Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig.

BVerfG-Urteil vom 05. November 2019.
1 BvL 7/16

Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und  soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Sachverhalt:

1. Nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosengeld II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60 %. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b SGB II drei Monate.

2. Das zuständige Jobcenter verhängte gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30 %, nachdem dieser als ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die Regelungen in § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber verfügt bei den Regeln zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum.

Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Damit gestaltet der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus.

Der Nachranggrundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetzgeberischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. Solche Mitwirkungspflichten beschränken allerdings die Handlungsfreiheit der Betroffenen und müssen sich daher verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Verfolgt der Gesetzgeber mit Mitwirkungspflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie dafür auch geeignet, erforderlich und zumutbar sein.

Der Gesetzgeber darf verhältnismäßige Mitwirkungspflichten auch durchsetzbar ausgestalten. Er kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen. Solche Regelungen berücksichtigen die Eigenverantwortung, da die Betroffenen die Folgen zu tragen haben, die das Gesetz an ihr Handeln knüpft.

Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Sanktion der vorübergehenden Minderung existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Mit dem Grundgesetz kann das dennoch vereinbar sein, wenn diese Sanktion darauf ausgerichtet ist, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Es gelten jedoch strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Der sonst bestehende weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist enger, wenn er auf existenzsichernde Leistungen zugreift. Je länger eine solche Sanktionsregelung in Kraft ist, umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es, um ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu belegen.

Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind zudem weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist.

II.1. Die Regelungen staatlicher Sozialleistungen sind mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern.

Der Gesetzgeber verfolgt mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwirkungspflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Diese Pflichten sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die erwähnten Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber überschreitet auch nicht seinen Einschätzungsspielraum zur Erforderlichkeit, denn es ist nicht evident, dass weniger belastende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten ist auch zumutbar. Der Gesetzgeber muss hier – anders als im Recht der Arbeitsförderung – keinen Berufsschutz normieren, denn das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass eine der in § 31 Abs. 1 SGB II benannten Mitwirkungspflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) verstoßen würde. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht eine Erwerbstätigkeit betrifft, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumutbarkeitsregelungen, die auch für die Mitwirkungspflichten gelten, ist auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.

2. Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht.

a) Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist nach den derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist schon die Belastungswirkung dieser Sanktion außerordentlich und die Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit sind entsprechend hoch. Doch kann sich der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, wonach eine solche Minderung der Grundsicherungsleistungen auch aufgrund einer abschreckenden Wirkung dazu beiträgt, die Mitwirkung zu erreichen, und er kann davon ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären. Zumutbar ist eine Leistungsminderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs jedoch nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und wenn die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr drei Monate andauert.

aa) Der in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II geregelten Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen. Der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum ist zwar begrenzt, weil das grundrechtlich geschützte Existenzminimum berührt ist. Doch genügt die Annahme, die Sanktion trage zur Erreichung ihrer Ziele bei, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil der Gesetzgeber jedenfalls von einer abschreckenden ex ante-Wirkung dieser Leistungsminderung ausgehen kann. Zudem hat er Vorkehrungen getroffen, die den Zusammenhang zwischen der Mitwirkungspflicht zwecks eigenständiger Existenzsicherung und der Leistungsminderung zu deren Durchsetzung stärken.

Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass eine solche Sanktion zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten erforderlich ist, hält sich noch in seinem Einschätzungsspielraum. Die gesetzgeberische Annahme, dass mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht zur Verfügung stehen, ist hinreichend tragfähig. Es erscheint jedenfalls plausibel, dass eine spürbar belastende Reaktion die Betroffenen dazu motivieren kann, ihren Pflichten nachzukommen, und eine geringere Sanktion oder positive Anreize keine generell gleichermaßen wirksame Alternative darstellen.

