Politiker haben versucht in diesen Prozeß einzugreifen.

TP-Interview mit Rechtsanwalt und Notar Hans-Peter Mildebrath, Verteidiger von Ex-Verteidigungsminister der DDR Heinz Keßler.

Frage:

Herr Mildebrath, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat gesprochen – hat er Recht gesprochen?

Mildebrath:

Er hat ein Urteil gesprochen.

Frage:

Hat er ein politisches Urteil gesprochen?

Mildebrath:

Die Frage, ob im vorliegenden Fall ein Urteil politisch ausgerichtet oder ob es ein normales Strafurteil war, wurde mir von Anfang an immer wieder gestellt. Es gab unterschiedliche Auffassungen, wobei die Frage zu stellen ist: was ist ein „politisches“ Urteil und was ist ein „normales“ Urteil?
Die Beantwortung insofern ist schwierig. Festzuhalten ist aber, daß Politiker versucht haben, in diesen Prozeß einzugreifen.

Frage:

Krenz-Anwalt Robert Unger hat in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ hervorgehoben, daß sich in der Regel an den Menschengerichtshof nur Personen wenden, deren Menschenrechte durch einen Staat verletzt worden sind und nicht solche, denen selbst die Verletzung von Menschenrechten vorgeworfen wird.
Das sei bei den Beschwerden in der Argumentation nicht berücksichtigt worden.
Was wäre hier argumentativ noch zu berücksichtigen gewesen, wo doch die Verletzung des Rückwirkungsverbotes gerügt worden ist, das ja auch ein Menschenrecht ist?

Mildebrath:

Was der Kollege Unger seinerzeit in diesem Falle dem „Tagesspiegel“ gesagt hat und vor welchem Hintergrund, vermag ich nicht zu sagen. Im vorliegenden Fall war es aber so, daß sich hier vier Leute, die verurteilt worden waren, an den Europäischen Gerichtshof gewandt haben. Sie haben in der Tat gerügt, daß ein sogenanntes Rückwirkungsverbot verletzt worden sei, ein Menschenrecht.

Frage:

Das Menschenrecht des Rückwirkungsverbotes stößt ja nun zusammen mit Menschenrechten, deren Verletzung den Beschwerdeführern vorgeworfen worden war.
Wie hätten die Richter hier anders entscheiden sollen oder können als sie entschieden haben, wenn sie die Verletzung von Menschenrechten durch die Beschwerdeführer gesehen haben?

Mildebrath:

Das vorliegende Verfahren ist deswegen so interessant und letztendlich auch rechtlich schwierig gewesen, weil die Gerichte aufgrund der Vereinbarungen zwischen den beiden deutschen Staaten gehalten waren, das Strafrecht der ehemaligen DDR anzuwenden. Das heißt also, daß die Entscheidung getroffen werden mußte, was innerhalb der ehemaligen DDR erlaubt war und was nicht. Ob im nachhinein eine gesetzliche Vorschrift, die in der DDR existierte, als nicht verfassungskonform angesehen wird, war damit eine entscheidende Frage; ob insofern dieses Gesetz rückwirkend für unwirksam erklärt werden kann, war das nächste Problem, das den gesamten Fall hier betroffen hat. Es kam dabei natürlich zu politischen Auslegungen.
Wir, die hier im Westen groß geworden und ausgebildet worden sind, waren überwiegend der politischen Meinung, daß das, was an der Mauer passiert war, nicht in Ordnung war und die Schüsse insofern rechtswidrig waren. Frage war aber, war das auch aufgrund der gesetzlichen Grundlage der DDR so.

Frage:

Sind die Gerichte bei den rechtlichen Beurteilungen von unseren Rechtsgrundlagen ausgegangen?

