„Jetzt hast Du völlig den Verstand verloren“.

TP-Interview mit dem Ex-Politbüro-Mitglied Prof. Herbert Häber.

Frage:

Herr Prof. Häber, am 2. Verhandlungstag erwähnten Sie in einer Persönlichen Erklärung, daß Sie im Politbüro auf Verhältnisse stießen, die Sie erschreckten. Können Sie dazu ein bißchen mehr sagen, als das bisher – Sie erwähnten Zeitgründe in Ihrer Erklärung – der Fall war?

Prof. Häber:

Da wäre manches zu nennen, was mir vorher trotz meiner langjährigen Tätigkeit im ZK-Apparat (Zentralkomitee der SED, Anm. D.J.) nicht aufgefallen war. Ich stieß auf ein Klima der Rivalität und – grob gesprochen – des Duckmäusertums. Zwischen Egon Krenz und Günter Mittag war ein scharfer, ja sogar feindseliger Konkurrenzkampf im Gange. Jeder wollte Honeckers Kronprinz sein. Als ich vom SED-Generalsekretär am 24. Mai 1984 für alle überraschend ins SED-Politbüro gehievt wurde, dachten die beiden offenbar, damit könnte ein dritter Kandidat für die Nachfolge in Rennen geschickt worden sein, und sie versuchten, mich schnell einzugrenzen. Für die älteren Herren in diesem Gremium, wie Erich Mückenberger…

Frage:

… Angeklagter im ersten Politbüro-Prozeß und dort wegen Krankheit ausgeschieden …

Prof. Häber:

… oder Alfred Neumann …

Frage:

… auch mal Poltergeist im Politbüro genannt …

Prof. Häber:

… war ich ein Emporkömmling. Es gefiel ihnen gar nicht, daß ich mir nicht wie sie von einem persönlichen Referenten erst aufschreiben lassen mußte, was ich sagen wollte.
Viel wichtiger aber war: Leute wie MfS-Minister Mielke oder Ministerpräsident Stoph, die eng mit dem KGB, also dem sowjetischen Geheimdienst, verbunden waren, fürchteten, ich könnte mit meinen umfangreichen Kontakten zu Spitzenpolitikern der Bundesrepublik, mit meiner, wie sie meinten, Westlastigkeit, gefährlichen Einfluß auf den SED-Generalsekretär bekommen. Ohnehin verdächtigten sie ihn seit längerem, gegenüber der Bundesrepublik zu nachsichtig zu sein. Einer aus diesem Politbüro, Werner Jarowinski, raunte mir kurz nach meinem Arbeitsbeginn zu: Hör auf, hier zu widersprechen und spiele dich nicht auf, als seiest du klüger als der Generalsekretär!
So wurde mir alsbald deutlich, daß es in diesem Gremium keine Möglichkeit gab, einigermaßen freimütig Probleme zu erörtern. Eines Tages im Herbst 1984 entzog mir Honecker in einer Sitzung sogar mit scharfer Stimme das Wort und verlangte, ich möge endlich mit meinen vorlauten Reden aufhören. Wesentliche Fragen wurden oft an diesem Gremium vorbei geregelt – durch Entscheidungen des Generalsekretärs oder bilaterale Absprachen zwischen Honecker und Mittag u.a..
Die Tagesordnungen der Politbüro-Sitzungen waren überladen mit Themen, die in die Regierung gehörten.

Frage:

Könnten Sie ein paar Beispiele für die Zustände im Politbüro nennen?

