Die Knastweltreise des Belgiers Jan De Cock offenbart erstaunliche und erschreckende Gefängniseindrücke.
Von Dietmar Jochum, TP Berlin
Eigentlich wollte Jan De Cock nach Abschluß eines Hilfprojekts für Leim schnüffelnde Straßenkinder in Chile in sein Heimatland Belgien zurückkehren. Weil sich der Entwicklungshelfer in den vorangegangenen Jahren aber mehr und mehr für Strafgefangene eingesetzt hatte, wollte er auch wissen, wie es ist, eine Nacht auf der anderen Seite der Gitter zu verbringen: die Angst, die Kälte, die Pritschen zu spüren.
Als er den entsprechenden Wunsch an den Gefängnisdirektor von Talca herantrug, machte der ihm klar, daß er Unschuldige nicht einsperren könne. Es ließe sich aber vielleicht etwas regeln, so der Direktor, wenn De Cock eine Straftat – „und sei es nur eine kleine, eine winzig kleine“ – begehen würde. Die Aussicht, für ein gestohlenes Huhn das Minimum von fünf Jahren zu bekommen, machte das Vorhaben schnell zunichte. Aber der Gedanke, die Welt hinter Gittern kennenzulernen, ließ De Cock seitdem nicht mehr los.
Nach Belgien zurückgekehrt – mehr oder weniger eine Zwischenstation –, kontaktierte er – um der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden – gleich mehr als hundert Konsulate und Botschaften, aber auch Hilfsorganisationen, die im Strafvollzug tätig sind, um seine Absicht in die Tat umzusetzen. Aufgrund der Reaktionen und Zusagen, die er erhielt, wurde es dann eine Reise in Knäste auf allen fünf Kontinenten. In seinem (Tage) Buch „Hotel hinter Gittern“ hat er seine außergewöhnlichen Erlebnisse niedergeschrieben.
Der Direktor des Zentralgefängnisses in Ruanda, das im Volksmund „Neunzehnhundertunddreißig“ heißt, habe ihn liebenswürdig empfangen. Das Gefängnis wurde 1930, daher der Name, für 2500 Häftlinge in Betrieb genommen. Zwischenzeitlich seien es knapp 6400! Viertausend davon sitzen nach Schätzung des Direktor unschuldig ein. Wer freigesprochen wird, habe dann allerdings schon acht Jahre hinter Gittern verbracht.
Aufgrund des Personalmangels wurde den Gefangenen ein gewisses Maß an Selbstverwaltung eingeräumt. Die Schlafräume, schreibt De Cock, sind der reinste Taubenschlag. Wie riesige Schränke türmen sich die Nischen bis zum Wellblechdach hinauf. Die Häftlinge schieben sich wie Mappen in einen Aktenschrank auf ihre Matratzen oder unter ihre Decken. 40 Zentimeter pro Person! Aber mehr als die Hälfte schlafe auf dem Boden, draußen in den Gassen, ja sogar auf den Latrinen. Auf diesen hätte De Cock sich fast übergeben: „Die Latrine ist ein sieben Meter langer Pumpkasten. Auf den anderen Seiten sitzt man zu zehnt über den Löchern. Der Raum ist offen, in aller Ruhe scheißen ist hier nicht drin.“ Nachts darf er sich neben dem Saalältesten einquartieren, der das Recht auf einen Doppelplatz hat. Er fühlt sich gleich zu Hause unter den Gefangenen. Es sind jedoch keine Annäherungsversuche seines Quartierpartners, die ihn nachts aufschrecken lassen, sondern Ratten. Angespannt wie eine aufgezogene Feder habe er kein Auge mehr zugemacht: „Im Rhythmus des Atems, den mir mein Nachbar in den Nacken bläst, murmle ich Stoßgebete in die Dunkelheit.“ Als er seinen Mitgefangenen am nächsten Tag erzählt, daß in belgischen und anderen Gefängnissen Intimkontakte möglich sind, es Duschen, bequeme Sessel, Verhütungsmittel und Erfrischungen gäbe, schlugen die sich auf die Schenkel und hielten das für den besten Witz der Welt. „Aber das ist kein Knast!“, brüllten sie. „Das ist ein Fünf-Sterne-Hotel.“
In Simbabwe wird De Cock mit sechzig Gefangenen in eine Zelle, die für fünfundzwanzig geplant ist, untergebracht. „Kranke, Gesunde, was macht es.“ Es sind noch zwei Weiße dabei, aber De Cock hat nicht das Bedürfnis, mit ihnen eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden. Jeden Rempler, jeden Rippenstoß interpretiert er „noch immer als süße Rache für das Verhalten der weißen Farmer in diesem Land in all den Jahren“. Doch die Geschichte von dem Weißen, der letzte Woche in einem der Gefängnisse ermordet wurde, hätte er lieber nicht gehört.