Mildebrath:

Das ist die Furcht gewesen, die ich hatte. Es ist so schwierig, sich in ein anderes Rechtssystem hineinzudenken; und letztendlich ist ja nicht nur die Norm, also das Gesetz an sich, sondern auch wie die Gesetze angewandt und wie sie ausgelegt werden, von wesentlicher und besonderer Bedeutung. Und gerade das ist natürlich in dieses Verfahren nicht eingeflossen. Wir haben im Westen die Normen der ehemaligen DDR nach unseren Überlegungen angewandt. Das habe ich kritisiert.

Frage:

Die Richter des Europäischen Gerichtshofes haben ja nun im Urteil auch darauf hingewiesen, daß in der ehemaligen DDR, also noch zu Zeiten der DDR, Ermittlungsverfahren gegen Honecker und andere eingeleitet worden sind. Was berechtigt nun die Kritiker der Urteile und Verfahren im Westen zu der Annahme, daß es im Osten zu keinen Verurteilungen gekommen wäre?

Mildebrath:

Ich vermag nicht zu sagen, was letztendlich sich ergeben hätte, wenn die Wiedervereinigung nicht erfolgt wäre, sondern quasi zwei deutsche Staaten parallel noch weiter existiert hätten. Ich kann auch nicht sagen, welche Urteile ergangen wären, wenn die Strafverfahren, die in der Tat eingeleitet worden waren – mein Mandant, Herr Keßler, hat sogar in Untersuchungshaft in der ehemaligen DDR gesessen – durchgeführt worden wären.
Ein Problem hat sich für mich aber dahingehend gestellt, daß alle Richter, die sich letztendlich mit dem Verfahren hier in der Bundesrepublik befaßt haben, Richter waren, die aus dem Westteil kamen. Es gab keinen einzigen Richter, der in der ehemaligen DDR gelebt hat. Das war zu kritisieren, weil das natürlich immer diesen ganz unseligen Vorwurf, der nach meiner Auffassung auch nicht stimmt, der Siegerjustiz mit sich brachte. Ich fand eigentlich, das muß ich auch noch einmal sagen, daß die Verfahrensabläufe, insbesondere beim Landgericht Berlin, von einer großen Distanziertheit und letztendlich nach meiner Auffassung auch, wenn man das so sagen kann, von Fairneß der Richter geprägt waren. Ich kann mich erinnern, daß der Vorsitzende, als er das erste Urteil begründet hat, überzeugend seine Zerrissenheit zum Ausdruck gebracht hat.
Wesentlich war aber, wenn das Recht der DDR anzuwenden war und dort Gründe vorhanden waren, daß das, was vorgeworfen worden ist, nicht strafbar war, ja eventuell sogar durch Gesetz gerechtfertigt war, dies in das Verfahren einzubringen.

Frage:

Also z.B. diesen § 27 des Grenzgesetzes der DDR zu berücksichtigen.

Mildebrath:

Das war eine wichtige Frage, ob dieses Grenzgesetz zur Anwendung zu bringen ist und dann die nächste Frage – und die habe ich immer wieder versucht in diese Verfahren einzubringen, bin bedauerlicherweise aber auf kein Echo gestoßen -, was darf überall auf der Welt ein Grenzsoldat, ein Grenzbeamter, ein Polizist, der dort steht, tun, und was darf er nicht. Nach diesem Punkt ist nicht gefragt worden. Überall auf der Welt werden Grenzen bewacht und es wird an Grenzen geschossen, und es dürfte unstreitig sein, daß es Fälle gibt, in denen nach ganz herrschender Meinung ein Grenzbeamter oder Grenzsoldat zu Recht von der Schußwaffe Gebrauch macht, auch wenn dadurch der Tod eines anderen Menschen verursacht wird. Wobei bezüglich der Berechtigung des Einsatzes einer Schußwaffe bestimmte Kriterien zugrunde gelegt werden. Die Frage, ob es solche Fälle an der deutsch-deutschen Grenze gegeben hat, wurde nicht erörtert. Wir haben uns eigentlich nur beschränkt auf diesen § 27 des Grenzgesetzes. Der nächste Schritt ist nicht gegangen worden. Die Frage, was hat sich der Grenzsoldat vorgestellt, welche Gründe hatte der Flüchtling, auf den er geschossen hat, die Grenze zu überschreiten und was darf er da tun und was darf er nicht tun, um ein eventuell von ihm vorgestelltes strafbares Tun zu verhindern, wurde letztendlich nie, trotz vieler Versuche von mir diesen Punkt in das Verfahren einzubringen, gestellt.
Die Frage also, inwieweit darf etwas an einer Grenze überall auf der Welt gemacht werden und etwas nicht, war für mich eine ganz wesentliche Frage.