Prof. Häber:

Es gab Sitzungen mit 22 Tagesordnungspunkten, die aber nur etwa 100 Minuten dauerten. Pro Tagesordnungspunkt standen also knapp fünf Minuten zur Verfügung. Schon damit war die Möglichkeit einer sachlichen Beratung ausgeschlossen. Oder: Nach fast jeder Politbüro-Sitzung verschwand der MfS-Minister Mielke mit Erich Honecker in dessen Arbeitszimmer. Da wurden wichtige Dinge besprochen, von denen aber das Politbüro, soweit ich es erleben konnte, nichts erfuhr. Vielleicht Egon Krenz, denn er war ja Sekretär für Sicherheitsfragen. Gar nicht zu reden von der „Arbeitsgruppe Mittag“, die ich als eine Art „Neben-Politbüro“ bezeichnen würde. Hier wurden Entscheidungen, vor allem über das Verhältnis zur Bundesrepublik getroffen, von denen ich als Leiter der ZK-Abteilung niemals informiert worden war.

Frage:

Haben Sie versucht, mit anderen Politbüromitgliedern darüber zu reden?

Prof. Häber:

Das habe ich. In einem Gespräch unter vier Augen stellte ich an Horst Sindermann, den Präsidenten der Volkskammer, den ich seit längerem kannte, die Frage: Was ist los in diesem Politbüro und welche Rolle spielst du? Seine Antwort: Gegen die Truppe Honecker, Mittag und Mielke kommt man nicht auf. Er habe es aufgegeben, eine Veränderung zu versuchen. Und ein anderer aus diesem Gremium, Konrad Naumannn…

Frage:

… auch Vorgänger von Günter Schabowski als 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED …

Prof. Häber:

… nahm mich beiseite, um mir zu sagen: Leute wie Mielke, Stoph und Krolikowski seien es nicht wert, daß ich mich vom Stuhl erhebe, um ihnen zur Begrüßung die Hand zu geben. Nach einigen Wochen war mir klar geworden: Hier kann ich nicht bleiben und habe mit meiner Frau darüber gesprochen. Die Frage war nur: Wie komme ich heraus? Ich wollte nicht in die Lage kommen wie Erich Apel, seinerzeit Politbüromitglied…

Frage:

… und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission (SPK) …

Prof. Häber:

… der sich 1965 erschossen hat.

Frage:

Warum haben Sie nicht einfach Ihre Funktion niedergelegt als Politbüromitglied?

Prof. Häber:

Das wäre eine solche schroffe Herausforderung des SED-Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden gewesen, der das nie gegenüber der Öffentlichkeit hätte verkaufen können, daß ihm jemand die Mitarbeit aufkündigt. Mit Sicherheit wäre ich schon in einem solchen Falle als „verwirrter“ Mensch der Psychiatrie übergeben worden. Oder es hätte auch einen tödlichen Autounfall geben können.

Frage:

Um den Tod von Erich Apel ranken sich Mythen. Es gibt die Meinung, daß er ja auch nicht ganz freiwillig aus dem Leben geschieden sein soll.

Prof. Häber:

Diese Vermutungen sind mir bekannt. Es gibt dafür Indizien, aber Beweise waren bisher nicht auffindbar. Die Historikerin Dr. Monika Kaiser, die sich sehr gründlich mit der Problematik befaßt hat, berichtete, einer Aussage der Witwe Apels zufolge habe Walter Ulbricht eine Mordkommission einsetzen wollen. Dazu kam es aber nicht. Aber wie auch immer, Apel ist in Bedrängnis geraten, als er nicht mehr akzeptieren wollte, wie Moskau sich auf Kosten der DDR wirtschaftlich bediente. Dafür wurde er vom Kreml zur persona non grata erklärt und seine Ausschaltung auf KGB-Art betrieben. So in etwa, wie es mir dann 1984/85 ergangen ist, als die sowjetische Führung unter Generalsekretär Tschernenkow und Marschall Ustinow über meine politische Linie…

Frage:

… auf die wir gleich zu sprechen kommen …

Prof. Häber:

… und damit über mich den Stab brach. Wenn es ernst wurde, kannte man in Moskau keinen Spaß.

