„Die Mauer war eine Übergangsmaßnahme“.

TP-Interview mit Sahra Wagenknecht.

TP: In der Tageszeitung „Junge Welt“ wurde kürzlich für Neu-Abonnenten geworben mit dem Hinweis, daß unter ihnen – neuen Abonnenten – Ihre schönste Bluse (30 % Baumwolle, 80 % Marxismus) verlost wird.

Frage: Wieviele Blusen würden Sie dafür geben, wenn es die alte DDR wieder gäbe?

Wagenknecht: Natürlich alle, die ich habe. Aber das ist ja wohl keine ernsthafte Frage. Auch abgesehen von den Blusen. Die DDR wird es in dieser Form nie wieder geben. Trotzdem bleibt natürlich wahr: Die Verhältnisse in der DDR waren allemal weit menschlicher als das, was wir heute haben.

TP: Nun stehen ja gewisse Leute, wie z.B. Egon Krenz, heute vor Gericht für Sachen, die offensichtlich nicht so menschlich waren wie möglicherweise andere Sachen. Es wird davon gesprochen, daß die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Könnten Sie dieser Ansicht zustimmen im Hinblick auf diese Dinge, für die die Mitglieder des Politbüros oder die des Nationalen Verteidigungsrates, die ja schon rechtskräftig verurteilt sind, vor Gericht stehen?

Wagenknecht: Sie stehen doch in Wirklichkeit überhaupt nicht für jene Dinge vor Gericht, die die Anklage ihnen vorwirft. In Wahrheit geht es in diesen Prozessen nicht um Mauer und Grenzregime, sondern um jenes Land, das von dieser Grenze geschützt wurde. Es geht um vierzig Jahre antikapitalistischer Entwicklung im Osten Deutschlands, um den Versuch, andere, sozialere Regelungen und Werte an die Stelle von Kapitalmacht und Profitprinzip zu setzen. Dieser Versuch soll diskreditiert, kriminalisiert und abgeurteilt werden. Dafür werden die Repräsentanten der DDR vor den Kadi gezerrt. Die Prozesse sind nichts anderes als die Fortführung des Kalten Krieges mit juristischen Mitteln. Und der Begriff „Unrechtsstaat“ gehört natürlich auch in diesen Kontext. Es soll hier eine Kontinuität zwischen DDR und Faschismus konstruiert werden, die so absurd ist, daß man sich auf eine ernsthafte Diskussion darüber gar nicht einlassen kann. Wenn wir schon über Kontinuitäten in der deutschen Geschichte reden, dann verlaufen die doch wohl in einer anderen Richtung. Wer hat denn Hitler an die Macht gebracht, von der Aufrüstung, vom Krieg und von der grausamen Häftlingsarbeit in den Konzentrationslagern profitiert: doch im großen und ganzen dieselben Konzerne, die zwar nicht in der DDR, wohl aber in der Alt-BRD unangetastet fortbestehen konnten und sich durch die gelobte „deutsche Einheit“ nun auch ihre Macht über den Osten Deutschlands zurückgeholt haben. Und auch im politischen System, in der Justiz, im Bildungswesen Westdeutschlands haben nach 1945 bekanntlich reihenweise Altnazis überdauert, während die DDR ja nun wirklich primär von Leuten aufgebaut wurde, die aus dem antifaschistischen Widerstand und aus der Emigration kamen.

Die Prozesse tragen also eindeutig politischen Charakter; ebenso wie die ganze Vergangenheitsdebatte der letzten Jahre politisch motiviert ist. Der Kapitalismus agiert immer aggressiver, nach innen und nach außen, und die Folgen bekommen immer mehr Menschen in der eigenen Lebenssituation zu spüren. Unter solchen Umständen soll natürlich jedes Denken in Alternativen ausgeschaltet werden, soll schon der Gedanke an eine andere als kapitalistische Gesellschaftsorganisation möglichst für immer aus den Köpfen verbannt werden. Das ist der eigentliche Zweck der Kampagne.

TP: Die Staatsanwaltschaft ist da offenkundig nicht Ihrer Auffassung, sie ist der Ansicht, daß die Funktionsträger der ehemaligen DDR wegen der Toten und Verletzten an Mauer und Grenze vor Gericht stehen und daß sie auch die Souveränität gehabt haben, diese Toten und Verletzten an Mauer und Grenze zu verhindern. Es werde auch kein politischer Prozeß geführt, wie Sie das jetzt darstellen.

