TP-Interview mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus Klaus Böger.
TP:
Herr Böger, das Bundesverfassungsgericht hat im November dieses Jahres entschieden, daß die Verantwortlichen für die Tötungen an der Mauer auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Das Rückwirkungsverbot wurde insoweit relativiert. Egon Krenz spricht heute davon, daß die Verfassung nur noch für Westdeutsche gelte, für Ostdeutsche nur noch eingeschränkt. Hat dieser Mann unrecht?
Böger:
Ja, das glaube ich, daß Egon Krenz unrecht hat. Es ist, wenn man die juristische Seite betrachtet, ohne Frage ein komplizierter Vorgang. Das Rückwirkungsverbot ist im Rechtsstaatsverständnis aller Demokratien eine wichtige Säule, daß eben niemand für etwas bestraft werden kann, wenn zum Zeitpunkt der Straftat dies nicht gesetzlich normiert war. Andererseits ist es zu beachten, daß, so wie das Bundesverfassungsgericht argumentiert – dann, wenn positive Gesetze, also die normale Gesetzgebung eines Staates an sich gegen elementare Grundsätze der Menschenrechte oder der Charta der Vereinten Nationen verstößt -, man dann eben auch diese Verantwortlichen in einem Strafverfahren zur Rechenschaft ziehen kann. Ich will noch hilfsweise darauf verweisen, daß die damalige DDR auch dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten ist und auch weitere Zusatzabkommen unterzeichnet hat. Auch das bietet ja zumindest eine Argumentationsmöglichkeit, Ich weiß zwar, daß diese Pakte damals immer nur gegolten haben im Lichte des innerstaatlichen Rechtes; dessen ungeachtet ist dies ja eine wichtige Bezugsquelle. Also Egon Krenz hat mit dieser polemischen Formel unrecht. Ich will aber einschränkend sagen, das ist jetzt nicht das Thema, ich halte juristische Aufarbeitung der DDR zwar für notwendig, politisch aber, glaube ich aber, ist es viel wichtiger, die Integration der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik Neu energisch voranzutreiben durch politische, soziale, ökonomische Tatbestände.
TP:
Die Bundesrepublik Deutschland hat 1952 die Relativierung des Rückwirkungsverbotes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der sie 1950 beigetreten ist, ausdrücklich nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt. Sie wollte das Rückwirkungsverbot strikt halten. Wenn man bedenkt, was damals zur Debatte stand – Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit -, macht man sich nunmehr nicht unglaubwürdig, die DDR-Vergangenheit umso rigoroser zu betreiben – trotz des noch nicht in der Verfassung relativierten Rückwirkungsverbotes?
Böger:
Es ist zumindest erklärungsbedürftig. Ich kenne diesen Vorgang, ich kannte auch die Begründung, die damals dafür gegeben wurde.
Auf der anderen Seite muß man ja akzeptieren, daß zwar sehr, ohne daß ich das in eins setzen möchte – NS-Regime und DDR-System -, daß die Bundesrepublik Alt in der juristischen Bearbeitung des NS-Unrechtes zwar mühsam, aber eben doch am Ende eine klare Haltung bezogen hat, allerdings erst relativ spät. Ich erinnere mich an viele Prozesse oder überhaupt nicht zustande gekommene Prozesse gegen Richter, die den Nazis gedient haben, weil es dort immer hieß: Man muß denen nachweisen, daß sie sozusagen bewußt das Recht gebeugt haben und nicht als solches schon der Tatbestand gegolten hat, daß sie eben zwar positives Recht angewendet, aber ein Recht, das im Maßstab des Menschenrechtes absolut ein Unrecht war von Anfang bis zum Ende. Das ist in der Tat problematisch, und ich betone noch mal, ich halte diese juristische Aufarbeitung vielleicht deshalb besonders für wichtig, um sozusagen alle Mechanismen des damaligen Herrschaftssystems der DDR aufzuarbeiten, aber nicht für besonders wichtig im Sinne, daß die damaligen leitenden Herren nun in das Gefängnis kommen. Also der Gedanke von Rache oder der Bestrafung mit Freiheitsentzug ist für mich nicht das Vorrangige.