Frage:

Sie haben am 5. Verhandlungstag erklärt, warum und wie Sie das sogenannte Zürcher Modell (ZM), das die Gewährung von Krediten an die Gewährung von humanitären Erleichterungen, auch Gewährung von Reiseerleichterungen für DDR-Bürger knüpfte, unterstützten.
Zunächst gefragt: War Ihr Engagement auch westlichen Stellen ein Dorn im Auge und Ihr Wirken hinsichtlich einer Verständigung zwischen Ost und West zum Scheitern verurteilt – saßen Sie hoffnungslos zwischen den Stühlen der Ost-West-Politik?

Prof. Häber:

Zu dem, was ich versuchte, gehörte die Bereitschaft zum Risiko. Ja, man konnte zwischen alle Stühle geraten. Aber das ist mehr die Sicht von heute. Damals konnte ich nur so handeln, wie ich es zu dieser Zeit für richtig hielt. Und darum: Das „Zürcher Modell“ war eine Chance, um die Mauer durchlässiger zu machen und den Einstieg zu finden in weiterreichende Schritte bis hin zur Öffnung der Grenzen. Es war zu diesem Zeitpunkt ein geheimes Projekt, so daß es wenige Dokumente gibt und manche Politiker, die davon wußten, sich heute auf Erinnerungslücken zurückziehen können.
Fragen wir einen unverdächtigen Zeugen – Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Köln, schreibt in seinem bedeutenden Buch „Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft“ u.a. folgendes: „Als Gegenleistung (für Kredite) sollte eine Senkung des Reisealters für DDR-Bewohner um fünf Jahre vertraglich garantiert werden. Das hätte Reisefreiheit für Millionen Deutsche bedeutet. Außerdem sollte der Mindestumtausch für Reisen in die DDR für Rentner, Behinderte und Jugendliche ganz aufgehoben werden…“
Für mich war besonders wichtig, daß mit der Gründung einer gemeinsamen Bank in Zürich …

Frage:

… aus der sich die DDR dann mit den Krediten hätte bedienen können …

Prof. Häber:

… zu einer institutionellen Verklammerung zwischen beiden deutschen Staaten gekommen wäre, die niemand so ohne weiteres hätte wieder auflösen können. Mit einer Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft wäre das nicht verbunden gewesen.

Frage:

Nun ist dieses Projekt gescheitert. Warum eigentlich?

Prof. Häber:

In Ostberlin war Honecker zunächst dafür offen, solange keine andere Chance bestand, die dringend erforderlichen Westkredite zu erhalten. Bei MfS-Chef Mielke und anderen, auch bei Mittag, gab es Ablehnung. In Bonn war Dr. Jenninger dafür, der das Projekt bei der Amtsübernahme der CDU-geführten Bundesregierung Ende 1982…

Frage:

… von der sozial-liberalen Regierung …

Prof. Häber:

… sozusagen geerbt hatte.
Auch Bundeskanzler Helmut Kohl hat in seinem ersten geheimen Telefongespräch mit SED-Generalsekretär Honecker im Januar 1983, wenn auch in verklausulierter Weise, darauf Bezug genommen. Er war es auch, der dabei unbedingte Diskretion verlangte. Honecker sorgte seinerseits dafür, daß das „Zürcher Modell“ in den Politbüroprotokollen keine Erwähnung fand.
Das Projekt starb, als im Frühjahr 1983 Franz-Josef Strauß, der CSU-Vorsitzende und Bayerische Ministerpräsident, dazwischenfuhr. Anfang Mai 1983 hatte er in Spöck am Chiemsee gegenüber Alexander Schalck-Golodkowski die Anhänger des „Zürcher Modells“ in der DDR, also auch Leute wie mich, als Illusionisten kritisiert. Honecker könne solche Forderungen gar nicht erfüllen. Außerdem äußerte er den Verdacht, es könnten „Dienste“ die Hand im Spiel haben – er meinte westliche Geheimdienste. Strauß störte es nicht, daß er solche Äußerungen gegenüber einem Oberst der Staatssicherheit machte, denn diesen Rang bekleidete Alexander Schalck-Golodkowski als MfS-Offizier im besonderen Einsatz.
Für Mielke in der DDR war das ein willkommenes Signal. Für die Anhänger des „Zürcher Modells“ hingegen war das natürlich fatal bzw. sogar gefährlich, denn Mielke ließ das „ZM“ dann als ein „subversives“ Projekt einstufen.