Frage:

Dürfen Flüchtlinge an der Flucht gehindert werden?

Mildebrath:

Ja, nicht nur Flüchtlinge, dürfen Menschen überhaupt gehindert werden – und zwar mit Waffengewalt – über eine Grenze zu gehen. Dazu habe ich mich mit einem Urteil des Bundesgerichtshofes in diesem Punkte befaßt, um auf dieses Problem aufmerksam zu machen und es näher zu bringen. Das ist ein Urteil, das gar nicht so lange vor der Maueröffnung gesprochen worden ist. Folgender Sachverhalt lag da zugrunde: An der Grenze zwischen der „alten Bundesrepublik“ und Holland umfuhr ein Motorradfahrer trotz Aufforderung eines Grenzbeamten, anzuhalten, dessen Dienstwagen und raste weiter auf die holländische Grenze zu. Daraufhin zog der Grenzbeamte seine Maschinenpistole und wollte den Motorradfahrer an der Weiterfahrt hindern. Seine dann abgegebenen Schüsse trafen dabei nicht den Motorradfahrer, sondern dessen Sozius. Hier hat sich der BGH mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob diese Schüsse gerechtfertigt waren oder nicht.

Frage:

Wie hat der BGH entschieden?

Mildebrath:

Der BGH hat den Grenzbeamten freigesprochen. Er hat gesagt, die Schüsse waren gerechtfertigt. Festgestellt hat der BGH, daß der Motorradfahrer deswegen weitergefahren sei, weil er wegen vorherigen Alkoholgenusses fürchtete, Schwierigkeiten mit der Polizei zu bekommen. Auf diesen Umstand hat der BGH jedoch sein Urteil nicht abgestellt, sondern er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, es käme nicht darauf an, was derjenige wollte, der über die Grenze gefahren ist, sondern es sei ausschließlich darauf abzustellen, was der Grenzbeamte glaubte, was als Motiv des Weiterfahrens vorhanden sei.
Der BGH hat ausgeführt, daß jemand, der sich einer Grenze nähert, eine Anhalteverfügung eines Grenzbeamten mißachtet, damit rechnen muß, daß auf ihn geschossen wird. Ja, der BGH hat auch gesagt, daß sogar der Sozius, der ja gar nicht gefahren war, ein solches Verhalten mittragen muß.
Ich fand dies ein bemerkenswertes Urteil mit einer bemerkenswerten Begründung. Wenn ich die Begründung des BGHs auf die Vorfälle an der Berliner Mauer übertrage, dann kommt es nicht mehr darauf an, was der Flüchtling für ein Motiv hatte über die Grenze zu gehen, sondern nur darauf, was sich der Grenzsoldat vorgestellt hat. Auf diesen Punkt haben die Urteile jedoch nicht abgestellt, sie haben vielmehr immer auf das Motiv des Flüchtlings abgestellt, mit der Behauptung, dieser hätte ja nur von seinem Recht auf Ausreise Gebrauch machen wollen. Dies wurde einfach unterstellt; ob nicht noch andere Motive vorhanden waren, wurde nicht gefragt. Und ob damit eventuell auch bei einzelnen Flüchtlingen Umstände vorgelegen haben könnten, die jedem anderen Grenzbeamten auf der Welt das Recht eingeräumt hätten, diese notfalls unter Waffeneinsatz am Grenzübertritt zu hindern, ist damit nicht mehr problematisiert worden.