TP:
Heinrich Lummer z.B. spricht sogar von einer Rumeierei, was z.B. die Anwendung der sog. Radbruch’schen Formel angeht. Er sähe das Problem auch lieber auf internationaler Ebene geklärt. Seit 1946 ist man dabei, einen internationalen Gerichtshof zu installieren. Man hat das bis heute nicht geschafft. Wäre es vielleicht nicht doch besser, diese ganze Problematik auf internationaler Ebene zu bearbeiten, um sich nicht mit dem Vorwurf auseinandersetzen zu müssen, man eiert hier mit strikten Grundrechtsparagraphen, wie z.B. mit dem Rückwirkungsverbot, herum?
Böger:
Das ist ein interessanter Gedanke, den wir ja gegenwärtig im Zusammenhang mit den Verbrechen in Jugoslawien diskutieren. Richtig ist, daß eigentlich die Frage bei Verbrechen im Auftrage eines Staates am besten zu beurteilen und zu verhandeln ist vor einem internationalen Gerichtshof. Das ist sicherlich ein erwägenswerter Gedanke. Ich glaube auch, das etwas in Bearbeitung von ehemals Jugoslawien geschieht, dort die richtige Stelle ist. Wobei man auch hier eine gewisse Inkonsequenz feststellen muß. Der internationale Gerichtshof hat ja einen Haftbefehl gegenüber bestimmten serbischen Tätern ausgestellt, aber die Truppe, die dort von der Staatengemeinschaft eingesetzt ist, vollzieht diesen Haftbefehl nicht. Auch das ist eine gewisse, gebe ich gerne zu, Inkonsequenz.
TP:
Ich möchte aus der letzten Erklärung von Michail Gorbatschow zitieren, die am 28. 11. 1996 von ihm abgegeben wurde. Zitat: Ich möchte daran erinnern, daß in den Jahren 1989/90 bei der Wiedervereinigung Deutschlands mit der Führung der BRD auf vertraulicher Basis und offiziell ein Einvernehmen dahingehend erreicht worden ist, daß strittige Fragen – darunter auch die bezüglich der Rechtmäßigkeit von Handlungen, die nicht im Widerspruch zur geltenden Gesetzgebung der DDR standen – nicht durch Verfolgung der führenden politischen Gegner gelöst werden.
Das Grenzgesetz, die Schußwaffengebrauchsbestimmung, worauf sich die Angeklagten, z. B. auch im Politbüro-Prozeß, berufen, standen im Einklang mit den Gesetzen oder Bestimmungen der DDR. Das Bundesverfassungsgericht hat auch dahingehend geurteilt, daß es so war, aber mit der Radbruch’schen Formel argumentiert, daß sich niemand auf bestehendes Recht berufen kann, wenn es eben im großen Widerspruch zu allgemeinen Überzeugungen von Menschenrechten stand. Ist Gorbatschows Appell dennoch gerechtfertigt?
Böger:
Also einmal: Ich unterstelle, daß diese Erklärung tatsächlich von Gorbatschow abgegeben wurde – das kann ich aber jetzt nicht nachprüfen. Wenn man unterstellt, daß er das gesagt hat, dann ist das ganz gewiß eine politische Aussage, die in einem bestimmten politischen Kontext gegeben wurde. Aber auch Aussagen der politisch Verantwortlichen der Bundesrepublik-Alt müssen sich im Kontext des Bundesverfassungsgerichts bewähren, das heißt, es kann durchaus sein, daß dies politisch so gesagt wurde, daß aber die Rechtsprechung, die in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig ist, dessen ungeachtet ihre Rechtsauffassung zur Geltung bringen kann. Wir haben ja vergleichbare Beispiele, allerdings mit anderem Ausgang bei der Frage der unabdingbaren Geltung von Enteignungen vor 1949. Und dort hat das Bundesverfassungsgericht ja anders entschieden. Sicherlich ist Eigentum auch ein wichtiges Grundrecht, aber eben offensichtlich anders eingeordnet vom Bundesverfassungsgericht als eben die Frage „Verbrechen gegen Menschenrechte“, also das Recht auf Leben.
TP:
Hinsichtlich der Gorbatschow-Erklärung hat z. B. die Krenz-Verteidigung beantragt, Bundeskanzler Kohl als Zeugen zu hören. Dieser Beweisantrag wurde vom Gericht abgelehnt. Halten Sie das für richtig in Anbetracht dessen, daß Kohl etwa hier hätte erklären können, daß aufgrund seiner Absprachen mit Gorbatschow eine Gesetzesinitiative, die auf eine Nichtbestrafung bzw. Nichtverfolgung von ehemaligen DDR-Funktionsträgern hätte hinzielen müssen, vonnöten war und die Angeklagten, z. B. im Politbüro-Prozeß, nur wegen dieser Unterlassung auf der Anklagebank sitzen?