Frage:

Es hätte ja die Aufweichung des Ostblocks bedeutet.

Prof. Häber:

Und so ist es für die Gegner des „Zürcher Modells“ in der DDR-Spitze, wie MfS-Chef Mielke, darum alarmierend gewesen, als ich als Befürworter einer Politik der schrittweisen Öffnung in Richtung Westen im Mai 1984 in die SED-Führungsspitze gewählt wurde.

Frage:

Wieso hat ausgerechnet Franz-Josef Strauß gegen das „Zürcher Modell“ intrigiert?

Prof. Häber:

Anfang 1983 mußte der CSU-Vorsitzende erleben, daß Helmut Kohl Bundeskanzler und Hans-Dietrich Genscher wieder Außenminister wurde. Damit waren für den Bayerischen Ministerpräsidenten jene Posten in Bonn versperrt, auf die erpicht gewesen ist. So entschloß er sich im Sommer 1983, mittels einer demonstrativen Kehrtwende in seiner Haltung zur DDR, sich zur Schlüsselfigur der bundesdeutschen Ostpolitik zu erheben.
Auch hier kann ich nur auf seine lesenswerten Erinnerungen verweisen, besonders über seine Gespräche mit Erich Honecker. Daß Strauß von Helmut Kohl keine hohe Meinung hatte, ist bekannt. Und so verbreitete er die Auffassung, Kohl sei von inkompetenten Leuten umgeben. Ihn störte das „Zürcher Modell“, weil es nicht von ihm stammte und weil er Honecker schonen wollte, und ihn störten jene Leute, die das ZM-Projekt betrieben. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen Staatsminister Dr. Jenninger vom Bundeskanzleramt, der dann im Herbst 1984 aus diesem Amt gedrängt wurde – zu jenem Zeitpunkt, als in Ostberlin über mich der Stab gebrochen wurde. Dieser zeitliche Zusammenhang fällt auf. Ob es sich um ein Komplott handelte, wird wohl kaum exakt zu klären sein, solange nicht alle Westakten offen sind, wenn es sie überhaupt noch gibt.

Frage:

Nach allem, was Strauß unternommen hatte, um das „Zürcher Modell“ zu verhindern und sein Konzept des DDR-Kredites (Milliardenkredit) durchzusetzen: War Strauß demnach in der Konsequenz entspannungsfeindlich, denn schließlich ist ja mit seinem Modell für DDR-Bürger nichts herausgesprungen, außer daß ein paar Splitterminen abgebaut worden sind?

Prof. Häber:

Das würde ich nicht sagen. Der Abbau von Minen im Grenzbereich war schon wichtig. Er hätte ohnehin erfolgen müssen wegen Helsinki.

Frage:

Das war aber noch kein Schritt für mehr Reisefreiheit, für mehr Freizügigkeit, was mit dem „Zürcher Modell“, das Sie befürworteten und unterstützten, beabsichtigt war.

Prof. Häber:

Richtig, das war der Unterschied. Uns ging es um verbindliche Festlegungen für die schrittweise Erweiterung der Reisemöglichkeiten, wobei das Wort „verbindlich“ zu unterstreichen ist. Aber, um auf Ihre Frage zur Rolle von Herrn Strauß zurückzukommen: Sie wundern sich offenbar über meine positive Bewertung dieses doch sehr umstrittenen Politikers?

Frage:

Allerdings, denn schließlich hat Strauß ja das von Ihnen vertretene Konzept sabotiert, für das, wie Sie selber sagten, Honecker zunächst offen war, solange keine andere Möglichkeit bestand, die dringend erforderlichen Westkredite zu erhalten.