Die Regelung verletzt insgesamt auch nicht die hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

bb) Hingegen genügt die weitere Ausgestaltung dieser Sanktion zur Durchsetzung legitimer Mitwirkungspflichten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist jedenfalls unzumutbar. Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnahmesituationen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint.

cc) Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung verweigert wird, ist dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Die Bedürftigen müssen selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Ist die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklären sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, muss die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Auch hier ist der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers begrenzt, weil die vorübergehende Minderung existenzsichernder Leistungen im durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Bereich harte Belastungen schafft, ohne dass sich die existenziellen Bedarfe der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt verändert hätten.

b) Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen  Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.

aa) Der Gesetzgeber hat zwar Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass Menschen durch eine Sanktion die Grundlagen dafür verlieren, überhaupt wieder in Arbeit zu kommen. Sie beseitigen aber die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. Der Gesetzgeber kann sich bei der Minderung um 60 % des maßgebenden Regelbedarfs nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen, dass die erwünschten Wirkungen bei einer Sanktion in dieser Höhe tatsächlich erzielt und negative Effekte vermieden werden. Die Wirksamkeit dieser Leistungsminderung ist bisher nicht hinreichend erforscht. Wenn sich die Eignung tragfähig belegen lässt, Betroffene zur Mitwirkung an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch Erwerbsarbeit zu veranlassen, mag der Gesetzgeber ausnahmsweise auch eine besonders harte Sanktion vorsehen. Die allgemeine Annahme, diese Leistungsminderung erreiche ihre Zwecke, genügt aber angesichts der gravierenden Belastung der Betroffenen dafür nicht. Es ist im Übrigen auch zweifelhaft, dass einer wiederholten Pflichtverletzung nicht durch mildere Mittel hinreichend effektiv entgegengewirkt werden könnte, wie durch eine zweite Sanktion in geringerer Höhe oder längerer Dauer.

Die Zweifel an der Eignung dieser Leistungsminderung in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs beseitigt die Regelung zu möglichen ergänzenden Leistungen in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht, da ihre Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung trägt.

bb) Im Übrigen ergeben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60 % des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben ist und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern muss.

c) Der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar. Hier entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Daher bestehen bereits Zweifel, ob damit die Grundlagen der Mitwirkungsbereitschaft erhalten bleiben. Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.

aa) Auch gegen die Erforderlichkeit dieser Sanktion bestehen erhebliche Bedenken. Der grundsätzliche Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier eng, weil die Sanktion eine gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz bewirkt. Er ist überschritten, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es ist offen, ob eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen nicht genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben.

bb) Schon angesichts der Eignungsmängel und der Zweifel an der Erforderlichkeit einer derart belastenden Sanktion zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten ergibt sich in der Gesamtabwägung, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt. Anders liegt dies, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, kann ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein.

III.  Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 74/2019 des BVerfG vom 5. November 2019

Reaktionen aus Politik und Sozialverbänden:

ver.di-Vorsitzender zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „Existenzminimum darf überhaupt nicht sanktioniert werden“

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Sanktionen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) und fordert vom Gesetzgeber, „die bestehenden Regelungen aufzuheben und durch ein menschenwürdiges und verfassungskonformes System zu ersetzen“. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke erklärte: „Das sogenanntes soziokulturelle Existenzminimum darf im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot und die das Menschenrecht betreffenden unveränderlichen Artikel des Grundgesetzes überhaupt nicht sanktioniert werden.“

Sanktionen dürften unter anderem nicht zur Gefährdung oder gar zum Verlust der Wohnung führen. Auch die besonders scharfen Sanktionen für unter 25-Jährige Personen müssten abschafft werden. Dies könne eine Basis für eine nachhaltige Entschärfung des Sanktionsregimes bilden, betonte Werneke.

Anlass der Urteilverkündung des BVerfG war die Frage, ob die bestehenden Sanktionen, die bis zum vollständigen Entzug der Leistungen einschließlich der Miete reichen können, verfassungsgemäß sind.