Wagenknecht: Jeder Tote an der Grenze war natürlich ein Toter zuviel. Das hat bereits Egon Krenz erklärt und dem ist nichts hinzuzufügen. Aber an der deutsch-deutschen Grenze starben bekanntlich nicht nur Flüchtlinge, sondern auch 25 Grenzsoldaten. Da deren Mörder sich ausnahmslos auf westdeutschem Territorium befanden, hätte die BRD-Justiz sie also längst zur Verantwortung ziehen können, wenn es ihr denn wirklich um die Toten ginge. Meines Wissens ist das allerdings in keinem einzigen Falle geschehen.

TP: Weinhold wurde angeklagt und vom Landgericht in Hagen zu vier Jahren verurteilt.

Wagenknecht: Vier Jahre für einen Mord… Und den anderen Tätern ist überhaupt nie etwas passiert. Schon das allein zeigt doch, daß die BRD-Justiz sich nicht um jene Menschen schert, die an der Grenze ihr Leben verloren; diese werden vielmehr skrupellos als Vorwand mißbraucht, um politische Prozesse zu inszenieren, in denen es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes geht. Zweitens dürfte auch der zuständigen Staatsanwaltschaft bekannt sein, daß das ganze Problem der Mauer und des Grenzregimes gar nicht der souveränen Entscheidungsgewalt der DDR unterstand. Beispielsweise in den Verhandlungen zum Westberlin-Abkommen war das den westlichen Vertretern noch recht gut bekannt und man hat – in Abstimmung mit Westdeutschland – großen Wert darauf gelegt, daß es dabei bleibt, d.h. daß der DDR wesentliche Souveränitätsrechte vorenthalten blieben. Aber all das wird heute einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen.

TP: Es wird von der Staatsanwaltschaft schon zur Kenntnis genommen, daß die DDR in Grenzfragen nicht souverän war, jedoch als Schutzbehauptung abgetan.

Wagenknecht: Das ist ja in etwa das gleiche.

TP: Im Jahre 1983 hat es den Abbau von Grenzsicherungsanlagen, SM-Anlagen, gegeben im Alleingang durch die DDR. Hier wird die Auffassung vertreten, daß die DDR hier die Souveränität gezeigt habe, die sie ansonsten hat vermissen lassen. Können Sie das nachvollziehen?

Wagenknecht: Nur schwer. Ich würde eher davon ausgehen, daß auch diese Maßnahme mit der Sowjetunion abgestimmt war. Die Grenze zwischen DDR und Westdeutschland war immerhin nie einfach nur eine zwischenstaatliche Grenze. Hier trafen zwei gegnerische Gesellschaftssysteme und Militärorganisationen aufeinander; es war so ziemlich der sensibelste Punkt im Block-geteilten Nachkriegseuropa. Ein winziger Funke an dieser Stelle konnte einen Weltbrand auslösen. Entsprechend war schon der Bau der Mauer kein Alleingang der DDR, sondern mit der sowjetischen Führung abgestimmt. Und diese hatte sich ihrerseits vorher mit Kennedy kurzgeschlossen. Hält es denn jemand für Zufall, daß die Grenzschließung gerade in dem Augenblick stattfand, als in Washington die Verfechter eines militärischen Rollback durch Leute abgelöst wurden, die eine zumindest vorläufige Akzeptanz des internationalen Status quo für unabdingbar hielten. Kennedy hatte kein Interesse, sich von Adenauer in einen Dritten Weltkrieg hineinziehen zu lassen. Und man leugne doch nicht, daß es entsprechende Planspiele auf westdeutscher Seite gegeben hat. Die Mauer stabilisierte den Status quo der europäischen Nachkriegsordnung und somit unter den damaligen Bedingungen den Weltfrieden. Sie aus Raum und Zeit herauszulösen und jetzt sogar zu einem Fall für die Justiz zu erklären, ist absurd.