Prof. Häber:

Es ist schwer, die Persönlichkeit dieses bedeutenden Politikers mit wenigen Worten zu charakterisieren. Wissen Sie, ich habe mich eigentlich immer bemüht, ein Schwarz-Weiß-Schema zu vermeiden. Das Verhalten von Franz-Josef Strauß war gewiß oft von persönlichem Ehrgeiz und parteitaktischen Erwägungen bestimmt. Aber er zählte zu jenen, die sehr frühzeitig verstanden haben, daß ein Atomkrieg in Europa zur totalen Katastrophe für Deutschland – ob Ost oder West – führen würde, und daß darum der Ost-West-Gegensatz auf anderen Politikfeldern ausgetragen werden muß. Eine, wie ich meine, ungeheuer wichtige Erkenntnis in jener Zeit, deren lebensgefährliche Brisanz heute oft außer acht gelassen wird.
Ich selbst bin wohl der Erste in der DDR gewesen, der Franz-Josef Strauß als Politiker ernstgenommen und sich gegen dessen Diffamierung als rechtsradikalen Popanz gestellt hat. Schon 1966 habe ich mich mit seinem Buch „Entwurf für Europa“ öffentlich befaßt. Bei Besuchen in Moskau riet ich dazu, Herrn Strauß einzuladen und Schluß zu machen mit den dummen Karikaturen in der sowjetischen Presse, in denen Strauß mit Stahlhelm und Hakenkreuz abgebildet wurde.

Frage:

Würden Sie Strauß als einen Realpolitiker bezeichnen?

Prof. Häber:

Was ist ein Realpolitiker, was ist Realpolitik? Aus meiner Sicht war Strauß ein strategischer Denker von Format mit einem Sinn für Macht. Der Dissens zwischen uns in den Jahren 1983/1984 bestand darin, daß wir, die Freunde des „Zürcher Modells“, glaubten, den dringenden Kreditbedarf der DDR für verbindliche Zusagen für Schritte zu mehr Freizügigkeit nutzen zu können, also die Mauer, die zu diesem Zeitpunkt nicht abschaffbar, durchlässiger zu machen. Er hingegen setzte auf längere Fristen und meinte, man dürfe Honecker nicht überfordern.
Wissen Sie, heute gibt es viele Schlaumeier, die von sich behaupten, schon immer alles gewußt zu haben. Nun ist es ja nicht schwer, schlau zu sein, wenn die Dinge schon gelaufen sind. Wer mit gutem Gewissen handeln will, ist auf das angewiesen, was er in der gegebenen Situation weiß. So schickte der Bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Strauß am 10. Juni 1985 über Alexander Schalck-Golodkowski folgende Botschaft nach Ostberlin: „Ich und meine politischen Freunde sind froh darüber, daß Erich Honecker als Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär der Partei die Geschicke der DDR leitet. Wir hoffen, daß das noch viele Jahre der Fall ist.“
Für Franz-Josef Strauß war das Realpolitik. Und? Wer wußte 1985, was 1990 geschehen würde?

Frage:

Nun gab es ja noch das Nachfolgeprojekt des „Zürcher Modells“, das unter dem Code-Namen „Länderspiel“ anlaufen sollte.

Prof. Häber:

Dieses ebenfalls geheim erörterte Nachfolgeprojekt „Länderspiel“ war darauf gerichtet, völlige Reisefreiheit für DDR-Bürger zu erreichen. Manchen erscheint es heute unglaubwürdig, daß ein solches Projekt überhaupt in Aussicht genommen worden sein könnte.

Frage:

Wo doch schon das „Zürcher Modell“ als „subversiv“ eingestuft wurde, und da ging es „nur“ um bis zu fünf Millionen Reisende.