Bundesverfassungsgericht bestätigt das Prinzip des Förderns und Forderns


Das Bundesverfassungsgericht erlaubt auch Sanktionsmöglichkeiten: Minderungen sind bis zu 30 Prozent sind weiterhin möglich

Das Bundesverfassungsgericht hat heute die Ausgestaltung der bestehenden Sanktionsmöglichkeiten teilweise für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Dazu erklärt der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Weiß:

„Das Prinzip des Förderns und Forderns bleibt richtig und auch für die Zukunft erhalten. Das ist die wichtigste Botschaft des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

Bei Nichtmitwirken des Hilfebeziehers können die Jobcenter weiter Leistungen um 30 Prozent kürzen. Minderungen darüber hinaus müssen nach dem Urteil aber neu geregelt werden. Die Neuregelung dürfte aber nur wenig Fälle betreffen, denn in der Regel bleibt es bei einer Sanktion.

Eine sogenannte Totalrevision des Arbeitslosengeldes II ist nach dem heutigen Urteil nicht angezeigt. Vielmehr sollten wir die Anreize zur Arbeitsaufnahme weiter verbessern.“

Hartz-IV-Sanktionen bleiben untaugliches Mittel aus dem 19. Jahrhundert

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Hartz-IV-Sanktionen erklärt die Vorsitzende der Linksfraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Simone Oldenburg:

„Das Gericht hat bestätigt, dass 60- oder gar 100-prozentige Leistungskürzungen mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Diese Klarstellung war längst überfällig. Die Menschen dürfen nicht ihrer Existenzgrundlage beraubt werden.

Erwartungsgemäß wurden die Sanktionen insgesamt nicht als grundgesetzwidrig eingestuft. Dessen ungeachtet bleiben wir dabei, dass sie als untaugliche Erziehungsmethode aus dem 19. Jahrhundert abzulehnen sind.

Die Landesregierung muss nun beim Bundesverfassungsgericht eine Überprüfung der verschärften Sanktionierung von Jugendlichen sowie der Strafabzüge bei Meldeversäumnissen beantragen. Zugleich muss das Gericht die Höhe sowie die Art und Weise der Ermittlung der Hartz-IV-Sätze überprüfen. Die Landesregierung und die Fraktionen von SPD und CDU beklagen stets, dass sie bei der Bundesgesetzgebung machtlos sind. An dieser Stelle kann und muss sie handeln.“

Hintergrund: Auch 15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV sind in Mecklenburg-Vorpommern mehr als 120 000 Frauen, Männer und Kinder auf Hartz IV angewiesen, 41 500 Erwachsene schon 6 Jahre und länger. Wenn die Ministerpräsidentin allen Kindern eine Chance geben und auch keinen Erwachsenen zurücklassen will, dann müssen sowohl die Förderung als auch Hartz IV grundlegend auf den Prüfstand gestellt werden.

Hartz IV-Urteil: Ein Etappensieg für die sozialen Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger

Zum heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Hartz IV-Sanktionen erklärt Sven Lehmann, Sprecher für Sozialpolitik von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag:

„Dieses Urteil ist ein Etappensieg für die sozialen Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger. Das Bundesverfassungsgericht tut damit das, wozu der Großen Koalition seit Jahren der politische Wille fehlt. Es schiebt der völlig aus dem Ruder gelaufenen Sanktionspraxis der Jobcenter einen Riegel vor. Die aktuell 5,4 Millionen Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, werden damit endlich besser vor drastischen Kürzungen ihrer Existenzsicherung geschützt.

Das Gericht hat klargestellt: Die Bundesregierung darf nicht länger trödeln, sondern muss unverzüglich handeln. Als Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen haben wir für die morgige Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales einen Bericht von der Bundesregierung verlangt. 

Die Frage der Sanktionierung bleibt aber eine politische Frage, die der Bundestag als Gesetzgeber zu entscheiden hat. Es muss jetzt unverzüglich um Reformen gehen, die unseren Sozialstaat modernisieren und die auf individuelle Förderung und Motivation setzen statt auf Drohen und Bestrafen.