Natürlich wäre es wichtig, die gesamte deutsche Geschichte der letzten vierzig Jahre zu analysieren: nicht juristisch, sondern seriös wissenschaftlich. Und da wäre dann natürlich auch über die Mauer zu reden. Nur eben nicht unter Ausklammerung der Bedingungen, die sie herbeigeführt haben. Zu diesen Bedingungen gehörte, daß die DDR wirtschaftlich schwächer war als der Westen Deutschlands. Zunächst mal vor allem,  weil sie die erheblich mieseren Startbedingungen hatte:  der Osten war von vornherein weniger industrialisiert und zudem durch den Krieg wesentlich schlimmer in Mitleidenschaft gezogen; und vor allem hatte die DDR Reparationen in mehrstelliger Milliardenhöhe an die Sowjetunion zu zahlen, während Westdeutschland mittels Marshallplan eine bedeutende Aufbauhilfe erhielt. Daß unter solchen Bedingungen zunächst ein enormes wirtschaftliches Gefälle zwischen den beiden Teilen Deutschlands existierte, ist kaum erstaunlich. Und dieses Gefälle wurde von westdeutscher Seite für einen aggressiven Wirtschaftskrieg ausgenutzt, zu Währungsspekulationen, Abwerbungen usw. Wenn die DDR überleben wollte, mußte dieses Ausbluten erst einmal gestoppt werden. Die Mauer war kein Endzustand, sondern eine Übergangsmaßnahme. Und als solche war sie gerechtfertigt. Ziel mußte es freilich sein, sie durch eine entsprechende Entwicklung der DDR irgendwann überflüssig zu machen. Aber das war keine Frage von Jahren, sondern eine von Jahrzehnten.

TP: Sie sagten eben, daß Sie davon ausgehen, daß der Abbau der SM-Anlagen im Jahre 1983 mit der Sowjetunion abgestimmt war. Die Angeklagten vor Gericht behaupten das Gegenteil, nämlich daß die Sowjetunion vor vollendete Tatsachen gestellt wurde mit dem Abbau der Anlagen und sie seien anschließend nach Moskau zum Rapport zitiert worden.

Wagenknecht: Wie gesagt, ich war bei den Entscheidungen nicht dabei. Nur, ehrlich gesagt, kann ich mir nicht so recht vorstellen, daß die DDR in solchen Fragen völlig unabgestimmt agiert hat.

TP: Ich kann mir das auch nicht vorstellen.

Wagenknecht: Aber diejenigen, die an den Entscheidungen unmittelbar beteiligt waren, können das einfach besser beurteilen.

TP: Es werden ja nicht nur Prozesse gegen ehemalige Politbüromitglieder und Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates geführt, sondern auch welche gegen Richter und Staatsanwälte aus der ehemaligen DDR. Von der PDS wurde ein Schlußgesetz in den Bundestag eingebracht, in dem vorgeschlagen wurde, daß hoheitliches Handeln nicht mehr bestraft wird. Ausgenommen sollten Fälle sein, in denen Täter zwar als Hoheitsträger gehandelt hatten, dieses Handeln aber hoheitlich nicht abgedeckt war (z.B. bei Gefangenenmißhandlungen).

Wagenknecht: In Fällen, bei denen gegen geltendes DDR-Recht verstoßen wurde, liegt natürlich tatsächlich ein strafrechtlich relevanter Tatbestand vor. Das kann man nicht bestreiten. Ob allerdings ausgerechnet die Justizbehörden der Bundesrepublik, die mit ihrer braunen Vergangenheit genügend Eigenbedarf an „Geschichtsaufarbeitung“ hätten, über die moralische Integrität und politische Legitimität verfügen, um über in der DDR Geschehenes zu urteilen, erscheint mir zweifelhaft.

TP: Mal abgesehen davon, daß in der Tat nur westdeutsche Richter an den Prozessen beteiligt sind – Schöffen sind dagegen schon welche aus Ostdeutschland beteiligt -, ist es aber nicht so, daß die bundesdeutsche Justiz den Auftrag zur Durchführung der Prozesse von der frei gewählten Volkskammer durch den Einigungsvertrag bekommen hat, Straftaten, die in der ehemaligen DDR begangen wurden, nach DDR-Strafrecht zu verfolgen. Und hier sind auch Ostdeutsche der Meinung, daß auch hinsichtlich der Toten und Verletzten an Grenze und Mauer Tatbestände des DDR-Strafrechts gegeben sind.

Wagenknecht: Daß Staaten ihre Grenzen sichern, ist international üblich und da müßte man die USA wegen der Toten an ihrer Grenze zu Mexiko und andere Staaten ebenfalls vor internationale Tribunale zitieren, wenn das jetzt so gehandhabt werden sollte. Außerdem ist es doch blanke Heuchelei, wenn die gleichen Politiker, die heute Mauern errichten – Mauern nach außen, an denen allein in den letzten Jahren einige Dutzend Menschen zu Tode kamen, weil eine brutale Asylgesetzgebung sie zwang, illegale Wege zu suchen, um ins Land zu kommen – wenn dieselben Politiker, die das zu verantworten haben, Krokodilstränen über „Mauer und Stacheldraht“ vergießen. Die emotionale Betroffenheit, die hier vorgeschützt wird, wünschte ich mir heute im Umgang mit jenen Menschen, die aus Folterstaaten nach Deutschland fliehen oder die versuchen, einen Ausweg aus schlimmster sozialer Not, Krieg und Bürgerkrieg zu finden. Aber die werden skrupellos in ihre Heimatländer abgeschoben, unbekümmert darum, welches Schicksal sie dort erwartet.

TP: Die Angeklagten verteidigen sich auch heute damit, alles getan zu haben, daß Grenzsoldaten erst gar nicht in die Lage kommen mußten, zu schießen – Schutzstreifen, Schutzschonen, oder wovon auch immer die Rede ist. Sind Sie der Meinung, daß wirklich alles getan worden ist, um zu verhindern, daß die Grenzsoldaten in die Lage kamen, zu schießen? Hätte da nicht noch mehr getan werden müssen?

Wagenknecht: Was wirklich hätte geschehen müssen, wäre die Beseitigung der Bedingungen gewesen, die zum Mauerbau geführt hatten. Und dazu gehörte nicht zuletzt die permanente Nichtanerkennungspolitik Westdeutschlands gegenüber der DDR. Die spezifischen Einzelheiten des Grenzregimes kann ich beim besten Willen nicht beurteilen.

TP: Sie sagten anfangs, daß Sie alle Ihre Blusen geben würden für die alte DDR. Auch unter den Bedingungen – Mauer und Grenze -, wie sie fast 30 Jahre lang waren?

Wagenknecht: Ich wünsche mir natürlich einen Sozialismus, der so produktiv ist, daß er sich im ökonomischen Wettbewerb behaupten kann und keine gesonderten politischen Schutzmechanismen dafür braucht. Aber die DDR hat sich konkret in Raum und Zeit entwickelt; und sie hatte eben mit einer Ausgangslage fertig zu werden, die für sie alles andere als günstig war. Es ist ahistorisch und wissenschaftlich unseriös, von der DDR zu verlangen, sie hätte innerhalb von 15 Jahren – zwischen 1945 und 1960 – bei derart divergierenden Ausgangssituationen ein dem westdeutschen adäquates Produktionsniveau erreichen müssen. Im Grunde  war es schon beachtlich, daß sich die DDR während dieser eineinhalb Jahrzehnte trotz aller Schwierigkeiten und westdeutschen Aktivitäten immerhin bei offener Grenze behaupten konnte. Aber das hat unsere Wirtschaft Jahr für Jahr Millionen und Milliarden gekostet, das hat jeden Volkswirtschaftsplan von vornherein ad absurdum geführt, da nie mit einer kalkulierbaren Ausgangsgröße gerechnet werden konnte. Wäre dieser Prozeß nicht gestoppt worden, hätte die DDR keine Überlebenschance gehabt. Und letztlich ist das ja das Problem, um das es geht. Die westdeutsche Politik und das westdeutsche Kapital hat ja nie die Mauer als solche gestört, sondern die Wut auf die Mauer rührte aus der Wut auf jenen Staat, dessen Existenz die Mauer vor ihrem Zugriff sicherte.

TP: Sollte man auf einen solchen Staat nicht besser verzichten, der nur unter solchen Bedingungen aufrechtzuerhalten ist, daß er, um nur ein Beispiel zu nennen, Bürger in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einschränkt?

Wagenknecht: Wieviel die Existenz der DDR wert war, zeigt sich doch spätestens jetzt, seit es sie nicht mehr gibt. Daß Tausende junger Leute, die heute unmittelbar nach Schulende auf der Straße liegen, in der DDR alle eine Lehrstelle bekommen hätten, daß die Millionen Frauen, die ihr Lebensglück nun wieder an Heim und Herd finden dürfen, früher weitgehend gleichberechtigt am Berufsleben teilnehmen konnten, daß niemand mit Mitte vierzig zum alten Eisen geworfen wurde, keine Familie Sorge vor der nächsten Mieterhöhung zu haben brauchte und soziale Existenzangst überhaupt ein Gefühl war, das der DDR-Bürger nicht kannte, das alles waren doch wohl keine Kleinigkeiten. Und inzwischen wird immer augenscheinlicher, in welchem Grade auch das soziale Netz Westdeutschlands von der Existenz der DDR abhing. Was sich seit sechs Jahren in diesem Lande abspielt, wäre doch undenkbar gewesen, solange es ein alternatives System auf deutschem Boden gab. Solange hätte man sich nie gewagt, den Leuten ein so dreistes Umverteilungsprogramm zugunsten der Reichsten zuzumuten, ihnen einen solchen Katalog sozialer Grausamkeiten vorzusetzen, wie es jetzt mit dem sogenannten „Sparpaket“ geschieht. Oder nehmen wir die Außenpolitik. Kaum war die DDR verschwunden, begann die Debatte über die vorgeblich „neue internationale Verantwortung“ Deutschlands, die via Änderung des Grundgesetzes in kürzester Zeit dazu führte, daß deutsche Soldatenstiefel wieder über den Balkan marschieren.