Prof. Häber:

Nun ja, aber Franz-Josef Strauß hat zu Recht in seinen Erinnerungen geschrieben, daß die Politik oft seltsame Wege gehe. Nicht alles, was man plane, könne vorher auf dem offenen Markt ausgebreitet werden. So war es auch hier.

Frage:

Wer war eigentlich der Spiritus-rector dieses „Länderspiel“-Projektes?

Prof. Häber:

Sie werden staunen: Die Grundidee kam von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Bei seinem Treffen mit Honecker am Werbellinsee im Jahre 1981 äußerte er in meinem Beisein, wir sollten doch einmal über eine „Ungarn-Österreich-Lösung“ für das Verhältnis zwischen DDR und Bundesrepublik nachdenken. Das genau ist der Kern des später in den Blick genommenen „Länderspiel“-Projektes.

Frage:

Was dann die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik bedeutet hätte.

Prof. Häber:

Hier hätte es in der Tat Bewegung in Richtung auf eine Anerkennung bzw. volle Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft geben müssen.
Heute kann man dazu hören – im Geiste der Einheitslegenden -, es sei unmöglich, daß darüber auch nur nachgedacht worden sein könnte. Aber stimmt es nicht, daß z.B. Ende 1985 Gerhard Schröder…

Frage:

… immerhin der heutige Bundeskanzler …

Prof. Häber:

… gegenüber Erich Honecker den Anspruch der DDR auf volle Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft unterstützt hat? Die Probleme, die es dabei mit dem Grundgesetz gäbe, sollten in konstruktivem Sinne angegangen werden. Peter Struck…

Frage:

… der jetzige Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag …

Prof. Häber:

… war dabei. Auch von Willy Brandt war 1986 ein solches Signal in Ostberlin angekommen. Und stimmt es nicht, daß es auch in der CDU bei manchen Politikern Überlegungen in diese Richtung gab, so zum Parteitag in Wiesbaden 1988?
Schließlich: Wäre die Chance auf volle Reisefreiheit für die DDR-Bürger, auf den Abbau aller Grenzsperren gegen den zivilen Verkehr es nicht wert gewesen, mit diesem Projekt sorgfältig umzugehen und keine Möglichkeit auszulassen, es zu verwirklichen? Hier wurden Chancen vertan, die das Schießen an der Grenze mit Sicherheit für immer beendet hätten.

Frage:

Und ausgerechnet Ihnen, der hoch motiviert und engagiert war, die Mauer sozusagen durchlässiger zu machen – wie realistisch oder unrealistisch die Chancen dafür auch immer waren in jener Zeit -, wirft die Staatsanwaltschaft vor, es unterlassen zu haben, etwas gegen das Grenzregime zu unterlassen.

Prof. Häber:

Die Verantwortung für diese Unterlassungen lagen gewiß nicht bei mir. Im Schlußbericht des Schalck-Untersuchungsausschusses des Bayerischen Landtages vom 6. Juli 1994 heißt es dazu als Feststellung der Ausschußminderheit: „Ob das ‚Zürcher Modell‘ belastbar gewesen wäre, ist nicht ausgetestet worden. Wir können heute nicht sagen, daß die weitergehenden Forderungen des ‚Zürcher Modells‘ (Senkung des Reisealters, humanitäre Gegenleistungen) zum Erfolg geführt hätten. Wir können nur feststellen, daß es nicht ernsthaft versucht worden ist, diese Forderungen durchzusetzen.“

Frage:

Gegen wen richtete sich diese Feststellung – gegen die DDR oder die Bundesrepublik?