Frage:

Also ging bei den Prozessen, die die Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze betreffen, in den Köpfen der Richter offensichtlich vor, daß die Grenzsoldaten nur die Vorstellung haben konnten, daß sie eben Flüchtlinge erschießen, die nichts weiter wollten, als von ihrer Freiheit im Westen Gebrauch zu machen?

Mildebrath:

Das glaube ich schon. In der ehemaligen DDR – die Fälle sind ja auch dort untersucht worden, wir haben die Untersuchungsergebnisse zum Teil auch vorliegen gehabt – wurde nicht weiter gefragt, weil schon allein der unberechtigte Grenzübergang, also der Übertritt über die Grenze ohne Paß, ein Straftatbestand war. Weitere Motive wurden zum Teil genannt: es gab etwa Fälle, in denen die Leute nicht zum Militär wollten, obwohl sie schon gemustert waren etc.. Diese Fälle wurden insofern von den Gerichten nicht als beachtenswert angesehen. Wobei auch die Vorstellung des Grenzsoldaten selbst bedauerlicherweise selten niedergelegt wurde. Hätte sich dieser etwa vorgestellt, der Flüchtling wolle Fahnenflucht begehen, wäre dann der Einsatz gerechtfertigt gewesen? Das war für mich eine wesentliche Frage, gerade im Zusammenhang mit dem genannten Urteil des BGHs.
Wobei zusätzlich für mich das Problem auftrat, daß die Leute, die über die Grenze gehen wollten, ja nicht ausreisen wollten, sondern diese Ausreise war ja weit eher eine Auswanderung. Eine Rückkehr war schon wegen der politischen Verhältnisse in der DDR von den wenigsten gewollt. Es ergab sich damit zwangsläufig die Frage, ob es ein Recht auf Auswanderung gibt oder nicht. Für mich, als sogenannten „Westler“, war es interessant die Literatur zu lesen, die nach 1945 bei uns insofern veröffentlicht worden ist. Es gibt z.B. eine ziemlich lange Kommentierung von Carlo Schmidt …

Frage:

… des SPD-Politikers …

Mildebrath:

… der nach meiner Auffassung ja erhaben ist über jede Kritik insofern. Dieser hat erklärt, ein Recht auf Auswanderung gäbe es nicht. Der Staat, die Bundesrepublik Deutschland sei berechtigt gewesen, jungen Leuten keinen Reisepaß zu geben, damit sie nicht auswandern, weil, so sagte er, die Kriegsschuld, die Deutschland auf sich geladen hat, quasi jetzt zumindest in finanzieller Hinsicht ausgeglichen werden muß. Das heißt, die jungen Leute sollten in Deutschland bleiben und hier arbeiten, damit eventuelle Gelder an die anderen Staaten gezahlt werden können. Ein für mich sehr interessanter Ansatz, den ich persönlich bis zu diesem Zeitpunkt des Prozesses überhaupt nicht kannte. Wenn ich diesen Gedanken aufgreife, dann kann man natürlich sagen, jeder Staat ist berechtigt, das Auswandern hier zu reglementieren. Weiterhin ist dann jeder Staat auch berechtigt, einen Reisepaß zu versagen oder ihn zu gewähren.

Frage:

Im Westen wären Menschen, die dennoch hätten auswandern wollen und das entgegen einem Verbot getan oder versucht hätten, wahrscheinlich niemals erschossen worden.

Mildebrath:

So haben Sie natürlich Recht. Ihre Frage ist jedoch falsch gestellt. Sie hätte vielmehr lauten müssen, was hätte ein Grenzbeamter tun dürfen, wenn jemand ohne Reisepaß das Land verlassen wollte und sich einer Anhalteverfügung des Grenzbeamten widersetzt. Nach Auffassung des BGH kommt es ja nur darauf an, was sich der Grenzbeamte vorgestellt hat, da er ja nicht in den Kopf dessen gucken kann, der über die Grenze will. Die Frage hätte also lauten müssen, hätte in einem solchen Fall der Grenzbeamte den Grenzübertritt verhindern dürfen, notfalls unter Schußwaffeneinsatz.

