Rede von Außenminister Gabriel beim Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung.

Europa in einer unbequemeren Welt.

Berlin am 05.12.2017.

–es gilt das gesprochene Wort –

Die TP Presseagentur dokumentiert die Rede:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Europa entwickelt sich in einer zunehmend unbequemeren Welt. Der liberale Intellektuelle Ralf Dahrendorf hat einmal einen fast schon vernichtenden Satz über Europa gesagt: „Europa hat keine Gestaltungsmacht – jedenfalls hat es kein europäisches Interesse, das diese Gestaltungsmacht formieren könnte.“

Es war das Jahr 2000, als Dahrendorf dies in einem Interview sagte. Der Satz ist aus heutiger Sicht etwas erklärungsbedürftig. Kurz gefasst würde ich sagen: Dahrendorf wollte warnen, in der Außenpolitik nicht zu viel von Europa zu erwarten.

Sein Befund war eigentlich nicht überraschend, denn Europa ist nach innen und nicht als weltpolitischer Akteur gegründet worden. Es sollte nach den verheerenden zwei Weltkriegen Frieden im Inneren sichern und Wohlstand schaffen.

Das Wirken nach Außen blieb den europäischen Mitgliedern des Weltsicherheitsrats Großbritannien und Frankreich vorbehalten.

Deutsche Außenpolitik war Teil des transatlantischen Bündnisses mit den USA und seinen Westalliierten und beschränkte sich lange Zeit auf die deutsche Frage und Ostpolitik.

Auch unsere Beteiligung an der Konfliktbewältigung oder -eindämmung im ehemaligen Jugoslawien und in Afghanistan war letztlich Teil einer transatlantischen Außenpolitik, und nur das Nein des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Teilnahme am Irakkrieg 2003 bildete davon eine spektakuläre Ausnahme.

Auch nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ging es mit dieser nach innen gerichteten europäischen Konzeption weiter und aufwärts mit Europa: Der Euro war beschlossene Sache, die massive Erweiterung nach Osten wurde vorbereitet, und schon begann eine anspruchsvolle Debatte über die Finalität Europas.

Damals schien die Welt auch sonst ziemlich in Ordnung. Die Globalisierung schritt voran, die USA steuerten als Sieger des Kalten Kriegs auf ihren unipolaren Moment zu, Osama Bin Laden war uns allen unbekannt.

Aber die Welt ist seitdem weit unbequemer geworden als wir am Ende des letzten Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dachten. Und nun merken wir, dass es selbst bei großer wirtschaftlicher Prosperität in unserem Land keinen bequemen Platz an der Seitenlinie internationaler Politik mehr für uns gibt.

Weder für uns Deutsche noch für uns Europäer.

Wir müssen einsehen: Entweder wir versuchen selbst in dieser Welt zu gestalten oder wir werden vom Rest der Welt gestaltet.

Werteorientierung, wie sie gern von uns Deutschen für unsere Außenpolitik in Anspruch genommen wird, wird allein jedenfalls nicht ausreichen, um sich in dieser von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Egoismen geprägten Welt zu behaupten.

Dahrendorf wies in seiner unbarmherzigen Art also auf ein Problem hin, dessen Tragweite erst jetzt so richtig klar wird: Die EU ist kein echter Faktor in der Welt.

Sie kann nicht gestalten, solange sie ihre eigenen, „europäischen Interessen“ nicht klar definiert hat – und ohne diese Definition der eigenen Interessen hapert es eben auch an der Machtentfaltung.

Heute, nach der Verfassungskrise, nach der Eurokrise und nach der Migrationskrise sind wir um viele Erfahrungen reicher als Dahrendorf damals, nicht nur mit Blick auf die EU: Der internationale Terrorismus hat die Weltpolitik geprägt, die Globalisierung ist in die Krise geraten, und auch die globale Dominanz der USA wird langsam Geschichte.

Dahrendorfs Diktum hat aber deshalb dennoch nicht an Relevanz verloren, im Gegenteil. In der sich so verändernden Weltordnung ist es umso dringender, dass Europa sich auf seine Interessen besinnt und sich Gestaltungsmacht erarbeitet.

Das fällt der EU nicht in den Schoß, sondern muss hart erarbeitet werden. Warum das sein muss und wie es gehen kann, darüber möchte ich heute reden.

Beginnen wir mit einer Analyse der wichtigsten Veränderungen, denen unsere westliche Welt, aber auch die Welt insgesamt, unterworfen ist. Der derzeitige Rückzug der USA unter Trump aus der Rolle des verlässlichen Garanten des westlich geprägten Multilateralismus beschleunigt die Veränderung der globalen Ordnung und hat unmittelbare Konsequenzen für die deutsche und europäische Interessenwahrnehmung.

War Europa seit der berühmten 12 Minuten Rede von George Marshall vor rund 70 Jahren auch ein amerikanisches Projekt im wohlverstandenen Eigeninteresse der Vereinigten Staaten, so gibt es im Umfeld der heutigen US-Administration eine außerordentlich distanzierte Wahrnehmung Europas: Als Wettbewerber und manchmal sogar als mindestens ökonomische Gegner, nimmt man bisherige Partner dort wahr.