Böger:
Entscheidungen eines Gerichtes bezüglich Beweisanträgen will ich hier nicht kommentieren. Die sind so hinzunehmen. Deshalb möchte ich hierzu keine Stellung nehmen.
TP:
Es gibt Leute, die argumentieren dahingehend, es werde so viel juristisch verfolgt, daß die politisch-moralische Auseinandersetzung auf der Strecke bleibe. Ist das irgendwo ein begründeter Vorwurf?
Böger:
Das glaube ich nicht. Das hängt sicherlich auch von uns ab, und zwar insbesondere von denjenigen, die hier historisch zufällig Gelegenheit hatten, im Westen aufzuwachsen, also in der Bundesrepublik-Alt oder eben im damaligen Berlin (West). Wir haben, finde ich, allen Anlaß, nicht mit erhobenen oder ausgestrecktem Zeigefinger auf andere zu deuten, insbesondere was das Verhalten von vielen Menschen in der DDR betrifft. Das sind unterschiedliche Motivlagen, und ich finde, derjenige, der in Freiheit aufwachsen konnte, hat überhaupt kein Recht, anderen, den „normalen Bürgern der DDR“, Vorhaltungen zu machen, warum man dieses und jenes hingenommen hat. Das ist die eine Ebene. Da meine ich, sind psychologisch sehr viele Fehler gemacht worden. Was die Verantwortung der politisch Führenden betrifft, sehe ich das, wie vorhin ausgeführt, differenzierter. Dessen ungeachtet glaube ich, daß diese Prozesse insgesamt wichtig sind, aber eher am wichtigsten wegen des Verfahrens, des Aufdeckens, des Abklärens auch von politischer Verantwortung und nicht so sehr in der Frage, was dann am Ende als mögliche Bestrafung oder Strafe herauskommt.
TP:
Die politisch Verantwortlichen argumentieren ja auch heute damit, daß sie an diesem Grenzregime nichts „ändern konnten – sowohl an der Errichtung als auch an der Durchführung. Sie verweisen hier auf die Warschauer Vertragsstaaten bzw. auf die Sowjetunion. Müßte das nicht noch mehr geklärt werden, z. B. mit Zeugen aus diesen Staaten?
Böger:
Sicherlich ist es generell eine Frage, die man thematisieren kann, inwieweit denn überhaupt sämtliche DDR-Führungen als Staat selbständig verantwortlich haben handeln können und ob nicht die DDR von Anfang an und in ihrer Geschichte ein Staat war, der letztlich von der Sowjetunion gesteuert wurde. Da spricht ja vieles politisch dafür; sowie man auch sehen kann, ist ja die Wiedervereinigung nur am Ende möglich geworden, indem die Sowjetunion dies möglich gemacht hat. Dessen ungeachtet bleibt natürlich auch immer das Maß der persönlichen Verantwortung für diejenigen, die an einem solchen System politisch an der Spitze gestanden sind. Und es kann doch nicht so sein, daß in Mauerschützenprozessen die konkreten Schützen, das heißt also Menschen, die in der Hierarchie als Soldaten ganz unten sind, belangt werden, und jene, die die entsprechenden Regelungen veranlaßt haben und die viel weiter oben gestanden haben, vollkommen entlastet weiter handeln können. Das, finde ich, macht überhaupt keinen Sinn.
TP:
Es gibt ja auch Argumentationen dahingehend, daß Politbüromitglieder sogar schon wegen Urlaubsanträgen in Moskau vorstellig werden mußten. Wie mag es erst dann ausgesehen haben, wenn es um Grenzsicherungsfragen ging, die ja doch eine übergeordnete Sache war?