Frage:

Begünstigt der BGH damit aber nicht eine Gedankenhaltung von Grenzbeamten, es bei unberechtigt über eine Grenze gehenden Personen nur noch mit Verbrechern oder was-weiß-ich-was zu tun zu haben?

Mildebrath:

Eventuell; mir ist jedoch wichtig, daß Ausführungen des Bundesgerichtshofes auch auf die Handlungen der ehemaligen Grenzsoldaten der DDR übertragen werden.

Frage:

Könnte sich damit nicht jeder Grenzbeamte oder Grenzsoldat für seine vielleicht objektiv unangemessenen Schüsse subjektiv darauf herausreden, in seiner Vorstellung handelte es sich bei einem Grenzverletzer um einen gesuchten Verbrecher usw.?

Mildebrath:

So einfach ist es wieder nicht. Der BGH stellt natürlich auf das typische Verhalten ab. Er sagt, wer sich auf diese Weise, wie ich das vorhin erklärt habe, einem Grenzbeamten nähert und sich der Aufforderung, zu halten, widersetzt und dann trotz Abgabe eines Warnschusses über die Grenze zu fahren versucht, daraus kann der Grenzbeamte dann einen Rückschluß ziehen.
Aber ich frage mich immer wieder – und das betone ich immer wieder -, hätte man insofern den Grenzsoldaten der DDR nicht dasselbe Recht zubilligen müssen?

Jetzt möchte ich noch ein anderes Argument anführen, warum ich der Meinung bin, daß es doch vielleicht ein politischer Prozeß gewesen ist vor dem Europäischen Gerichtshof. Es hat ja nicht nur Tote gegeben an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, sondern es hat auch Tote gegeben an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei oder der Grenze von Ungarn zu Österreich. Auch hier sind Deutsche ums Leben gekommen. Es ist nicht gegen einen einzigen Grenzsoldaten aus den anderen Ostblockländern oder gegen einen Verantwortlichen dieser Länder hier in Deutschland ein Verfahren eingeleitet worden, obwohl eventuell ein strafbares Tun gegen einen Deutschen vorliegt.

Frage:

Möglicherweise eine Beweisfrage.

Mildebrath:

Keine Beweisfrage, denn die Personen, die in der Verantwortung in ähnlicher Position wie etwa mein Mandant Herr Keßler waren, sind bekannt. Daß von diesen vergleichbare Handlungen festzustellen sind, ist ebenfalls bekannt. Und es ist auch offenkundig, daß es aufgrund dieser Handlungen zu Schüssen an der Grenze gekommen ist und durch diese Schüsse Menschen getötet oder schwer verletzt worden sind. Wäre man konsequent, hätten selbstverständlich hier in Deutschland ebenfalls Ermittlungsverfahren eingeleitet werden müssen.

Frage:

Man kommt womöglich nicht an sie heran.

Mildebrath:

Doch.

Frage:

Der deutsche Staat hat über die tschechoslowakischen, jetzt tschechischen und slowakischen, und ungarischen Bürger nicht die Rechtsbefugnis erlangt, wie er sie z.B. über die ostdeutschen nach der Wiedervereinigung erlangt hat.

Mildebrath:

Darauf kommt es nicht an. Der deutsche Staat hat die Verpflichtung, strafbares Tun gegen Deutsche, wo immer sie begangen werden, zu verfolgen.

Frage:

Aber wie kommt er an ausländische Straftäter im Ausland ran?

Mildebrath:

Die Frage, ob etwa ein Auslieferungsersuchen Erfolg hat oder nicht, ist zweitrangig. Man kann Rechtshilfegesuche etwa über die Vorfälle dem anderen Staat gegenüber stellen. Ich gehe davon aus, daß hier ebenfalls über diese Vorfälle Aufzeichnungen vorliegen.