TP: Haben Sie eigentlich Verständnis für Ihre Mitbürger, die die Wiedervereinigung gefordert haben unter den Bedingungen, wie die DDR damals dahingetrottet ist?

Wagenknecht: Im Herbst 1989 wurde zunächst mal von der übergroßen Mehrheit gar nicht die „Wiedervereinigung“ gefordert, sondern eine Veränderung der DDR – hin zu einem produktiveren, attraktiveren Sozialismus. Und diese Forderung war angesichts unübersehbarer gesellschaftlicher Krisensymptome und einer zunehmend hilf- und konzeptionslos agierenden SED ja mehr als berechtigt. Das Problem bestand darin, daß sich sehr bald Leute an die Spitze dieser Bewegung stellten, die zwar zunächst die gleichen Losungen übernahmen, deren eigentliches Ziel jedoch offenkundig ein anderes war. Daran läßt die Entwicklung der meisten sogenannten „Bürgerrechtler“ nach 1990 ja keinen Zweifel. Zweitens kann man über den Herbst 1989 natürlich nicht reden, ohne bestimmte internationale Gegebenheiten, speziell die damalige SU-Politik, zu berücksichtigen. Das würde hier zu weit führen. Jedenfalls wird doch heute kaum noch jemand behaupten wollen, der Anschluß der DDR an Westdeutschland sei primär deshalb zustande gekommen, weil die Mehrheit der DDR-Bürger ihn gefordert hätte. Als die Menschen im März 90 an die Wahlurnen gebeten wurden, gab es im Grunde schon nichts mehr zu wählen, denn die Fakten waren längst geschaffen. Und hinzu kam dann noch, daß man die Leute schamlos belogen, ihnen vorgemacht hat, sie könnten ihre soziale Sicherheit aus DDR-Zeiten auch unter kapitalistischen Bedingungen ohne Abstriche behalten.

TP: Wäre ein bessere Politik in der DDR möglich gewesen durch das bloße Auswechseln von Köpfen oder durch das Ändern eines Parteinamens, wie das von SED in PDS ja geschehen ist? Konkret: Nehmen wir mal an, die PDS wäre bei bestehender Grenze und Mauer staatstragende Partei der DDR geworden, hätte das die Situation entscheidend geändert, mehr Freiheit für die Menschen nach sich gezogen?

Wagenknecht: All solche Erwägungen sind natürlich rein spekulativ, denn die Entwicklung ist anders verlaufen. Aber ich denke, daß es sehr wohl Alternativen zur damaligen SED-Politik gegeben hat. Das zeigt sich ja schon daran, daß die SED selbst beispielsweise in den sechziger Jahren durchaus eine andere und wesentlich intelligentere Politik gemacht hat. Insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Es wird immer so dargestellt, als hätte es eine völlige Kontinuität in der DDR-Geschichte gegeben. Das stimmt ja nicht. Es gab zum Beispiel den hochinteressanten Versuch eines Neuen ökonomischen Systems; parallel dazu gab es neue Ansätze in der Jugendpolitik und ähnliches. Leider wurden diese Versuche mit dem Sturz Walter Ulbrichts 1971 abgebrochen. Danach wurde dann kaum noch diskutiert, kaum noch darum gerungen, neue Strategien zu finden; die SED-Politik wurde zu einem bloßen Sich-Durchwursteln von einem Tag zum nächsten. Damit die DDR überleben konnte, bedurfte es natürlich einer anderen Politik – speziell auch einer anderen Wirtschaftspolitik – als jener, die Honecker und Mittag praktizierten. Allerdings hätte die DDR wohl selbst bei optimaler Politik keine Chance gehabt, nachdem Gorbatschow die Übergabe vereinbart hatte.

TP: Nun ist ja heute die Mauer weg. Die Ostdeutschen können, wenn sie denn Geld haben, hinfahren, wohin sie denn wollen. Wie ist das mit Ihnen, ist es für Sie nicht auch eine Befreiung, daß Sie jetzt reisen können wohin Sie wollen oder hätten Sie das auch schon zu DDR-Zeiten gekonnt?