Böger:
Das kenne ich nicht, ist eine interessante Arabeske, wenn das wirklich so ist. Es bleibt nach wie vor: Ich denke, wir müssen in unserem Rechtsverständnis davon ausgehen, daß es eine persönliche Verantwortung eines jeden Menschen gibt, und gezwungen ist ja niemand, Politbüro-Chef zu werden oder eben Chef der Grenztruppen zu sein. Also da meine ich, gibt es schon doch ein Maß an persönlicher Verantwortung und auch persönlicher Zurechenbarkeit. Ob es immer justitiabel ist, das ist eine andere Frage. Moralisch mit Sicherheit. Aber trotzdem finde ich, ist bei dieser moralischen Beurteilung auch eher Befindsamkeit denn ein Übermaß für die gegeben, die im Westen gelebt haben.
TP:
Es mehren sich ja nun auch Stimmen, die zum Ausdruck bringen, durch die Prozesse, die jetzt stattfinden, würde das deutsche Volk eher gespalten als vereint. Können Sie dem zustimmen?
Böger:
Also, das glaube ich nicht. Es ist vielleicht im Gegenteil festzustellen, ohne daß ich das belegen kann, daß doch sehr viele diese Prozesse in der Bundesrepublik und zwar jetzt NEU, d. h. sowohl in der ehemaligen DDR als auch in der Bundesrepublik-ALT überhaupt nicht so sehr verfolgen, sondern daß das eher eine Angelegenheit ist, wie man sagt, von interessierten Kreisen – sowohl juristisch hoch interessiert wie auch dann von den Kreisen der Betroffenen -, die sehr stark politisch davon leben, daß sie die Vergangenheit der DDR idealisieren bzw. den Unrechtscharakter des Systems negieren. Und insofern meine ich, daß dies nicht zur Spaltung beiträgt, wobei, ich sag‘ noch mal, sehr viel davon abhängt, wie man das seitens der politisch Verantwortlichen und der gesellschaftlichen Kräfte in dem neuen gemeinsamen Staat Bundesrepublik, ja, ich sag mal das Wort „verwertet“. Die Juristen sprechen eine Sprache, die Politiker eine andere. Und da, meine ich, ist zu weiten Teilen eher Versöhnung angesagt und nicht „gnadenlose Rückverfolgung bis ins Letzte“. Aber Versöhnung setzt voraus: Klarheit und Aufdeckung. Es gibt auch eine Menge von schlimmen Ereignissen in den 50er Jahren, Verfolgung. Und dort haben die Opfer jeden Anspruch auf Wiedergutmachung, Rehabilitierung, auch Klarheit, daß Urteile aufgehoben werden. Das ist zumindest eine vornehme Pflicht, also nur Versöhnen mit Deckel drauf und zu, das finde ich nicht richtig, sondern Aufklärung und Klarstellung insbesondere auch der vielen Strafen gegenüber Opfern, ich denke also an Entführungsvorgänge, ich denke an eine Fülle von politischen Prozessen. Und das finde ich nun schon in jedem Fall wichtig.
TP:
Letzte Frage, eine Frage, die ich vielen gestellt und auch Sie nicht davon verschonen möchte. 1987 hat man eigens für den Staatsbesuch Honeckers ein Straffreiheitsgesetz für ihn erlassen. Nachdem die DDR zusammengebrochen war, wurden er und andere angeklagt. Ist das nicht politisch unglaubwürdig und war es nicht eher ein politischer Fehler, das Straffreiheitsgesetz seinerzeit zu erlassen?
Böger:
Ich war in der Entspannungspolitik immer ein Anhänger des Tatbestandes, mit denjenigen zu reden, die die Regierung eines Staates im staatsrechtlichen Sinne bilden. Und dies war ohne Frage die DDR-Regierung mit den Eingrenzungen, die wir vorhin schon gemacht haben, was Souveränität etc. betrifft. Insofern war es gewiß auch politisch richtig, Honecker in die Bundesrepublik einzuladen und mit ihm zu sprechen, im Kern eben auch über Verbesserungen der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, am Ende auch mit dem immer klaren Konzept, daß diese Beziehungen sozusagen den Menschen zu dienen haben, insbesondere der Kommunikation zwischen den Menschen in Deutschland. Und es gab immer einen klaren Dissens, was die Gemeinsamkeit der Nationen betrifft. Insofern ist das immer klar und deutlich gemacht worden. Ich gebe zu, es gibt ja einen berühmten Bonmot: Hochverrat ist eine Frage des Datums. Richtig ist, in dem Moment, indem dieser Staat dann nicht mehr da ist, fehlen sozusagen auch die staatsrechtlichen Zwänge, die man eben hat, und die Dinge stellen sich dann etwas anders dar.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin