Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts und die Politbüro-Prozesse.

Mit dem Urteil gegen Böhme und Lorenz enden die Prozesse gegen SED-Funktionäre.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin

Mit den Verurteilungen der Ex-Politbüromitglieder Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz am 6. August und Herbert Häber am 11. Mai sind die Prozesse gegen ehemalige DDR-Funktionäre wegen der ihnen zugeschriebenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit hinsichtlich der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze abgeschlossen. Die mit dem Honecker-Prozeß im Jahre 1992 begonnenen Verfahren endeten alle mit Schuldsprüchen und – von Häber abgesehen – mit mehrjährigen – wenn auch teilweise zur Bewährung ausgesetzten – Haftstrafen. Das Verfahren des im Honecker-Prozeß mitangeklagten ehemaligen Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke (er wurde wegen eines im Jahre 1931 begangenen Polizistenmordes in einem separaten Verfahren verurteilt), wurde abgetrennt und später eingestellt, Honecker selbst schied trotz seiner schweren Krebserkrankung erst im Januar 1993 aus dem Verfahren endgültig aus.
Die im Prozeß verbliebenen ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (NVR), Ex-Verteidigungsminister Heinz Keßler, sein Stellvertreter Fritz Streletz sowie der Ex-SED-Bezirkssekretär von Suhl, Hans Albrecht, wurden verurteilt. Sie legten Revision und nach deren Verwerfung Verfassungsbeschwerde ein.
Solange das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) noch nicht über die Verfassungsbeschwerden dieser 1993 vom Landgericht Berlin verurteilten Ex-NVR-Mitglieder entschieden hatte, durften sich die nach ihnen vor Gericht sich zu verantwortenden Ex-Politbüromitglieder Günther Kleiber, Egon Krenz und Günter Schabowski noch eine berechtigte Hoffnung machen, einem ebensolchen Urteil zu entgehen.
Zwar hatte der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Leipzig das Urteil gegen die drei Ex-NVR-Mitglieder am 26. Juli 1994 bestätigt, das Bundesverfassungsgericht ordnete im Wege einer einstweiligen Anordnung am 14. Oktober 1994 jedoch an, daß bis zur Entscheidung über die von den Angeklagten eingelegten Verfassungsbeschwerden die Vollstreckung des Urteils des Landgerichts Berlin vom 16.09.1993 nicht eingeleitet werden darf. Es erklärte gleichzeitig die erhobenen Verfassungsbeschwerden von Keßler und Co. „weder von vornherein unzulässig, noch offensichtlich unbegründet“ und machte deutlich, daß es in der straf- und staatsrechtlichen Literatur umstritten und auch durch die bisherige Rechtsprechung des BverfG letztlich nicht geklärt ist, ob die Beschwerdeführer – und andere Mitglieder der politischen Führung der DDR – u.a. für die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, oder ob dem Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes – also das Rückwirkungsverbot – entgegensteht.
Hoffnung also für Krenz und Co., daß das laufende Verfahren gegen sie im Falle einer positiven Entscheidung des BVerfG in Sachen Keßler und Co. eingestellt wird. Hoffnung auch für Häber und Co., daß die gegen sie erhobene Anklage erst gar nicht zu einer Hauptverhandlung zugelassen wird. Und last but not least auch Hoffnung für die vielen Grenzsoldaten, die schon vor Honecker und Co. auf der Anklagebank saßen und auch später darauf Platz nehmen mußten.
Krenz-Verteidiger Dr. Dieter Wissgott war von einer positiven Entscheidung des BverfG überzeugt: „Ich glaube daran, weil der Sachzwang der Entscheidung eine andere Erwartung für einen Juristen gar nicht aufkommen läßt“, erklärte er stolz in einem Interview gegenüber dem Verfasser.
Dazu hatte er auch allen Grund. Da hatte sich zum einen die damalige Präsidentin des Zweiten Senats des BverfG, Jutta Limbach, aufgrund umstrittener Äußerungen über die strafrechtliche Aufarbeitung des sogenannten DDR-Unrechts in ihrer vormaligen Funktion als Berliner Justizsenatorin selbst als befangen erklärt, und zum anderen wurde Hans Georg Bräutigam, sowohl Vorsitzender Richter im Honecker- bzw. NVR-Prozeß gegen Honecker u. a. als auch im ersten Politbüro-Prozeß gegen Krenz u. a., wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem jeweiligen Verfahren hinauskatapultiert. Im Honecker-Verfahren stolperte er über einen von ihm selbst an die Anwälte Honeckers herangetragenen Wunsch eines Schöffen nach einem Autogramm des ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretärs, im Krenz-Prozeß über einen Vortrag, in dem er die DDR mit der Nazi-Diktatur gleichgesetzt hatte. Warum also sollte das Bundesverfassungsgericht ein Verfahren für verfassungsgemäß erklären, in dem es von Formwidrigkeiten u. a. nur so wimmelte?
Aber nicht nur solche Formalkuriositäten dürften eine berechtigte Erwartung nach einem für Keßler und Co. zum einen und Krenz und Co. zum anderen sich positiv auswirkenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts genährt haben.
Da war insbesondere das „strikte Rückwirkungsverbot“ des Grundgesetzes, das garantiert, daß jemand nur für solche Handlungen und Unterlassungen belangt werden darf, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung als solche definiert und entsprechend mit Strafe bedroht waren. Und das waren die Schüsse an Mauer und Stacheldraht nach Ansicht vieler (auch westdeutscher) Rechtsexperten eben nicht, weil sie durch das Recht der DDR, insbesondere das Grenzgesetz, gedeckt gewesen wären. Auch käme eine Verurteilung nach höherrangigem Recht nicht in Betracht, weil die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1952 gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention relativierte Rückwirkungsverbot, wonach sich niemand auf Handlungen und Unterlassungen berufen darf, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren, ausdrücklich einen Vorbehalt erklärt hatte, der bis heute gültig ist. Die Bundesrepublik hatte vor über fünfzig Jahren erklärt, den Art. 7 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention nur in den Grenzen des Art. 7 Abs. 2 des Grundgesetzes anzuwenden, also das Rückwirkungsverbot dieses Grundgesetzes unbedingt zu beachten. Gründe genug anzunehmen, daß das Bundesverfassungsgericht zu einem juristischen – für die bereits verurteilten, aktuell angeklagten und noch anzuklagenden DDR-Funktionäre und Grenzsoldaten sich positiv auswirkenden – Schlußstrich sich veranlaßt sehen könnte.