Wagenknecht: Man konnte natürlich nur begrenzt reisen. Allerdings ist es Unsinn, zu behaupten, daß man es gar nicht konnte. Ich erinnere mich noch gern  an meine Reisen z.B. an den Baikal-See oder nach Sowjetisch-Mittelasien, in den Kaukasus, nach Bulgarien, Ungarn, in die CSSR; in all diese Länder konnte man ja.

TP: Leute, die heute reisen, kommen zurück, während die, die damals gereist sind, teilweise das Weite gesucht haben.

Wagenknecht: Ob sie zurückgekommen wären oder nicht, ist Spekulation. Das eigentliche Problem lag jedoch darin, daß eine sozialistische Währung in einer kapitalistisch beherrschten Weltwirtschaft nicht frei konvertibel sein kann; es sei denn zu völlig irrealen Wechselkursen, die volkswirtschaftlich ruinös sind. Die DDR hatte infolge dessen immer Devisenprobleme. Das hieß aber, daß wir die Leute faktisch mit leeren Taschen hätten reisen lassen müssen. In diesem ökonomischen Bereich lagen eigentlich die Hauptprobleme.

TP: Manche wären schon zufrieden gewesen, wenn sie nach Westberlin hätten fahren können.

Wagenknecht: Das streite ich nicht ab. Das ändert jedoch nichts an den ökonomischen und politischen Tatsachen. Und hätten die Leute denn ohne einen Pfennig in der Tasche fahren sollen? Selbst wenn sie sich da in eine Café hätten setzen wollen, wäre die Lage schon fragwürdig gewesen.

TP: Der Westen hätte Begrüßungsgeld gegeben.

Wagenknecht: Das glaube ich gern. Heute reicht es freilich nicht mal mehr zur Finanzierung der nötigsten ABM im Osten.

TP: Fühlen Sie sich persönlich freier, seit die Mauer gefallen ist?

Wagenknecht: Wie kann man sich frei fühlen in einem Land, in dem immer mehr Menschen in Armut und unwürdige Lebensverhältnisse abgedrängt werden? Wenn ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis unmittelbar erlebe, wie Menschen Tag für Tag neue Bewerbungen abschicken, alles in allem inzwischen fünfzig oder hundert Stück, und wie sie dennoch keine Chance erhalten und an dieser Situation allmählich psychisch kaputtgehen, oder wenn ich andere sehe, die ungemein schuften müssen, unzählige unbezahlte Überstunden machen und sich auf der Arbeit nahezu alles gefallen lassen, nur um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren, oder wenn ich mit Studenten diskutiere, denen der Zwang zur dauernden Jobberei ein geregeltes Studium fast unmöglich macht, dann, muß ich sagen, waren mir Verhältnisse, in denen solche Grundrechte gewährleistet waren wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf bezahlbares Wohnen, allemal lieber als eine abstrakte Reisefreiheit, die ohnehin für immer mehr Menschen unerschwinglich wird.

TP: Können Sie sich vorstellen, daß jemand in der DDR es leicht gehabt hätte, Arbeit zu finden, der im Verdacht stand, für den Verfassungsschutz oder den BND gearbeitet zu haben?

Wagenknecht: Ich sehe das Problem der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands nicht in der Frage, ob jemand ehemals Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war oder nicht.

TP: Und ich sehe das Problem nicht darin, daß sie nur deswegen keine Arbeit bekommen, weil sie Ostdeutsche sind.

Wagenknecht: Bei offiziell 4 Millionen Arbeitslosen im Land kann man das wirklich nicht behaupten. Eine weitgehend konjunkturunabhängig auf hohem Niveau stagnierende Massenarbeitslosigkeit ist ein Problem, das in nahezu allen westlichen Industriestaaten etwa seit den siebziger Jahren existiert. Das Problem als solches hat also mit kapitalistischen Reproduktionsmechanismen und zunächst mal gar nichts mit  dem Anschluß der DDR zu tun. Aber es tritt im Osten Deutschlands natürlich in besonders verschärften Formen auf: wegen der umfassenden Deindustrialisierung und Marktbereinigung, die Kohl-Regierung und Treuhand im Interesse der westdeutschen Konzerne auf DDR-Territorium vorgenommen haben. Hier wurde gezielt potentielle Konkurrenz liquidiert. Und parallel dazu gibt es natürlich auch eine gezielte Ausgrenzung von ehemaligen DDR-Bürgern im Bildungswesen, in der Kultur und an allen etwas einflußreicheren Stellen in Politik und Wirtschaft. An der Universität habe ich doch selbst erlebt, wie fast alle DDR-Dozenten entlassen wurden – völlig unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation – und zweit- bis drittklassige Westimporte an ihre Stelle traten.