Auch in Simbabwe gibt es keine Kloschüssel, sondern einen Eimer, der gegen Morgen überlaufen wird. „Die Nacht fängt um vier Uhr nachmittags an. Bis sechs Uhr früh sind wir hier eingesperrt. Schrecklicher Shitkübel, zumal einige Durchfall haben.“ „Typhus“, entschuldigt sich einer der Häftlinge, als er sieht, daß De Cock bedenklich nach dem Mann auf dem Eimer guckt.
Von Südafrika, wo ihn ein Wärter beschwört, „zu Hause nur die Wahrheit (zu sagen), daß die Häftlinge hier in Watte gepackt werden“, die Verlierer jedoch die Wärter seien, nach Lesotho, wo die Häftlinge in einem Tischlerprojekt en gros Särge zimmern („des einen Tod, des andern Brot“), von Madagaskar, wo die Gefängnisleitung die Ladung gespendeter Bettwäsche aus Kanada verbrannte, weil Häftlinge sie zur Flucht genutzt hatten, nach Namibia, Ghana, Obervolta, Benin, landet De Cock schließlich in Rußland. Seine Knastreise führt ihn weiter ins Baltikum, nach Slowenien, Rumänien, in die Türkei, nach Dubai; schließlich nach Pakistan, wo ein Häftling,der zu zwei Jahren verurteilt wurde, schon vier sitzt, weil er den Rückflug in sein Heimatland Nigeria nicht bezahlen kann. In Indien müssen 12000 Häftlinge in Gebäudekomplexen hausen, die für 3700 konzipiert sind. Aber immerhin nehmen mehr als 800 Häftlinge an einem Postgraduiertenstudium teil, und es gibt einen vollständig ausgerüsteten Computerraum. Sogar ein Journalistikstudium werde angeboten. In Thailand wünscht De Cock – Humor ist ihm gar nicht fremd –, daß König Bhumipol Aduljudej „doch schon morgen zwölf Jahre älter“ wäre, nachdem ein Gefangener ihm erzählte, daß er am Geburtstag des Königs einen Straferlaß erhalten habe. In Kambodscha ist das Wasser knapp: „Es reicht gerade, um sich alle zwei Tage unter den Achseln und hinter den Ohren zu waschen. Aber dafür sind ja die Wärter frisch gewaschen.“
Die geheimnisvolle Welt japanischer Strafanstalten, schreibt Ja De Cock, beruht auf einem Gesetz aus dem Jahre 1908 und werde von einer obsessiven Bürokratie beherrscht. Die Resultate seien erstaunlich. Von Gangs und Aufständen könne keine Rede sein. In Japan bezwecke die Gefängnisphilosophie nicht nur die Zähmung des Körpers, sondern auch die des Geistes. Schweigen hält man für ein wirkungsvolleres Zwangsmittel als Handschellen. Im Eßraum ist das Sprechen verboten. Erlaubt ist es nur eine Stunde nach dem Abendessen und während der Messe, Ganz im Sinne der Vergeltung, gäbe es auch keine Zentralheizung. Ein Pastor erzählt De Cock, daß die Aufseher menschlich sein könnten, das System es jedoch verhindere. Wenn ihm ein Häftling begegne, müsse der sofort seinen Blick abwenden. Wer nach links oder rechts schaue, kann bestraft werden. Er muß mit einem Arm vor der Brust, den anderen auf dem Rücken stundenlang die Wand anstarren. Es gäbe Piktogramme, in welcher Haltung die Häftlinge zu schlafen oder wie sie sich hinzuhocken haben, wenn sie vor der Dusche warten. Die Haftanstalten seien voll von Yakuza, Gangstern. Einmal Yakuza, immer Yakuza. Die Organisation habe die gesamte Geschäftswelt unterwandert. Yakuza säßen bei Sony, bei Sharp und so weiter.
In Australien erfährt De Cock, daß in einer Gefängniswerkstatt die Produktion von Bibeln zurückgeschraubt werden mußte. Grund: „Mit dem dünnen Papier wurden zu viele Zigaretten gedreht.“
Die Insassinnen eines Frauenknastes in Neuseeland sind stolz darauf, die Kostüme für den Film „Herr der Ringe“ geschneidert zu haben. Stolz zeigt auch eine Gefangene De Cock ihren Computer, den sie für das Schreiben eines Buches genehmigt bekam. In Deutschland werden für solche Zwecke Computer als Sicherheitsrisiko eingestuft. Die Richter sind sich für keine Rabulistik zu schade.
Auf dem Gefängnishof eines Gefängnisses in El Salvador hat ein Gefangener einen Laden aufgemacht. Der Handel reicht von Keksen bis Käse, von Waschpulver bis Wäscheklammern. Stolz erzählt er De Cock von seiner Schwiegermutter, die ihm ihren Segen gab, als sie merkte, daß er einen Umsatz von einigen tausend Colón gemacht habe.
Bereits in Guatemala wird De Cock in einem Gefängnis unfreiwilliger Zeuge, wie ein Mann namens Calderón aufgrund „ziemlich vieler unbezahlter Rechnungen“ die „Sprache“ seiner Mithäftlinge zu spüren bekommt. „Dann packen zwei seine Beine, zwei seine Arme, nehmen dreimal Schwung und schleudern ihn gegen den Elektrozaun. Funken stieben, ein dumpfer Schrei… Er ist auf der Stelle tot.“ In Guatemala, erfährt De Cock, werden die Leute in zwei Särgen begraben, einer für die Zunge, der andere für den Rest.
Seine freiwillige Haft in Bolivien verbrachte De Cock unter Auftragskillern und Drogenbaronen. Ein Killer erzählte ihm, daß er einen Mann vergiftet habe. Es habe keine Untersuchung gegeben. Seine Familie glaube heute noch, daß er an einem Herzanfall gestorben sei. Der Auftragskiller plaudert munter vom Hocker: „Als Auftragsmörder machst du drei Monate deinen Job und hast dann drei Monate frei. Gerade aus diesem Grund. Um abzuschalten. Mann sollte es auch tunlichst vermeiden, Buch zu führen, wenn mann nicht durchdrehen will. Mit fünfzig legt man eine Pause von vier Jahren ein. Mit sechzig ist Schluß.“
Der Drogenbaron Amado Pacheco, alias Barbas Chocos war einer der weltweit größten und berüchtigsten Drogenhändler. Als er seine Boeing 747 mit vier Tonnen Kokain besteigen wollte, wurde er verhaftet. Er wurde zu vierundzwanzig Jahren verurteilt. Für seine Zelle habe er 10000 Dollar hingeblättert. Außerdem sei er Herr über alle Häftlinge und verdiene sich mit dem Vermieten von Zellen eine goldene Nase. Die meisten können sich eine Zelle nicht leisten. Deshalb habe ein Padre eine Reihe von Zellen für die armen Schlucker aufgekauft, erfährt De Cock.
Auch San Quentin wird von De Cock nicht verschont. Dort besuchte er einen zum Tode verurteilten Schriftsteller.
Seine Knastreise um die Welt ist für De Cock „wie ein Kind, das ich nie hatte“. Sie sei „wie ein Poncho, ein Patchwork aus vielen bunten Stoffen“.
De Cocks Knastbeschreibungen sind ein beeindruckendes Zeugnis des Elends, brutaler Zustände, der Ungerechtigkeit, aber auch einer Vielfalt von Gefängnissystemen in dieser Welt. Wer ihm vorwerfe, daß er die Schuldfrage verharmlosen würde, schreibt De Cock, dem sage er dann „zum hundertundsiebzigsten Mal“, daß er nicht blind für das Böse sei und es auch beim Namen nennen würde. Er werde immer für eine Rechtsprechung plädieren und sich dafür einsetzen, daß Opfer beschützt und entschädigt werden. Aber es sei weder seine Aufgabe, ein Urteil zu sprechen noch sich nach diesem zu richten. Mit der Strafe, mit dem Freiheitsentzug büßten die Täter für das, was sie angerichtet haben. Da sollten nicht noch seine Angst und seine Verurteilung hinzukommen. „Unter Häftlingen“, schreibt der Albert Schweitzer der Knäste, „bin ich zu Hause.“
Und er gibt zu verstehen: „Zeig mir deine Gefängnisse, und ich sage dir, wie demokratisch dein Land ist.“ In diesem Sinne: Herzlich willkommen in den Gefängnissen in der Bundesrepublik Deutschland, Jan De Cock!
Jan De Cock: Hotel hinter Gittern. Von Knast zu Knast. Tagebuch einer außergewöhnlichen Weltreise. Kunth-Verlag, München 2005, 393 Seiten, 12,90 Euro.