Dann der Schock: Am 24. Oktober 1996, es war der 53. Verhandlungstag im Prozeß gegen Krenz u. a., beschloß der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, daß das „strikte Rückwirkungsverbot“ zwar seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage finde, „welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen Gesetzgeber getragen werden“, es jedoch an einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehle, „wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchen Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet“. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes müsse dann zurücktreten.
Mit anderen Worten: In der DDR habe man sich die Gesetze selbst gemacht, wie man sie für menschenrechtswidrige Zwecke gebraucht hat, hat andere dazu angestiftet sie anzuwenden, z.B. die Grenzsoldaten, und dafür darf man sich auf das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes in keiner Weise berufen.
Das war natürlich für viele Rechtsexperten starker Tobak. Insbesondere, daß das BverfG auch ein Urteil gegen einen Grenzsoldaten abgesegnet hat, fand der damalige FU-Professor Uwe Wesel „in hohem Maße ungerecht“. Darauf sei „das Bundesverfassungsgericht auch nicht eingegangen“. Da das BverfG seinen Beschluß auch mit der sogenannten Radbruchschen Formel (im Extremfall habe gesetzliches Unrecht der Gerechtigkeit zu weichen) begründet hat, erinnerte Wesel daran, daß Gustav Radbruch, zweimaliger Justizminister in der Weimarer Zeit, seine naturrechtliche Formel unter dem Eindruck der Nazidiktatur entwickelt hat. 14 Jahre vorher habe er, so Wesel über Radbruch, noch genau das Gegenteil gesagt.
„Wenn einer unserer bedeutendsten Rechtslehrer 14 Jahre braucht, dann können wir nicht von einfachen Grenzsoldaten verlangen, daß sie das Unrecht erkennen, was sie da begehen“, unterstrich Wesel in einem Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland sein Unverständnis über den auch einen Grenzsoldaten betreffenden Verfassungsgerichtsbeschluß vom 24.10.1996.
Auf Krenz und Co., die nun auch mit Verurteilung und Bestrafung zu rechnen hatten, wirkte sich der BVerfG-Beschluß zunächst insoweit aus, daß am 14. November 1996, dem 59. Verhandlungstag im ersten Politbüro-Prozeß, Haftbefehle gegen sie erlassen wurden. Die wurden zwar umgehend unter Auflagen (Abgabe von Reisepaß und Personalausweis sowie wöchentliches Melden bei der Polizei) wieder ausgesetzt, von der Staatsanwaltschaft jedoch Beschwerde gegen diese Haftverschonung einlegt. Der Staatsanwalt hatte bereits zwei Tage zuvor die erfolgreiche Inhaftierung des Ex-Chefs der Grenztruppen, Klaus-Dieter Baumgarten, bewirkt (er war im September 1996 zu sechseinhalb Jahren Haft wegen der Grenztoten verurteilt worden), und erhoffte sich auch im Falle von Krenz und Co., daß die ihm vorschwebende Gerechtigkeit vorerst ihre unbedingte Erfüllung in der Inhaftierung der Politbüromitglieder findet. Baumgarten blieb zwar trotz Rechtsmittel gegen Urteil und Haftbefehl in Haft, bei Kleiber, Krenz und Schabowski, später auch bei Böhme, Häber und Lorenz ließen sowohl die jeweils zuständigen Strafkammern des Landgerichts als auch das Kammergericht „Gnade“ walten. Sie blieben trotz staatsanwaltschaftlicher Beschwerden von der U-Haft verschont.