TP: Wenn ich Ihre Kritik richtig verstehe, fühlen sich die Ostdeutschen von der Bundesrepublik bewußt diskriminiert und benachteiligt. Es gibt ja auch ein Duma-Schreiben, in dem eine solche angebliche Diskriminierung angeprangert wird. Sind Sie wirklich der Meinung, daß Ostdeutsche, nur weil sie Ostdeutsche sind, bewußt in der Bundesrepublik diskriminiert werden?

Wagenknecht: Nicht, weil sie Ostdeutsche sind, sondern weil sie DDR-Bürger waren. Und je mehr sie zu ihrem Wirken in der und für die DDR stehen, desto mehr. Angefangen von der gezielten Abwicklung der ostdeutschen Kultur und Wissenschaft, über die spezifische Ausgrenzung sogenannter „Staatsnaher“ aus dem Berufsleben bis hin zum Rentenstrafrecht gibt es wohl genügend Beispiele, die diese Diskriminierung belegen.

TP: Auf der anderen Seite sehe ich auch, daß sehr viel Geld zum sog. Aufbau der ehemaligen DDR investiert wird.

Wagenknecht: Also erstens, wenn man die ostdeutsche Industrie nicht mit dieser Brutalität vernichtet hätte, wären die Transferzahlungen überhaupt nie in dieser Größenordnung nötig geworden. Man hat also selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen. Und zweitens schaue man doch einmal genau hin, wer letztlich von diesem Geld profitiert. Es sind doch wiederum die westdeutschen Konzerne. In deren Hände sind 85% des ostdeutschen Volkseigentums übergegangen – vielfach zum Nulltarif und oft genug mit der unmittelbaren Folge der Betriebsschließung; und vermittels jener Betriebe, die sie freundlicherweise nicht geschlossen haben, reißen sich diese Konzerne nun den größten Teil der Fördermittel Ost unter den Nagel. Und auch die Transferzahlungen an die Bevölkerung – so wichtig sie für die Betroffenen sind – haben letztlich doch nur den Effekt, im Osten eine gewisse konsumtive Nachfrage aufrechtzuerhalten, wobei das Netz westdeutscher Handelsketten dafür sorgt, daß diese Nachfrage wiederum größtenteils durch westdeutsche Produkte abgedeckt wird. Das heißt, die Transferzahlungen fließen auf direktem Wege in die Taschen der westdeutschen Kapitaleigner zurück. Der ganze sogenannte „Aufbau Ost“ hat somit die Wirkung einer Art neokeynesialistischen Konjunkturprogramms: zugunsten der westdeutschen Großunternehmen und zuungunsten der abhängig Beschäftigten in Ost und West, die Zins und Zinseszins der in diesem Kontext überwuchernden Staatsverschuldung abzuzahlen haben; denn sie sind es, die den Löwenanteil des Steuereinkommens tragen.

Überdies werden die Transferleistungen ja inzwischen Schritt für Schritt reduziert, wie sich an der Streichung der ostdeutschen ABM oder auch der Sonderregelungen beim Wohngeld zeigt. Aber an ihre Stelle tritt freilich kein selbsttragender wirtschaftlicher Aufschwung im Osten, sondern schlicht wachsende soziale Not.

TP: Hans Modrow vertritt die Auffassung, daß Prozesse, wie sie derzeit gegen politische Funktionsträger der ehemaligen DDR geführt werden, das deutsche Volk eher spalten als es zu vereinen. Ist das nicht ein bißchen dramatisiert?

Wagenknecht: Ich kann mit den Worthülsen von der „Einheit“ bzw. „Spaltung“ des deutschen Volkes nicht viel anfangen. Solange wir kapitalistische Ausbeutungsstrukturen haben, solange ist die Gesellschaft objektiv gespalten, allerdings nicht geographisch, sondern sozial. Auch die Prozesse gegen unsere Genossen wurden ja nicht von der westdeutschen Bevölkerung inszeniert; es sind ausschließlich die Profiteure des westdeutschen Kapitalsystems, die an ihnen ein Interesse haben. Denn eigentlicher Zweck der Veranstaltung ist es eben, durch Kriminalisierung des sozialistischen Versuchs DDR die Realität des westdeutschen Kapitalismus in all ihrer Menschenverachtung und Brutalität zu legitimieren. Das aber richtet sich keineswegs nur gegen die Bevölkerung Ostdeutschlands.

TP: Also es gäbe keinen Bürgerkrieg, wie manche das in trivialer Weise darzustellen versuchen, wenn Egon Krenz und Genossen für ein paar Jahre hinter Gittern landen würden?

Wagenknecht: Wenn in diesem Land eine zunehmend gespannte Stimmung herrscht, dann wegen der sozialen Lage. Allerdings gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen juristischen Prozessen, der Denunzierung und Verleumdung der DDR im allgemeinen und dem hemmungslosen Sozialabbau, der hierzulande seit sechs Jahre wütet. Das alles ist Teil ein und derselben Politik. Und es wäre wünschenswert, wenn sich gegen diese Politik massiver Widerstand formieren würde. Von Bürgerkrieg zu reden, halte ich übrigens in jeder Hinsicht für Blödsinn.  Es geht darum, daß die Menschen sich nicht mehr so viel gefallen lassen, daß sie sich dagegen zur Wehr setzen, wenn man ihnen immer dreister in die Taschen greift, daß sie ihrer Unzufriedenheit und ihrem Protest Gehör verschaffen: durch Streiks, Demonstrationen und andere außerparlamentarische Aktivitäten. Denn an massivem außerparlamentarischem Druck kommt keine Regierung so leicht vorbei. Aber all das sind Fragen, bei denen die Lohnabhängigen in Ost und West durchaus gleiche Interessen haben. Und zwar gegenüber denjenigen, die in den westdeutschen Konzernzentralen und Großbanken sitzen und die genannte Politik forcieren und antreiben.

TP: Könnten Sie sich bessere Möglichkeiten vorstellen als das Strafrecht, mit der DDR-Vergangenheit umzugehen?

Wagenknecht: Das Strafrecht ist überhaupt keine Möglichkeit. Es ist ein politischer Hebel, der von einer bestimmten Interessenlage aus nutzbar ist und also eingesetzt wird. Das Problem liegt doch darin, daß die – ideologischen und politischen – Vertreter der westdeutschen Kapitalordnung überhaupt kein Interesse an einer seriösen Analyse der DDR-Geschichte haben bzw. haben können. Weshalb sollten sie? Die einzigen, die hieran elementar interessiert sind, sind jene, die nach wie vor nicht gewillt sind, sich mit dem kapitalistischen System als vorgeblich letztem Wort der Geschichte abzufinden. Nur von der Perspektive einer sozialistischen Zielsetzung aus stellt sich sinnvoll die Frage: was ist bei dem ersten Versuch, eine Gesellschaft ohne Kapitalmacht und Profitdiktat aufzubauen, schiefgelaufen? Was führte dazu, daß sich dieser erste Anlauf letztlich nicht behaupten konnte? Welche Diskontinuitäten und Wendepunkte gibt es in der Geschichte der sozialistischen Staaten? Und wie ist das Verhältnis zwischen subjektiven Faktoren und objektiven Bedingungen? Usw. usf. Ohne überzeugende Antworten auf all diese Fragen wird es auch nicht möglich sein, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Alternative je wieder überzeugend zu vertreten. Denn jeder künftige Sozialismus wird mit dem vergangenen jedenfalls in einer Hinsicht übereinzustimmen haben: in der Überwindung des privatkapitalistischen Eigentums an Banken und Großunternehmen. Deshalb ist die wissenschaftliche Analyse der Erfahrungen, die während der zurückliegenden 40 bzw. 70 Jahre gemacht wurden, für die Linke geradezu überlebenswichtig.

TP: Was würde beispielsweise eine rein historische Aufarbeitung den Opfern bringen? Es gibt Leute, die behaupten, die Mehrheit dieser Bevölkerung sei der Meinung, daß den Opfern Genugtuung verschafft werden müsse. Wie könnte eine solche Genugtuung aussehen, wenn nicht das Strafrecht dafür herangezogen werden sollte, könnte, dürfte?

Wagenknecht: Wenn ich diverse wohlabgesicherte „Bürgerrechtler“ ausnehme, haben die meisten ehemaligen DDR-Bürger heute wahrscheinlich andere Sorgen. Die Analyse der Geschichte bringt uns der Frage näher, wie eine nichtkapitalistische Gesellschaft aussehen und funktionieren kann. Und je mehr Menschen nicht mehr der allgegenwärtigen Medienlüge aufsitzen, die bestehende Kapitalordnung sei – bei aller Kritik im Einzelnen – letztlich alternativlos, desto besser stehen die Chancen, daß sich wirklicher Widerstand gegen den sozialen und politischen Rechtskurs in diesem Lande formiert. Und das ist gegenwärtig wohl das Wichtigste.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1996

Sahra Wagenknecht gehört der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS an.

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