Wir Grüne halten an unserer Forderung nach einer sanktionsfreien Garantiesicherung fest. Es ist menschenunwürdig und eine arbeitsmarktpolitische Sackgasse, Leistungsberechtigte mit Druck und Zwang erziehen zu wollen. Sanktionen sind das falsche Instrument, um Menschen bei der Jobsuche zu unterstützen. In der Situation, in der sich viele Arbeitssuchende befinden, sind Anerkennung, individuelle Unterstützung und Motivation entscheidend. Sanktionen dagegen sind für ein Kooperations- und Vertrauensverhältnis im Beratungsprozess kontraproduktiv. Die pauschale Kürzung des Existenzminimums bringt die Betroffenen in existentielle Schwierigkeiten und geht oftmals mit psychischen Belastungen, Verschuldung, Misstrauen oder auch einem Rückzug aus dem Beratungsprozess einher. Die mit den Sanktionen verbundenen sozialen Härten sind auch angesichts der Tatsache höchst bedenklich, dass viele Sanktionen zu Unrecht ausgesprochen und deshalb von den Sozialgerichten wieder zurückgenommen werden. 

Wir brauchen kleinere Betreuungsschlüssel in den Jobcentern, bessere Hinzuverdienstregeln sowie einen Rechtsanspruch auf individuelle Qualifizierung und Weiterbildung. Es ist bedauerlich, dass Union und SPD mehrheitlich diesen Weg noch nicht gehen wollen. Wir werden deswegen in dieser Frage weiter Druck machen – im Bundestag und im Bündnis mit vielen Verbänden, Gewerkschaften und Initiativen. Kürzungen unter das Existenzminimum müssen endlich ein Ende finden.“

KOBER: Bundesverfassungsgericht bestätigt den Grundsatz des Förderns und Forderns

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Hartz-IV-Sanktionen erklärt der sozialpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Pascal Kober:

„Das Urteil bestätigt den Grundsatz des Förderns und Forderns. Die Erwartungen, die der Sozialstaat an Hartz-IV-Bezieher richtet, sind zumutbar. Sanktionen sind auch ein Zeichen der Fairness gegenüber denjenigen, die täglich zur Arbeit gehen und mit ihren Steuern Hartz IV finanzieren. Das Urteil sollte jetzt genutzt werden, um weitergehende Reformen anzugehen. Die FDP-Fraktion setzt sich dafür ein, dass Sanktionen aufgehoben werden, sobald Betroffene ihre Verpflichtungen nachgeholt haben. Engagement muss anerkannt werden und für die Zukunft motivieren. Außerdem sollten die Sanktionsregeln für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren angepasst werden: Im Sanktionsfall müssen unmittelbar psychosoziale Angebote der Jugendhilfe oder des Jobcenters gemacht werden. Denn junge Menschen dürfen dem Sozialstaat durch Sanktionen nicht verloren gehen. Zudem müssen die Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV verbessert werden, damit Arbeit auch finanziell einen Unterschied macht.“

Keine Leistung ohne Gegenleistung

Jürn Jakob Schultze-Berndt, arbeitsmarktpolitischer Sprecher und Maik Penn, sozialpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Berlin Abgeordnetenhaus, erklären:

Jürn Jakob Schultze-Berndt: „Wir begrüßen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Leistungskürzungen für unkooperative Hartz-IV-Bezieher bestätigt. Es sorgt für mehr Klarheit, jedoch halten wir es für selbstverständlich, dass den Arbeitslosen zwar geholfen werden muss, es aber keine Leistung ohne Gegenleistung geben kann. Es ist auch im Interesse der Arbeitslosen und es ist ihnen zumutbar, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Hilfsbedürftigkeit zu beenden oder zu verringern.“

Maik Penn: „Grundsätzlich muss beim Bezug von Mitteln aus der Solidargemeinschaft gelten: wer betrügt, nicht mitwirkt und Termine nicht einhält, darf nicht sanktionslos bleiben.“

Quantensprung für soziale Grundrechte

„Das ist wirklich ein bemerkenswertes Urteil. Es gibt Rückenwind für den weiteren politischen Kampf für Sanktionsfreiheit. Ein Quantensprung für soziale Grundrechte“, erklärt Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion der Linksfraktion im Bundestag und Parteivorsitzende, zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit von Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende mit dem Grundgesetz.