Europa ist deshalb eine Region unter vielen anderen  in dieser neuen Sichtweise der US-Administration, die auf die Gesellschaft ausstrahlt. Zudem verändert sich die US Gesellschaft rapide. In absehbarer Zukunft wird die Mehrheit der US-Amerikaner keine europäischen, sondern lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Wurzeln haben. Deshalb wird das Verhältnis der USA zu Europa auch nach Donald Trump im Weißen Haus nicht mehr das gleiche werden, was es einmal war.

Lange hat der zunehmende Takt von Krisen rund um den Globus vor allem Staunen und Erschrecken erweckt. Mittlerweile lassen sich Muster erkennen, die für ein weltweit engagiertes Europa Besorgnis erregend sind. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien gliedern:

Der Zerfall von Staaten in unserer Nachbarschaft führt zu drastischer Zunahme von Konflikten. Sie sind grenzüberschreitend und destabilisieren ganze Regionen.

Gleichzeitig sorgt das offensive Agieren aufstrebender Staaten wie China, Russland, der Türkei und Iran dafür, dass die globale Ordnung, aber auch regionale Machtgefüge ins Rutschen geraten.

Verschärft wird dieser Prozess durch Gegenbewegungen zu den Trends der Globalisierung und Demokratisierung, die lange dominierten. Bewährte Prinzipien und Grundlagen der internationalen Beziehungen wie der Multilateralismus, das Völkerrecht und die universelle Gültigkeit von Menschenrechten werden in Frage gestellt – von manchen durchaus unbekümmert, von anderen eher unverfroren. So werden die Grundlagen von Sicherheit und Wohlstand in Frage gestellt, das Risiko von Handelskriegen, Rüstungswettläufen und bewaffneten Konflikten wächst. Die demografische Diskrepanz zwischen dem schrumpfenden Norden und dem wachsenden Süden sowie die Folgen des Klimawandels greifen immer mehr Raum und Aufmerksamkeit. Die Migrations- und Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre nehmen einen größeren Platz im Kalkül der westlichen Staaten ein, sie sind gewissermaßen gerade erst in ihrem Bewusstsein angekommen.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Methoden und Strukturen der internationalen Politik: Das in der UN-Charta und in zahlreichen Verträgen kodifizierte Völkerrecht befindet sich in der Krise. Mit der Annexion der Krim hat Russland die territoriale Souveränität der Ukraine und das Gewaltverbot der VN-Charta verletzt. Das Pariser Klimaabkommen leidet unter der Absage der USA, ebenso steckt die multilaterale Ordnung des internationalen Handels in der Kritik.

Und noch gefährlicher: Die einstigen Atommächte haben nicht verhindern können, dass immer mehr Staaten über Atomwaffen verfügen – oder dies anstreben.

All das passiert nicht nur in weiter Ferne, sondern ganz in unserer Nähe. Die Entscheidung der Briten für den Ausstieg aus der EU und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben uns verdeutlicht, dass nicht nur die böse Welt da draußen sich ändert, sondern dass auch wir mitten in Umwälzungen stecken, deren Konsequenzen uns noch auf Jahrzehnte beschäftigen dürften.

„Globale Herausforderungen erfordern globale Lösungen“ – das war das Mantra der Nullerjahre, als der Transnationalismus seinen Höhenflug erlebte. Und heute?

„Take Back Control“ und „Make America Great Again“ sind die Schlachtrufe unserer Zeit.

Back und Again, die Worte sagen es: Es geht um die Restauration einer vermeintlich guten alten Zeit. Wir sehen eine Rückbesinnung auf Grenzen und die vermeintliche Stärke des Nationalstaats.

Diese Sehnsucht auf der internationalen Ebene findet sich auch innerhalb unserer Gesellschaften. Dort wird für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich oft pauschal die Globalisierung verantwortlich gemacht und der „wohlige“ Nationalstaat als Heilmittel angepriesen.

Nach Jahrzehnten des „Anything Goes“, wenn ich das einmal als den Wahlspruch der Postmoderne apostrophiere, greift eine Sehnsucht nach Ordnung, nach Klarheit, nach Hierarchie und Kontrolle Raum.

Vielfalt und Individualität, Gleichstellung und Inklusion werden von den Vertretern  populistischer Parteien als Ausdruck übertriebener „politischer Korrektheit“ diffamiert und in Frage gestellt – die Wirkung dieser Kampfansagen reicht bis tief ins bürgerliche Spektrum, auch bei uns in Europa und in Deutschland.

Die liberalen Eliten der westlichen Demokratien laufen Gefahr, in ihren oft selbstbezogenen Diskursen dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung zu unterschätzen.

Man möchte angesichts dieses Anti-Postmodernismus nicht nur den sozialdemokratischen Bewegungen in den entwickelten demokratischen Gesellschaften mehr Materialismus und weniger postmodernen Idealismus empfehlen.