Frage:

Vielleicht steht aber der ausländische Staat ebenso wie der deutsche auf dem Standpunkt, seine Staatsbürger nicht an einen anderen auszuliefern.

Mildebrath:

Ob man nicht ausliefert, ist eine zweite Frage. Wenn jedoch ein strafbares Tun vorliegen sollte, kann eventuell ein Versuch unternommen werden, daß im ausländischen Staat ein Verfahren gegen dessen Staatsbürger geführt wird etc.. Nach meiner Auffassung ist man jedoch hier auf halbem Wege stehen geblieben, denn es sind insofern gar keine Ermittlungsverfahren geführt worden, was konsequenterweise jedoch hätte geschehen müssen. Mit diesem Gedankengang hat sich der Europäische Gerichtshof nicht auseinandergesetzt. Auch aus diesen Gründen gibt es die Meinung, daß es sich deshalb um politische Prozesse hier in der Bundesrepublik gehandelt hätte.

Frage:

Der Europäische Gerichtshof hat auch daran erinnert, daß in ostdeutschen Gesetzen stand, daß bei der Anwendung der Schußwaffe das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen und Verletzten Erste Hilfe zu leisten ist. Wenn wir die ganzen Todesfälle nehmen, die Gegenstand der Verfahren waren, ist das in keinem Falle geschehen und zumindest vom Fall Peter Fechter angefangen, wurde auch keine Erste Hilfe geleistet.

Mildebrath:

Ja, diese Behauptung habe ich auch so gehört. Dieses wurde jedoch vehement so bestritten. Ich bin insofern auf die Unterlagen angewiesen, die aus der ehemaligen DDR stammen und die Teil der Akten waren. Mir wurde immer erklärt, dem und dem wurde Erste Hilfe geleistet im Rahmen der Möglichkeiten. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Verhandlung und weitere anders lautende Behauptungen nicht. Aber, ich sage „aber“, wenn es tatsächlich so gewesen ist, wie Sie sagen, wäre das mit dem DDR-Recht – und da war tatsächlich, wie Sie sagen, bei der Anwendung der Schußwaffe eine Güterabwägung vorzunehmen – nicht im Einklang gewesen. Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Das wäre so nicht in Ordnung. Ich habe weiterhin die Behauptung gehört, daß die Grenzsoldaten, die geschossen hätten, im Anschluß daran belobigt worden sein sollen. Das war ein Argument, das immer entgegengehalten worden ist.

Frage:

Es wurde ja immer darauf Bezug genommen von den Kritikern der Verfahren, daß z.B. dieser Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den die DDR ratifiziert hatte, nie in innerstaatliches Recht der DDR transformiert worden ist.
Gelten Menschenrechte nicht an sich?

Mildebrath:

Sie müssen wissen, daß sich jeder Bürger eines Staates an Gesetze halten muß. Wenn eine völkerrechtliche Vereinbarung nicht transformiert war, dann war es kein Recht, das in der DDR galt. So einfach ist das, genauso wie es bei uns im Westen war. Eine Diskussion über den Artikel 7 Absatz 1 oder den Artikel 1 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention – hier galt genau dasselbe. Wir haben in der Bundesrepublik ebenfalls internationale Gesetze nicht übernommen, so war es auch in der DDR. Die Frage, was Gesetz ist, ist insofern streng nach strafgesetzlichen Überlegungen zu beurteilen. Das erkennen Sie schon aus dem Grundsatz „Nulla poena sine lege scripta“ – keine Strafe ohne geschriebenes Gesetz. Gesetz wurde es erst, als es transformiert war, d.h. vom Parlament übernommen und entsprechend veröffentlicht wurde. Und das waren diese Vereinbarungen über bürgerliche und politische Rechte innerhalb der ehemaligen DDR nicht. Die Richter hätten einfach sagen können, die ehemalige DDR ist ähnlich zu beurteilen wie das Dritte Reich, alles, was dort geschehen ist, würde gegen den ordre public bzw. gegen Naturrecht oder andere höherrangige Normen verstoßen und sei rechtsunwirksam. Diesen Weg sind die Gerichte nicht gegangen und deshalb mußten sie Gründe finden, um das, was in der DDR passiert ist, eben mit dem Völkerrecht nicht in Einklang zu sehen. Die nächste Frage, nämlich daß die Grenzgesetze nicht nur in der DDR vorhanden waren, sondern daß entsprechende Gesetze ebenfalls in allen Ostblockstaaten vorhanden waren, die unmittelbare Grenzen zum Westen hatten, wurde hierbei außer acht gelassen. Ich weiß, daß entsprechende Gesetze sowohl in der Tschechoslowakei, in Polen oder Ungarn vorhanden waren, vermag weiteres jedoch nicht sicher zu sagen.