Kipping weiter:

„Das Bundesverfassungsgericht hat heute erklärt, dass Totalsanktionen, Sanktionen, die die Hartz-IV-Sätze um mehr als 60 Prozent mindern, und Sanktionen, die eine besondere Härte darstellen bzw. eine starre Dauer haben, mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar sind. Weiter heißt es im Urteil: Die Menschenwürde muss man sich nicht erarbeiten. Damit wird den geltenden Sanktionsregeln ein Riegel vorgeschoben.

Dieser Erfolg wiegt umso schwerer, als Karlsruhe sich mit politischen Vorgaben zurückhält und lediglich die Verfassungsmäßigkeit prüft. Als LINKE werden wir nun der Bundesregierung und konkret Sozialminister Hubertus Heil auf die Finger schauen, dass die Umsetzung umgehend erfolgt. Zugleich geht der Kampf um politische Mehrheiten für die vollständige Sanktionsfreiheit und die Überwindung von Hartz IV weiter. Die gute Nachricht ist: Wir werden dabei immer mehr!“

Bundesverfassungsgericht bestätigt Mitwirkungspflichten im SGB II

Richter setzen Sanktionspraxis klare Grenzen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heutigen Urteil deutliche Grenzen festgelegt, in denen es möglich ist, Sanktionen gegenüber Hilfebedürftigen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zu verhängen. Die Bindung staatlicher existenzsichernder Leistungen an zumutbare Mitwirkungspflichten hat es im Grundsatz bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch betont, dass hierfür – ab sofort – besonders strenge Grenzen gelten und damit Rechtsklarheit geschaffen.

Eine Sanktion darf auf Basis der jetzigen Regelungen und des Urteils eine Minderung des maßgeblichen Regelbedarfs wegen wiederholter Verletzung der Mitwirkungspflichten um 30 Prozent nicht übersteigen. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus Vorgaben gemacht, dass in Fällen außergewöhnlicher Härte ab sofort von einer Minderung abgesehen werden kann und die Betroffenen auch ihre Mitwirkung nachholen können. Die Minderung darf bei nachträglicher Mitwirkung maximal noch einen Monat andauern.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil: „Das Bundesverfassungsgericht hat ein wegweisendes und ausgewogenes Urteil gesprochen. Es bestätigt Mitwirkungspflichten und deren Durchsetzung, bindet sie aber an klare Grenzen. Das Urteil schafft Rechtssicherheit und bietet jetzt die Chance, eine gesellschaftliche Debatte zu befrieden, die unser Land lange gespalten hat. Einige Teile des Urteils haben unmittelbare Folgen für die Arbeit in den Jobcentern. Wir werden zudem nach Auswertung des Urteils Vorschläge zu einer rechtskonformen Weiterentwicklung der Grundsicherung machen.“

Über Kürzungen bei Meldeversäumnissen, wenn Leistungsberechtigte nicht zu Terminen erscheinen, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat ebenso betont, dass die Regelung für Personen unter 25 Jahren nicht Gegenstand der Entscheidung ist. Es gilt jetzt zeitnah auszuwerten, inwiefern die vom Gericht aufgestellten Grundsätze auch hierfür Anwendung finden und inwieweit grundsätzlich die Vorgaben für eine Neureglung gelten.

Die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts gelten ab sofort. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird umgehend auf Bundesagentur für Arbeit, Länder und Kommunen zugehen, um die rechtssichere Anwendung in den Jobcentern zu gewährleisten.

Hartz 4-Sanktionen

Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag erklärte:

„Wieder ein Thema, wo das Verfassungsgericht dort entscheiden musste, wo die Bundesregierung nicht handlungsfähig war. Ich bin froh, dass wir jetzt jedenfalls eine deutliche Minderung bei den Sanktionen haben.