Vor allem aber haben die innergesellschaftlichen Debatten in Amerika und Europa zur Folge, dass wir anders auf die Welt schauen – und die Welt anders auf uns schaut.

Wir können sicher sein, dass rund um den Globus, nicht nur in Peking, Moskau und Teheran, sehr sorgfältig analysiert wird, wie stark und entschlossen der Westen in der Verteidigung seiner Werte und Interessen ist.

Welche neue Ordnung diese Welt finden wird, ist noch nicht zu erkennen. Vieles ist im Fluss, und auch die meisten Akteure tasten sich, um eine chinesische Redensart zu bemühen, in diesem Fluss von Stein zu Stein.

Ich halte drei Möglichkeiten für ein neues globales System für denkbar.

Zuerst die G-Null-Welt: Das ist eine Welt, in der die Macht so breit neu verteilt wird, dass keine Führungsrolle mehr eindeutig vergeben ist. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ian Bremmer hat sie so beschrieben: „Kein Staat oder keine Gruppe von Staaten besitzt einen ausreichend großen politischen und wirtschaftlichen Hebel oder Willen, eine wahrhaft globale Agenda zu erstellen.“ Man könnte das auch eine Art Westfälische Ordnung 2.0 nennen, eine Neuauflage des Ringens souveräner Staaten um „Hegemonie und Gleichgewicht“, wie sie die Zeit vom Ende des 30jährigen Kriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt hat. Für eine Handels- und Mittelmacht wie Deutschland ist ein solches freies Spiel der Kräfte brandgefährlich. Der Schritt in die Regellosigkeit mag manchen gewissermaßen als die Fortsetzung der Individualisierung in den internationalen Beziehungen erscheinen. In Wahrheit würde das die Grundlagen unserer Sicherheit und unseres Wohlstands gefährden.

Die zweite Alternative ist die G-Zwei-Welt: Diese wäre eine Art neuer bipolarer Ordnung, die durch den Wettstreit zweier Supermächte geprägt würde. An die Stelle der Sowjetunion des Kalten Krieges träte das aufstrebende China. Das Land stützt sich dabei auf sein aus der Geschichte abgeleitetes Selbstverständnis als Reich der Mitte. Es sieht sich angesichts der Turbulenzen in den USA und Europa bestätigt, das eigene Modell für überlegen zu halten. Angesichts der großen Wohlstandsversprechen des chinesischen Modells bin ich nicht überrascht, dass sich viele Staaten auf China ausrichten.

Die dritte Alternative ist die G-X-Welt: Auch diese Welt hätte viele Pole, es wären weniger als die G20, die wir kennen, und sicherlich andere als die G7. Der entscheidende Unterschied zur „G-Null-Welt“ wäre die Existenz verbindlicher Regeln und Strukturen, die das Zusammenwirken der Pole eben nicht der jeweiligen Machtbalance und der Kunstfertigkeiten der Metternichs und Palmerstons des 21. Jahrhunderts zu verdanken hätte. „Mehrpoligkeit“ bei gleichzeitiger Ordnungsverbindlichkeit ist das Markenzeichen dieses Systems.

Es wird Sie nicht überraschen, dass die dritte Option meine bevorzugte wäre. Ob sie eine Chance hat oder nicht, hängt auch vom Selbstverständnis und Beitrag der EU ab.

Egal, in welche Richtung sich die Welt entwickelt: Nur wenn die EU ihre eigenen Interessen definiert und ihre Macht projiziert, kann sie überleben.

Die heute noch fehlende Machtprojektion der Europäischen Union hat jedenfalls dazu geführt, dass überall dort, wo sich die USA tatsächlich oder scheinbar zurückgezogen haben, keine Hinwendung zu Europa erfolgt ist, sondern zu anderen Staaten, von denen operationalisierte Macht weit eher erwartet wird: im Nahen Osten z.B. zu Russland und in Afrika zu China.

Wir erleben eben, dass die Konkurrenz nicht schläft. Vor zwei Wochen hat der russische Präsident in Sotschi Hof gehalten. Einmal war der syrische Präsident da, dann der türkische und der iranische. Man feierte den Sieg in Syrien, den die Anwesenden gesichert glaubten. Eine deutsche Zeitung schrieb dazu: „Schwarze Seelen am Schwarzen Meer.“

Die in Sotschi versammelten Großmächte sind keine Freunde, aber sie haben einiges gemeinsam. Sie berufen sich nach Innen und nach Außen auf ihre historische Größe. Und das ist das entscheidende, was sie von uns unterscheidet: Sie setzen einiges Kapital dafür ein, es dem Westen gelegentlich zu zeigen.

Man könnte sagen, sie sind bereit, eine Art „Großmachtsteuer“ für ihren Status zu entrichten. Wirtschaftliche Einbußen, diplomatische Ächtungen, finanzielle Bestrafungen – vieles wird von ihnen in Kauf genommen, um den regionalen Führungsanspruch und die nationale Souveränität zu dokumentieren.

Das sehen wir an dem Vorgehen Russlands gegenüber der Ukraine. Iran steckt beachtliche Ressourcen in die Unterstützung teilweise terroristischer Milizen in der gesamten Region, um Nachbarstaaten zu kontrollieren, oder anderen die Kontrolle schwer zu machen. Und die Türkei scheut nicht vor Militäreinsätzen und vor Konfrontationen mit den USA zurück, um ihre Interessen gegenüber kurdischen Nationalbestrebungen zu verteidigen.

Syrien ist insofern der bisherige Höhepunkt des Vormarschs der drei alten Imperien. Das müssen wir übrigens durchaus selbstkritisch betrachten. Der Westen hat in den vergangenen sieben Jahren zu keiner Zeit eine vernünftige Relation seiner sehr ambitionierten Forderungen und der dafür eingesetzten Ressourcen zustande bekommen.

Theodore Roosevelt hat einmal gesagt: “Speak softly and carry a big stick.” Unsere Syrienpolitik verfuhr eher nach dem gegenteiligen Motto: „Sprich laut, aber trage einen kleinen Knüppel.“

Das Beispiel des Mittleren Ostens ist naheliegend, um meine Vorstellungen von einer europäischen Interessendefinition und -durchsetzung zu illustrieren. Der regionale Ordnungsrahmen dort war seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend durch die USA vorgegeben. Im Jahr 2017 schauen wir auf eine geschwächte Ordnungsprojektion und Gestaltungskraft der USA, die in Nah-Mittelost nur noch eingeschränkt staatlichen Zerfallstendenzen entgegenwirken wollen und können. Ob dies durch bewussten Rückzug oder durch fehlende Kraft verursacht wird, ist letztlich unerheblich. Entscheidend ist aber, dass die USA kein Vakuum zurücklassen, selbst wenn sie den Raum verlassen. Denn jedes Vakuum wird in der Politik schnell gefüllt. Immer, wenn jemand den Raum verlässt, tritt jemand neues herein.

In diesem Fall durch Russland. Die russische Militärintervention im Jahr 2015 hat die Dynamik des syrischen Bürgerkriegs Schritt für Schritt gedreht. Sie hat das Assad-Regime militärisch stabilisiert.

Wir erleben gerade ein Russland, das die politische Zukunft Syriens in entscheidender Weise bestimmen wird, weil es andere nicht getan haben. Russland hat dazu aber auch die regionale Balance verändert. Praktisch alle regionalen Akteure richten ihre Politik neu aus.

Diese neue regionale Dominanz Russlands befördert zugleich Entwicklungen auf einer zweiten Ebene. Sie schafft Raum für Akteure, die regionale Hegemonie anstreben oder in Teilen realisieren.

Wie gehen wir damit um, dass die USA in unmittelbarer Nachbarschaft Europas Akteuren Raum lassen, die andere Wert- und Ordnungsvorstellungen verfolgen, als wir sie entwickelt haben? Und wie können wir deutsche und europäische Interessen zur Geltung bringen?

Es geht dabei um Fragen, die weit über den regionalen Zusammenhang des Nahen und Mittleren Ostens hinausgehen.

Ähnliche Rückzugs- und Verdrängungsmuster wie im Nahen Osten können wir auch in anderen Teilen der Welt feststellen. Wir müssen nur nach Asien schauen. Dort dringt China in Räume ein, die zuvor ebenso exklusiv durch die Präsenz und Politik der USA bestimmt waren.

Die One-Belt-One-Road-Initiative, die „neue Seidenstraße“, ist eben keine historische Handelsreminiszenz an Marco Polo, sondern letztlich eine geostrategische Idee, in der China seine Ordnungsvorstellungen durchsetzt. Handelspolitisch, geographisch, geopolitisch und letztlich womöglich auch militärisch.

Man kann heute wohl sagen, dass China das einzige Land der Welt ist, das überhaupt eine langfristige geostrategische Idee hat.

Das ist China nicht vorzuwerfen, im Gegenteil. Es löst bei mir jedenfalls Respekt und Bewunderung aus, wie schnell und durchsetzungsfähig sich dieses Land in den letzten 30 bis 40 Jahren entwickelt hat.

Aber es ist uns im „alten Westen“ durchaus vorzuwerfen, dass wir keine vergleichbare eigene Strategie haben.

Denn erst wenn beides vorliegt – die Definition chinesischer und europäischer Interessen – und besser noch: die amerikanisch-europäischen Interessen – kann daraus eine tragfähige Balance beider Seiten entstehen.

Das ist auch unser zentrales Argument gegenüber den USA: In der Politik gibt es eben nie ein Vakuum, sondern es wird immer schnell gefüllt.

Deshalb sollte es im wohlverstandenen Eigeninteresse der USA liegen, keinen Handelskrieg mit Europa zu beginnen, sondern gemeinsame Strategien zum Erhalt der „liberal order“ und eines auf den Grundlagen von Freiheit, Fairness, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit basierenden Welthandelssystems zu entwickeln.

Warum schildere ich diese Beispiele so ausführlich? Weil sie zeigen, wie schwierig es für uns Deutsche sein wird, ein strategisches Verhältnis zur Außenpolitik zu finden.

Herfried Münkler hat dieser Tage ein interessantes Buch zum Dreißigjährigen Krieg vorgelegt. Er geht darin scharf mit der außenpolitischen Klasse in Deutschland ins Gericht. Er beklagt eine deutsche „Fixierung auf das Recht als Bewältigungsform politischer Herausforderungen“, die fast einer Realitätsverweigerung gleich komme.

Man traue sich nicht, schonungslos zu analysieren, was wirklich passiere. Stattdessen, so Münkler, schweife der Blick stets zum „Horizont moralischer Normen und Imperative“. Was fehle sei „politisch-strategisches Denken“.

Ich finde, Münkler legt hier den Finger in die Wunde. Man muss aber auch daran erinnern, dass die Zeit, in der Deutschland sich strategische Ideen hat einfallen lassen, recht ungemütlich war für die anderen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Um beim Beispiel Syrien zu bleiben – es ist gut und richtig, dass wir auf einen politischen Prozess für eine wirklich nachhaltige Befriedung pochen, dass wir uns mit Hilfe der Instrumente des internationalen Systems für die essentielle humanitäre Hilfe und völkerrechtliche Prinzipien einsetzen. Das steht muss auch weiter außer Frage stehen.

Dennoch: Nach fast sieben Jahren Krieg können wir nicht die Augen davor verschließen, dass andere Akteure währenddessen am Boden Fakten geschaffen haben – oftmals jenseits aller etablierten Normen, im Widerspruch zu unserer Moral, aber leider mit einer hohen Effektivität.

Was also ist zu tun?

Wir müssen diese Lage zuerst einmal nüchtern analysieren. Wir brauchen einen klaren und realistischen Blick auf die Welt – wie sie eben ist. Und nicht nur eine Vision, wie sie eigentlich sein sollte.

Auf dieser Basis und mit einem klaren Wertekompass sollten wir dann beherzt für das kämpfen, was wir bewahren und was wir erreichen wollen. Und zwar ohne überdimensionierte moralische oder normative Scheuklappen – und mit der Bereitschaft zur, wie Münkler schreibt, „strategischen Kompromissbildung“.

Dazu gehört es zum einen, ein strategisches Verhältnis Europas zu den USA zu finden. Seit dem Zweiten Weltkrieg standen die USA aus deutscher Sicht gewissermaßen über den Dingen.

Doch spätestens seit dem Artikel der beiden Chefberater des US-Präsidenten MacMaster und Cohn im „Wall Street Journal“ ist klar, dass die Welt für die USA nicht länger eine „globale Gemeinschaft ist, sondern eine Arena, eine Kampfbahn, in der Nationen, nichtstaatliche Akteure und Unternehmen um Vorteile ringen“. In der man also mal den einen, mal den anderen als Partner hat, wenn das den eigenen Interessen dient.

Und die USA, so verstehe ich es, sind in dieser Lesart nicht mehr für die Statik und das Gewölbe dieser Arena zuständig, sondern sind eher Kombattanten auf dem Sandplatz.

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die US-amerikanische Rolle – trotz gelegentlichen Zwistes – als behütend gesehen haben, beginnt also längst zu bröckeln.

Die USA werden unser wichtigster globaler Partner bleiben. Es gibt keinen Zweifel: wir werden diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen und pflegen. Diese Partnerschaft wird aber allein nicht ausreichen, um unsere strategischen Interessen zu wahren.

Der US-Rückzug geht nicht auf die Politik eines einzelnen Präsidenten zurück. Er wird sich auch nach der nächsten Wahl nicht grundlegend ändern.

Es darf deshalb auch kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland und Europa angesichts dieser Lage viel mehr tun und wagen müssen als bisher.

Um es ganz offen zu sagen: Es geht um ein Risiko, das uns zum Handeln zwingt. Wir dürfen nicht zusehen, wie sich neue Räume entwickeln, auf die wir keinen Einfluss ausüben.

Wir müssen handeln, auch wenn jedes aktive Vorgehen ein Risiko in sich birgt – das Risiko des Scheiterns. Dieses Risiko können wir uns nicht ersparen. In der Vergangenheit haben wir es den USA überlassen und wenn es schiefging, hatten wir dann jemanden, auf den wir mit dem Finger zeigen konnten.

Deutschland muss mehr in die eigene Stärke und die Einigkeit und Kraft der EU investieren. Es ist übrigens kaum zu ertragen, in welcher Art und Weise sich in Deutschland die berühmte Nettozahlerdiskussion verfestigt hat. Dabei sind wir in Wahrheit Nettogewinner. Ja, wir bringen mehr Steuern aus Brüssel nach Europa, als wir Förderprogramme bekommen, aber in Wahrheit gewinnt unsere Ökonomie nur durch den europäischen Raum.

In die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten werden wir ebenfalls zukünftig mehr investieren müssen. Es geht dabei auch um eine politische Investition, die den Umgang mit der neuen Lage mit einem strategischen Anker versieht.

Vor diesem Hintergrund müssen wir andererseits auch kühler analysieren, wo wir plötzlich, oder möglicherweise auf Dauer, mit den USA über Kreuz liegen.