Prof. Häber:

Diese kritische Feststellung in diesem Bericht des Untersuchungsausschusses des Bayerischen Landtages richtete sich gegen die führenden Kreise der Bundesrepublik. Strauß hatte Nein gesagt und die Regierungszentrale in Bonn hatte sich gefügt. Aber es war eine Südschiene entstanden – von Strauß über Schalck zu Mielke in Ostberlin. Hier ist aufschlußreich, was Werner Großmann, nach Markus Wolf Leiter der „Hauptverwaltung Aufklärung“…

Frage:

… die sogenannte Abteilung für Auslandsspionage …

Prof. Häber:

… des Ministeriums für Staatssicherheit, in seinem kürzlich erschienenen Buch „Bonn im Blick“ geschrieben hat: „Die Mielke-Schalck-Strauß-Connection setzt sich durch. Baß erstaunt nehmen wir zur Kenntnis, daß Mielke in Strauß plötzlich nicht mehr den Feind Nr. 1 sieht, sondern einen potentiellen Verbündeten.“ Und Honecker antwortete im September 1983 auf die Frage von Helmut Schmidt, damals schon Kanzler a.D., ob das „Zürcher Modell“ noch aktuell sei: „Nicht mehr.“ Er sei – dank Strauß – zum Milliardenkredit gekommen wie die Jungfrau zum Kinde.

Frage:

Der ehemalige ARD-Korrespondent in der DDR, Lothar Loewe, antwortete in einem Interview mit mir auf die Frage, ob ein Politbüromitglied, das sich im Politbüro für die Abschaffung der Mauer eingesetzt hätte, das ohne Gefahr hätte tun können: Der wäre wahrscheinlich sofort für verrückt erklärt, auch in eine Nervenheilanstalt verbracht worden.
Sind Sie der lebende Beweis für diese Aussage?

Prof. Häber:

Lothar Loewe, der sich ja in DDR-Angelegenheiten gut auskennt, hat Recht. Wer annimmt, man hätte im SED-Politbüro gegen den Willen Honeckers das Wort erzwingen können, um in der Sache etwas zu erreichen, hat keine Ahnung von den wirklichen Mechanismen der Machtausübung wo immer auf dieser Welt. Einmal angenommen, mir wäre das gelungen – was wäre geschehen? Honecker hätte gesagt: Daß du überheblich bist, wußten wir. Aber jetzt hast du völlig den Verstand verloren. Bist du etwa der Oberkommandierende des Warschauer Paktes, daß du dich erdreistest, die Westgrenze unseres Verteidigungsbündnisses zu öffnen, gerade jetzt, wo atomare Mittelstreckenraketen beiderseits der Grenze stationiert werden? Du bist ein Fall für die Klapsmühle.

Frage:

Und so ist es denn ja auch gekommen, um ihrer „Westlastigkeit“ einen Riegel vorzuschieben, der Honecker ja nicht unerheblich Vorschub geleistet hatte bzw. sie zunächst kalkuliert genutzt bzw. Sie kalkuliert benutzt hatte. Und als er in Moskau damit auf Granit biß, mußten Sie als Sündenbock herhalten.

Prof. Häber:

In der Tat. Am 24. Mai 1984 wurde ich ins SED-Politbüro gewählt. Am 17. August 1984 verurteilte die Moskauer Führung die von mir vertretene Linie gegenüber der Bundesrepublik als Gefährdung sowjetischer Sicherheitsinteressen und als unvereinbar mit den Sicherheitsinteressen der DDR. Honecker wurde untersagt, in die Bundesrepublik zu reisen, wofür ich mich vehement eingesetzt hatte. Im Oktober 1984 hieß es in Moskau sogar, was Herbert Häber betreibe, sei glatter Verrat. Damit war ich geliefert, das Bauernopfer Häber war fällig. Meine Entfernung sollte aber nur so geschehen, daß der SED-Generalsekretär, der mich ja für diese Funktion vorgeschlagen hatte, nicht beschädigt wird.
So dauerte es einige Zeit. Mit meiner Einlieferung und der folgenden Isolierung im DDR-Regierungskrankenhaus Mitte August 1985 wurde ich sofort von allen politischen Kontakten abgeschnitten. Und am 6. Januar 1986 landete ich in einer geschlossenen Station der Psychiatrischen Klinik in Bernburg/Saale. Daß es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, zeigt schon die Tatsache, daß es bis heute nicht möglich war, die mich betreffenden Behandlungsakten ausfindig zu machen.
Ich befand mich in der Gefahr, für immer in der Psychiatrie zu verschwinden – als angeblich hoffnungsloser Fall.