Am 25. August 1997 verurteilte die 27. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin dann Krenz und Co. wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft. Kleiber und Schabowski erhielten Haftstrafen von jeweils 3 Jahren, Krenz von 6 Jahren und 6 Monaten. Den gegen ihn bestehenden Haftverschonungsbeschluß hob die Kammer kurzerhand auf und setzte den „Haftbefehl in Vollzug“. Krenz wurde noch im Gerichtssaal festgenommen und durch den Gerichtskeller in die JVA Moabit verbracht.
In einem Interview mit dem Verfasser wetterte der Ex-DDR-Bürgerrechtler und Theologe Friedrich Schorlemmer gegen die Verhaftung von Egon Krenz: „Also so etwas Affiges, ihn im Gerichtssaal zu verhaften. Wo wollte der hin, wo sollte er hinfliehen? Also ich fand das affig, das war eine Szene, die der Bild-Zeitung gut tut“.
Die gegen Kleiber und Schabowski bestehenden Haftbefehle und Haftverschonungsbeschlüsse wurden dagegen gänzlich aufgehoben, so daß sie sich bis zur Entscheidung über ihre Revisionen wieder ohne Auflagen frei bewegen konnten.
Am 11. September 1997 wurde dann auch Krenz wieder von der Haft verschont. In einem darauf folgenden Interview mit dem „Spiegel“, dazu befragt, ob er sich seiner Strafe „durch Republikflucht entziehen“ wolle, antwortete er – sich einer lebenslänglichen Bleibepflicht offenbar bewußt: „Egon Krenz bleibt in Deutschland und zwar so lange, bis der letzte Bürger der DDR nicht mehr gerichtlich verfolgt wird.“
Im Januar 2000 mußte er seine Haftstrafe, der er sich konsequent nicht entzogen hatte, im offenen Vollzug dann antreten. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof seine Revision und das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde verworfen. Kleiber und Schabowski, deren Rechtsmittel ebenfalls kein Erfolg beschieden wurde, waren einige Tage später bzw. einen Monat zuvor in den Knast nach Hakenfelde eingerückt. Während sie schon zum folgenden Jahrestag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vom damaligen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen begnadigt wurden, blieb Krenz weiter – wenn auch als Freigänger – in Plötzensee inhaftiert, wohin er schon bald nach seinem Haftantritt in Hakenfelde verlegt worden war. Da auch seine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg im März 2001 zurückgewiesen wurde, ließ ihn die Justiz zwar noch bis Dezember 2003 trotz zahlreicher Gnadengesuche weiter in Haft, setzte die Reststrafe dann aber aus Rechtsgründen doch zur Bewährung aus.
Böhme, Häber und Lorenz, wegen Totschlag durch Unterlassen im Jahre 1996 angeklagt, wurden zunächst im Juli 2000 von allen Anklagevorwürfen freigesprochen. Aber auch sie entgingen – wie das der Richter im damaligen Prozeß im Jahre 2000 ausdrückte – „dem viel schlaueren Bundesgerichtshof“ nicht und mußten sich im Wiederholungsverfahren erneut vor Gericht verantworten.
Immerhin müssen sie nicht wie Kleiber, Krenz und Schabowski, aber auch Keßler, Streletz und Baumgarten, oder auch einige Grenzoffiziere und Grenzsoldaten Haftstrafen antreten. Bei Häber, der im Mai diesen Jahres zwar mit einem schärferen Schuldspruch als der Rest seiner Kollegen und „Untergebenen“ belegt worden war, wurde auf Strafe ganz verzichtet. Und Böhme und Lorenz, für die die Staatsanwaltschaft im Jahre 2000 noch Haftstrafen in Höhe von zwei Jahren und neun Monaten gefordert hatte, gab es nun Bewährungsstrafen. Nun auch als solche von der Staatsanwaltschaft gefordert. Der BGH hatte in seinem Urteil, mit dem er die Freisprüche vom Juli 2000 aufhob, auch deutlich darauf hingewiesen, daß bei der Strafzumessung in einem erneuten Verfahren die lange Verfahrensdauer zu berücksichtigen sei. Ob nun der letzte DDR-Bürger vor einem Gericht im vereinigten Deutschland zur Verantwortung gezogen wurde, steht dahin. Jedenfalls hoffen einige Anhänger von Egon Krenz, daß wenigstens bis zum Jahre 2006 alle Verfahren abgeschlossen sind. Vor allem deswegen, damit der letzte SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende der DDR im Falle eines Wahlsieges der CDU und einer Kanzlerin Angela Merkel von einer eventuell lebenslänglichen Bleibepflicht in Deutschland doch noch loskommt und gegebenenfalls ohne Gesichtsverlust das Weite suchen kann.

Dietmar Jochum

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