden?
Schabowski:
Absurde Frage.
Frage:
Immerhin war sich die Berliner CDU nicht zu schade, Sie zu einem Gesprächskreis zu bitten, um die Befindlichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung in Erfahrung zu bringen – also eine Art Beraterfunktion wahrzunehmen. Warum hätte Ihnen die Berliner CDU also nicht auch eine Mitgliedschaft in ihren Reihen antragen sollen?
Schabowski:
Aus der Art zu schließen, wie Sie Ihre Frage eingeleitet haben, bewerten Sie meine Haltung anders als die CDU. Das müssen wir beide hinnehmen. Ich will mir die rhetorische Gegenfrage verkneifen, wie weit sich Ihrer Meinung nach die SPD in Berlin nicht zu schade war, mit den SED-Nachfolgern gar zu koalieren. Aber lassen wir das.
Soweit Ihr „Warum“ die CDU betrifft, müssen Sie die fragen. Soweit es mich betrifft, habe ich Ihnen meine Antwort schon gegeben.
Frage:
Wie wird Günter Schabowski die nächsten zehn Jahre gestalten?
Schabowski:
Die Zeit der Fünfjahrpläne ist doch unwiderruflich vorbei. Einen persönlichen oder privaten 10-Jahresplan gibt es nicht. Wenn wir zehn Jahre überleben, sind wir, meine Frau und ich, erst einmal zufrieden.
Interview: Dietmar Jochum, März 2002