Ich will Ihnen drei Beispiele nennen: Die Russland-Sanktionen, die der Kongress im Sommer beschloss, umfassen Tatbestände, die selbst existierende deutsche Pipelines aus Russland betreffen. Diese Sanktionen gefährden unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen existentiell.

Das zweite Beispiel: Eine Auflösung des Atomdeals mit Iran würde die Kriegsgefahr in unserer unmittelbaren Nachbarschaft erhöhen und damit unsere nationale Sicherheit berühren und gefährden.

Und das dritte Beispiel: Es gibt Hinweise, dass die USA in den kommenden Tagen Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen könnten, übrigens ohne, dass sie dazu eine Abstimmung mit Europa vornehmen würden. Wir alle wissen, welche weitreichenden Konsequenzen ein solcher Schritt haben würde. Deutschlands Position zu dieser Frage jedenfalls bleibt unverändert: Eine Lösung der Jerusalemproblematik kann nur durch direkte Verhandlungen zwischen beiden Parteien gefunden werden. Alles, was die Krise verschärft, ist kontraproduktiv.

In allen Fällen kann Deutschland es sich nicht leisten, auf Entscheidungen in Washington zu warten oder bloß darauf zu reagieren. Wir müssen selbst unsere Positionen beschreiben und notfalls, übrigens auch gegenüber unseren Verbündeten, klarmachen, wo Grenzen unserer Solidarität erreicht sind.

Das fällt uns allen nicht leicht, es ist neu. Deshalb müssen wir als Grundvoraussetzung massiv in unsere Fähigkeiten zur Analyse und Lobby der amerikanischen Meinungsbildung mit Bezug auf Deutschland und Europa investieren.

Wir sollten daher alle Kraft darauf verwenden, konstruktive Partner in Administration, Kongress, den Bundesstaaten und vor allem der Zivilgesellschaft noch gezielter als bisher anzusprechen. Und auf dieser Grundlage müssen wir bereit sein, einen strategischen Interessenausgleich unter Partnern zu betreiben und nicht eine Unterwerfung unter amerikanische Politik, wie wir sie in der Vergangenheit ja noch nie erlebt haben.

Zum anderen müssen wir unsere Interessen aber natürlich auch gegenüber Russland klarer und kohärenter definieren. Moskau hat die internationale Ordnung mit der Annexion der Krim und der Einmischung in der Ostukraine in Frage gestellt.

Dennoch bleibt es Europas Nachbar, und zwar ein sehr einflussreicher, wie ich eben am Beispiel Syriens geschildert habe. Sicherheit und Stabilität gibt es langfristig nur mit und nicht gegen Russland.

Mehr noch: wenn wir die Gefahr einer weltweiten Verbreitung atomarer Waffenarsenale vor uns sehen, dann wird es nur in der Kooperation zwischen den USA, Russland und inzwischen auch China gelingen können, dem Einhalt zu gebieten.

Derzeit aber ist das Vertrauen insbesondere zwischen Russland und den USA bzw. der NATO so grundlegend gestört, dass beide Seiten sogar dabei sind, selbst die Erfolge in der atomaren Abrüstungspolitik der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts infrage zu stellen.

Noch gilt das 1987 vereinbarte Verbot zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen an Land in Europa. Die Frage ist, wie lange noch?

Mein Eindruck: wir könnten unmittelbar vor der Gefahr eines erneuten, auch nuklearen Wettrüstens mitten in Europa stehen.

Niemand hat mehr Grund, seine Interessen klar und mit aller zur Verfügung stehenden Macht einzubringen, als Deutschland. Denn wir wären im Zweifel die Leidtragenden eines „Kalten Krieges 2.0“.

Unser Land muss gerade jetzt erneut für Rüstungskontrolle und Abrüstung seine Stimme erheben.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Frage, ob wir Russland für die Rückkehr zu einer regelgestützten Ordnung gewinnen können, die in Europe so lange den Frieden gesichert hat. Dafür brauchen wir einerseits klare Prinzipien und einen festen Standpunkt, wo internationale Prinzipien verletzt werden. Das schließt auch die Bereitschaft zu konkreten Maßnahmen wie Sanktionen ein.

Andererseits ist es gerade unsere deutsche Rolle, Dialogkanäle zu erhalten und das Gespräch auch in schwierigen Zeiten zu suchen.

Es wäre z.B. ein großer Fortschritt, wenn wir uns mit Russland auf eine tragfähige Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen verständigen könnten, um endlich in der Ostukraine einen dauerhaften Waffenstillstand und den Rückzug schwerer Waffen durchzusetzen. Alle Seiten haben das seit Jahren versprochen – und dieses Versprechen immer wieder täglich gebrochen.

Noch sind die Vorstellungen, wie eine solche Mission aussehen soll, zwischen uns und unseren Alliierten und Russland außerordentlich unterschiedlich. Aber dass Russland dazu überhaupt bereit ist, bedeutet einen großen Fortschritt, denn bislang ist eine solche Internationalisierung des Konflikts und der Befriedung dort immer abgelehnt worden.