Frage:

Zwischen der Vereinbarung völkerrechtlicher Regelungen und der Transformation in innerstaatliches Recht gibt es ja einen Unterschied. Das eine ist die Exekutive, die da tätig ist, das andere die Legislative. Wäre die Exekutive nicht verpflichtet, auf die Legislative Druck auszuüben, damit völkerrechtliche Verträge, die geschlossen werden, auch innerstaatliche Geltung bekommen? Schließlich hängt ja auch die Glaubwürdigkeit eines Staates davon ab, daß die Verträge, der er mit anderen Staaten schließt – bi- oder multilateral – auch in seinem eigenen Staate gelten.

Mildebrath:

Das ist richtig, was Sie sagen, es gibt ja viele Staaten, die das nicht tun. Das ist genau das Problem. Auch bei uns sind völkerrechtliche Vereinbarungen liegen geblieben zum Teil. Das ist auch etwa in den Vereinigten Staaten oder in anderen westlichen Ländern so. Das können wir alle bedauern, aber es ist einfach so.

Frage:

An der Mauer bzw. Grenze ist ja nicht nur geschossen worden, sondern da gab es auch Selbstschußanlagen und Minen. Ist da nicht ein Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sofern ein solcher in der DDR überhaupt existierte, nicht von vornherein sabotiert worden? Hier gab es ja überhaupt keine Möglichkeit mehr, daß Menschen unmittelbar Gewalt darüber hatten, das Leben eines Grenzverletzers nach Möglichkeit zu schonen, wie das im Grenzgesetz gefordert wurde. Wer in derart mit Minen und Selbstschußanlagen geschützte Gebiete reinlief, konnte sich nicht mehr auf einen eventuell gutmütigen Grenzsoldaten verlassen, der gegebenenfalls noch das Leben eines Grenzverletzers zu schonen bereit war.

Mildebrath:

In der Tat muß ich Ihnen einräumen, daß mir die Toten, die durch Minen umgekommen sind, von der rechtlichen Einordnung her sehr große Schwierigkeiten persönlich bereitet haben. Es wurde ja immer darauf hingewiesen, daß um die Minenfelder herum überall Warnschilder aufgestellt waren und es jeder lesen konnte, letztendlich es auch jeder wußte, daß er dort auf Minen laufen konnte, wenn er da hingeht. Und – das ist das nächste Argument – es wurde ja behauptet, und das stimmt auch, daß dieses Grenzgebiet militärisches Sperrgebiet war. Und dieses militärische Sperrgebiet, das es überall auf der Welt gibt, darf besonders gesichert werden. Es ist – man mag das ja für richtig oder falsch empfinden -, aber es ist einfach so, an militärischen Sperrgebieten kann entweder von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden oder man kann diese Sperrgebiete durch besondere Einrichtungen wie etwa Minen schützen. Gleichwohl sind diese Minen für mich immer ein Problem gewesen. Ich hatte ja das Problem insofern bzw. war damit befaßt, daß mein Mandant sich vehement gegen dieses Anbringen der Minen gesträubt hatte.
Letztendlich wurde das Anbringen der Minen aufgrund der Einwände von Herrn Keßler um über ein Jahr verhindert. Dann sind sie doch angebracht worden und – das muß ich auch sagen, sie sind ja – dazu gab es entsprechende Beschlüsse – noch zu einer Zeit abgebaut worden, als z.B. Herr Keßler noch Verantwortung trug. Ich glaube schon, daß man gesehen hat, daß es problematisch war. Die Minen sind, ich glaube noch unter der Führung von Herrn Krenz abgebaut worden. Ich weiß nicht, ob alle abgebaut waren, möchte jedoch darauf hinweisen, daß die Verantwortlichen selber seiner Zeit sich offensichtlich mit dem Problem kritisch auseinandergesetzt haben. Gleichwohl bleibt mit Bedauern festzustellen, daß eben doch durch die Minen tatsächlich Menschen ums Leben gekommen sind.