Frage:

Wie man es im Westen ja schon immer geahnt hat, daß unbequeme Zeitgenossen im Ostblock in der Psychiatrie verschwinden.

Prof. Häber:

Soweit ich informiert bin, gab es seinerzeit auch in Bonn Erkenntnisse darüber, daß meine Entfernung politische Gründe hatte und die Erkrankung nur vorgeschoben war. Merkwürdigerweise hat sich die Staatsanwaltschaft für solche Erkenntnisse offenbar nicht interessiert.

Frage:

Wahrscheinlich hat sie der Angelegenheit nicht so viel Bedeutung beigemessen wie anderen Belangen.

Prof. Häber:

Dabei war die Sache ja noch dramatischer, und für mich und meine Familie bedrohlicher. Schon am 15. Oktober 1984, also wenige Monate nach meiner Amtsübernahme Ende Mai, war in der Spionageabwehr des MfS das befohlene Dossier über mich fertig, in dem ich in mehrfacher Weise verdächtigt werde, Zuträger oder sogar angeworbener Spion westlicher Geheimdienste zu sein. Genannt werden der BND sowie die CIA. Da wurde mir in einem femeartigen Verfahren ein Strick um den Hals gelegt, den man jederzeit zuziehen konnte. Man kann ja nicht vergessen, daß zu dieser Zeit Spionage im schweren Fall, und darum wäre es ja gegangen, in der DDR mit der Todesstrafe bedroht worden war. Auch alle diese Sachverhalte, meine Zwangsverschickung in die Psychiatrie sowie die MfS-Akten aus der Gauck-Behörde, die meine Gefährdung deutlich machen, wie vieles andere Wichtige, waren von den Ermittlern der Berliner Staatsanwaltschaft unbeachtet gelassen worden.

Frage:

Sie haben also ganz offensichtlich nicht nur Ihre politische Existenz, sondern sogar Ihr Leben riskiert, um vernünftige Regelungen im deutsch-deutschen Verhältnis zum Nutzen der Menschen beiderseits der Grenze zu erreichen. Was bewegt Sie da angesichts der Versuche der Staatsanwaltschaft, Sie doch noch zu kriminalisieren?

Prof. Häber:

Als ich 1995 hörte, gegen mich wird ermittelt, war ich ruhig, denn ich sagte mir, wenn gründlich ermittelt wird, kann mir gar nichts passieren. Aber meines Erachtens ist das in meinem Falle eben nicht geschehen. Man hat sich darauf beschränkt, die Beschlußprotokolle des SED-Politbüros durchzublättern. Aber ihr Beweiswert ist sehr begrenzt. Sie wurden in der Regel von Honecker verfaßt und redigiert, manchmal auch manipuliert. Die wichtigsten Dinge, die mich betreffen, kommen dort gar nicht vor. Weder mein Einsatz für den politischen Brückenschlag zur SPD sowie der CDU-CSU seit 1975, noch mein Auftreten gegen die militärische Moskauer Führung in der brisanten Raketenkrise im Sommer 1984, wozu erheblicher Mut gehörte.
Und was Mut angeht, so möchte ich den CDU-Bundestagsabgeordneten Friedbert Pflüger zitieren. Auf die Frage, warum er und andere in der CDU nicht aufgetreten sind gegen die gesetzwidrigen Finanzmachenschaften von Helmut Kohl, meinte er im vorigen Sommer, er habe Furcht um seine Karriere gehabt. Und wörtlich sagte er: „Wie kann man von Menschen in Diktaturen Mut und Widerstand erwarten, wenn man nicht einmal in der Demokratie dazu in der Lage ist?“

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: zeitzeugen-tv.com

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