Und das Angebot an Russland ist auch klar: Nach der Durchsetzung eines dauerhaften Waffenstillstand können wir Europäer helfen, den Donbass wieder aufzubauen und auch erste Schritte für den Abbau von Sanktionen auf den Weg bringen.

Das wäre zwar noch keine endgültige Lösung des Konflikts in der Ukraine und bei weitem noch keine Erfüllung der Minsker-Vereinbarung, aber ein Durchbruch wäre es in jedem Fall. Und ein großer Schritt hin zu einer neuen Entspannungspolitik mit Russland.

Klar ist: Es kann heute keine deutsche Ostpolitik mehr geben, es muss zwingend eine europäische Ostpolitik sein. Wir können erfolgreiche Ostpolitik nur gestalten, wenn unsere neuen NATO- und EU-Partner in Mittel- und Osteuropa mit an Bord sind.

Mit ihren ganz spezifischen historischen Erfahrungen, die andere sind als unsere. Aber gerade wir Deutschen haben an dieser Entspannung nach wie vor ein existentielles Interesse.

Angesichts dieser Aufgaben ist unser Verständnis für die notwendige Aufgabenstellung der EU beinahe furchterregend zu nennen. Wir gehen mit der Europäischen Union um, als hätten wir noch eine zweite auf Lager.

Da wird auf andere gezeigt, da wird offen gedroht, da gibt es Blockaden, Kampfabstimmungen, und nicht zuletzt giftige Klischees.

Eugen Roth hat einmal gesagt „Zu fällen einen schönen Baum, braucht’s eine halbe Stunde kaum. Zu wachsen, bis man ihn bewundert, braucht er, bedenk‘ es, ein Jahrhundert.“

Die Spannungen zwischen den Regierungen in der EU haben zugenommen. Und indem die Regierungen das Übel in den Verhandlungen in Brüssel sehen, machen sie es manchen Medien leicht, immer neue Frontstellungen zu entdecken: Der Süden gegen den Norden, der Westen gegen den Osten.

Vielleicht liegt es daran, dass wir im Sinne Dahrendorfs unsere gemeinsamen Interessen immer noch nicht verstanden haben.

Die EU ist eben nicht gegründet worden, um diese Interessen nach Außen als etwas Verbindendes zu entdecken. Tragischer Weise scheint die EU ausgerechnet in dieser Phase, in der die Weltlage sie zu mehr Aktion im Äußeren nötigt, das innere Versöhnungsprojekt langsam verschleißen zu lassen.

Deswegen sage ich: Wir brauchen zuallererst eine Schubumkehr, wenn wir nicht in einigen Jahren vor den Trümmern der EU stehen wollen – und damit übrigens hilflos in der Welt. Es ist eben ein Fehler zu glauben, die EU beinhalte den Verlust nationaler Souveränität. Diese Form der nationalen Souveränität gibt es in der Welt von heute und morgen nicht – wir erringen sie zurück über den Umweg der EU. Die Europäische Union ist ein Souveränitätsgewinn für ihre Mitgliedsstaaten und nicht ein Souveränitätsverlust.

Gerade in der Außenpolitik muss die Europäische Union über sich hinauswachsen. In der unruhigen Welt von heute können wir Europäer uns nur im Zusammenschluss behaupten.

Machen wir uns nichts vor: Die Welt sieht Europa als reich, aber schwach an. Das verlockt zu Interventionen und Manipulationen.

Daher muss die EU die Verteidigung unserer offenen Gesellschaften und das Zusammenwachsen unserer Völker und Ökonomien gemeinsam bewerkstelligen.

Erste Schritte haben wir unternommen: die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung, den gemeinsamen europäischen Grenzschutz.

Weitere Schritte müssen folgen. Ich denke an die Heilung des oft zitierten Geburtsfehlers der Wirtschafts- und Währungsunion: eine Währung, 19 Wirtschafts- und Finanzpolitiken.

Die weitreichendsten Vorschläge dazu kommen aktuell aus Frankreich. Aber auch Italien wird sich weiter zu Wort melden. Die deutsche Haltung zu diesen Initiativen muss die nächste Bundesregierung festlegen, völlig egal, wie sie aussieht. Das wird im Zentrum der Regierungspolitik stehen müssen. Aber einer Sache bin ich mir sicher: eine Chance wie die jetzige dürfen wir nicht vertun.

Es reicht nicht, das bisher Erreichte zu bewahren und zu loben. Wenn das bisher Erreichte nicht krisenfest genug ist, muss man gute Zeiten nutzen, um der nächsten Krise vorzubauen. Nichts anderes will der französische Präsident.

Macron hat die Abwärtsspirale erkannt, in der sich die EU befindet. Er hat das mit einem Bürgerkrieg verglichen.

Die Wahl eines offensiv proeuropäischen Präsidenten in Frankreich ist wirklich ein Stück Glück von historischer Dimension.