Frage:

Sind die Minen nicht eher durch eine Finanzspritze von Franz-Josef Strauß im Rücken abgebaut worden?

Mildebrath:

Das kann ich so nicht sagen. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen sie abgebaut wurden. Es wäre letztendlich nach meiner Auffassung auch egal, wenn man etwas macht und sieht nachher ein, daß es nicht das Richtige war, dann zu einer anderen Einsicht kommt. Das Ergebnis ist ja vernünftig. Für mich war das nächste Problem – das sage ich Ihnen auch ganz ehrlich -, daß Verminungen normalerweise immer gegen einen angeblichen Feind gerichtet waren, hier waren aber die Minenfelder nach innen gerichtet, innerhalb der ehemaligen DDR. Also man wußte oder rechnete damit, daß Leute über die Grenze gehen wollten aus der ehemaligen DDR und daß diese damit verletzt oder sogar getötet werden konnten, wie es ja bedauerlicherweise vorgekommen ist.

Frage:

Ich möchte nochmals auf die Ermittlungsverfahren zurückkommen, die noch zu DDR-Zeiten gegen Honecker u.a. eingeleitet worden sind. Warum hätten DDR-Richter DDR-Staatsanwälten, die damals die Ermittlungen eingeleitet hatten, nachstehen sollen und Honecker u.a. etwa nicht verurteilen wollen?

Mildebrath:

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Normalerweise, wenn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, besteht ja ein Verdacht, sonst wird ja so etwas nicht eingeleitet. Ich kann nicht sagen, was in der ehemaligen DDR passiert wäre, wenn die Verfahren angefangen oder schon durchgeführt worden wären. Da bin ich auch überfragt. Aber es wäre nach meiner Auffassung zu keiner Verurteilung der Grenzsoldaten gekommen. Das glaube ich. Ob man gesagt hätte, die politisch Verantwortlichen haben letztendlich auch die Verantwortung insofern zu tragen und ob man dem stattgegeben hätte, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich glaube, daß man den Grenzsoldaten tatsächlich strafbares Tun insofern nicht unterstellt hätte.

Frage:

Wäre wenigstens zu erwarten gewesen, daß diejenigen in der DDR verurteilt worden wären, die sogenannte Exzeßtaten begangen, also Flüchtlinge erschossen haben, die sich bereits ergeben hatten oder sonst fluchtunfähig waren?

Mildebrath:

Wir haben ja das nächste Problem, und das ist das Problem der Verjährung. Auch in der DDR gab es ja Verjährungsvorschriften. Wir haben uns ja hier zum Teil mit Fällen auseinandergesetzt, die ganz lange zurückliegen. Und wie schwierig es ist, dann wieder Zeugen zu finden, die sich noch erinnern, wie es damals abgelaufen ist, wissen wir beide. Wir wissen ja, wie kurz Gedächtnisse sind. Und deswegen sind diese Fälle natürlich problematisch. Ich kann daher Ihre Frage nicht beantworten, was innerhalb der ehemaligen DDR geschehen wäre, wenn die Verfahren dort von Richtern und Staatsanwälten aus der ehemaligen DDR betrieben worden wären.

Interview: Dietmar Jochum, 11. Juni 2002

Foto: Heinz Keßler

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