Die Umfrageergebnisse des „Berlin Pulse“, die die Körber-Stiftung heute veröffentlicht, bestätigen das durchaus: 90 Prozent der Deutschen wollen eine noch engere Zusammenarbeit mit Frankreich. Und übrigens, wenn fast 50 % sich eine aktivere Außenpolitik wünschen, ist das für Deutschland ein ziemlich guter Wert.

Deutschland und Frankreich kommen aber nicht einfach zusammen, nur weil wir uns lieben.

Deutschland und Frankreich kommen nur dann zusammen, wenn wir uns auf gemeinsame Orientierungspunkte darüber einigen können, wie es in Europa weiter gehen soll.

Die Richtung muss stimmen. Über die Route, aber auch über konkrete Inhalte, wird noch viel zu reden sein.

Wir brauchen jetzt eine Dynamisierung der europäischen Integration, keine blinde und ziellose, sondern eine, die an den neuralgischen Punkten ansetzt und die zentralen Macht- und Zukunftsfragen adressiert.

Für diese Dynamisierung muss auch Deutschland Impulse setzen. Zu oft hat sich unser Land in den vergangenen Jahren eine hinhaltende, eine blockierende oder gar eine exzentrische Position geleistet.

Derzeit steht es mit Blick auf europapolitische Initiativen eher 10 zu 0 für Frankreich. Bei diesem Spielstand sollte es nicht bleiben.

Das wird uns viele ernste Diskussionen über Wirtschafts- und Finanzfragen bescheren. Und auch in der Sicherheitspolitik sind wir gefordert, gemeinsame Linien zwischen Deutschland und Frankreich für Europa zu finden:

Das alles wird nicht einfach sein. Vielleicht muss Frankreich dafür in Finanzfragen etwas deutscher und Deutschland in der Sicherheitspolitik etwas französischer werden.

Dass ein Konsens trotz sehr unterschiedlicher Ausgangspunkte durch den beständigen Austausch wachsen und gelingen kann, dafür ist die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses bis dato ein eindrucksvolles Beispiel.

Hier kann man anzuknüpfen und darf nicht nachlassen. Denn wir Deutsche sollten uns doch im Klaren sein, woraus unsere aktuelle Stärke resultiert: Doch zuallererst daraus, dass sich Deutschland inmitten von europäischen Freunden hat friedlich entwickeln können.

Unsere relative, aktuelle wirtschaftliche Stärke in Deutschland haben wir zu einem ganz erheblichen Teil Europa zu verdanken. Und dem Zutrauen unserer europäischen Nachbarn und insbesondere Frankreichs zu einem friedlichen Deutschland. Ohne die europäische Einigung, mit der deutsch-französischen Aussöhnung und Zusammenarbeit als ihrer Basis, wäre das, was wir erreicht haben, niemals möglich gewesen.

Emmanuel Macron hat das was uns zusammenhält sehr leidenschaftlich bei seiner Rede zur Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse auf den Punkt gebracht.

Macron, der ja ein sehr belesener Politiker ist, hat beschrieben, wie es vielfach deutsche und französische Autoren waren, die die Werke aus der jeweils anderen Kultur besonders gut verstanden und für ein größeres Publikum zugänglich gemacht haben.

Ihm selber, so Macron, hat der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin erst den großen französischen Dichter Baudelaire näher gebracht!

Distanz schärft wahrscheinlich erst den Blick für das Besondere. Europäer, gerade wir Deutschen und Franzosen, haben also durchaus gelernt, dass das Andere nicht das sein muss, das die eigene Identität bedroht oder in Frage stellt. Das Gegenteil trifft zu, auch das schildert Macron: Die Andersartigkeit unserer nächsten Nachbarn nährt unsere Identität – die französische wie die deutsche, aber auch die europäische. Und es ist genau diese Vielfalt, die Europas Stärke ausmacht.

Und Europa ist schließlich auch ein Projekt, das für unsere derzeit so kriegerische und konfliktreiche Welt etwas anzubieten hat: Dass aus Feinden erst Partner und dann sogar Freunde werden können. Bis heute gleicht es doch einem Wunder, dass ausgerechnet diejenigen, die unter dem Terror Deutschlands am meisten gelitten haben, uns danach eingeladen haben, um an den Tisch zivilisierter Völker zurück zu kehren und ein gemeinsames und friedliches Europa zu bauen. Nicht zuletzt wegen dieses so einzigartig erfolgreichen Beispiels haben gerade wir Deutschen eine Verantwortung für die Zukunft dieses gemeinsamen Europas.

Im Sinne Dahrendorfs liegt aber sicher noch ein gutes Stück Arbeit vor uns, als Deutsche und als Europäer.

Ob wir die Kraft dazu haben? Ich weiß es nicht. Aber wir müssen es versuchen, und dabei mit der Definition unserer eigenen Interessen beginnen.

Dann stellen sich Machtfragen, das wird nicht angenehm. Aber wie sagte Willy Brandt?

„Es mag so sein, dass Macht den Charakter verdirbt, aber Ohnmacht nicht minder.“

In diesem Sinne sollen wir uns nicht auf der angeblichen Ohnmacht ausruhen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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