Die Regierung muss jetzt dafür sorgen, dass wir tatsächlich individuelle Förderung bekommen, dass wir ein Recht auf Weiterbildung haben, dass sich der Betreuungsschlüssel in den Jobcentern deutlich verbessert, und die Zuverdienstregelungen so gestaltet sind, dass es sich für Menschen tatsächlich lohnt. Eines ist jedenfalls mit diesem Urteil noch einmal klar geworden: Durch Demütigungen kommt niemand wieder in den Arbeitsmarkt.“

Mehr Einzelfallgerechtigkeit: Bundesverfassungsgericht erteilt dem bisherigen System der „Hartz-IV-Sanktionen“ weitgehende Absage
Berlin (DAV). Heute verkündete das Bundesverfassungsgericht das lange erwartete Urteil zu Sanktionen beim Bezug von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“). Ergebnis: Bisher praktizierte Abzüge von 60 oder gar 100 Prozent des Regelsatzes verstoßen gegen das Grundgesetz. Bei den Kürzungen von 30 Prozent soll es in der Ausgestaltung ebenfalls Einschränkungen geben, die den Einzelfall stärker berücksichtigen. „Dass das Bundesverfassungsgericht so weitgehend die Sanktionen für verfassungswidrig erklärt hat, ist schon spektakulär“, so Rechtsanwalt Volker Gerloff, Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV).

Bisher erfolgte eine stufenweise Kürzung von 30 über 60 bis zu 100 Prozent des Regelbedarfs immer dann, wenn ein über 25-jähriger Empfänger bestimmten Mitwirkungspflichten nicht nachkam. Dazu gehören etwa die Aufnahme einer „zumutbaren“ Arbeit oder Eingliederungsmaßnahme. Bei Verletzung dieser Pflichten war das Arbeitslosengeld II bislang über einen festen Zeitraum von jeweils drei Monaten zu kürzen. Ein Ermessen des Jobcenters war nicht vorgesehen, auch kein verfrühter Abbruch der Kürzung bei nachträglicher Mitwirkung des Empfängers.

„Genau an diesen Stellschrauben muss der Gesetzgeber nun drehen, wenn die bis zu 30-prozentigen Kürzungen den verfassungsmäßigen Anforderungen gerecht werden sollen“, erläutert Gerloff. In der mündlichen Verhandlung im Januar stand aber auch die Frage im Fokus, ob und inwieweit die Sanktionen dem Ziel der Arbeitsmarktintegration überhaupt nutzen. Angesichts der jahrelangen Praxis monierte das Gericht, dass sich der Gesetzgeber selbst bei Kürzungen von 60 Prozent und mehr lediglich auf Annahmen beruft.

So war bereits bei der Verhandlung absehbar, dass das Bundesverfassungsgericht das System der Sanktionen zumindest so nicht stehenlassen würde. Fast zehn Monate nach der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten nun als teilweise verfassungswidrig erkannt.
Statement der Niedersächsischen Sozialministerin Dr. Carola Reimann zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Sanktionen für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II (Hartz IV):
„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt die von vielen Expertinnen und Experten seit langem vertretene Rechtsauffassung, dass die regelhafte Kürzung der Grundsicherung bei ausbleibender Mitwirkung der Bezieherinnen und Bezieher dieser Transferleistungen um Sätze von mehr als 30 Prozent nicht verfassungskonform ist – diese Auffassung teile ich auch politisch. Das im Kern richtige Prinzip des Förderns und Forderns darf nicht dazu führen, dass Menschen aufgrund der Sanktionen beispielsweise ihre Wohnung verlieren und damit in ihrer Existenz grundlegend gefährdet werden. Eine solche, von den Betroffenen teilweise als drakonisch empfundene, Sanktionierung ist dem Vertrauen in den Sozialstaat insgesamt nicht zuträglich. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt dem Ausmaß der Sanktionen nun eine klare Grenze, ohne dabei das Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ grundsätzlich in Frage zu stellen.“
Arbeitslose fördern statt ins Existenzminimum eingreifen
In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Diakonie Deutschland und der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit weiteren Partnern, Verbänden und Organisationen, die bestehenden Sanktionsregelungen im Hartz-IV-System aufzuheben und ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung einzuführen. Anlass ist die Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts am 5. November 2019 zur Frage, ob die bestehenden Sanktionen, die bis zum vollständigen Entzug der Leistungen einschließlich der Miete reichen können, verfassungsgemäß sind. Das Gericht hatte über den Fall eines Arbeitslosen aus Erfurt zu urteilen, der mit 234,60 Euro im Monat weniger auskommen sollte, weil er ein Jobangebot abgelehnt und Probearbeit verweigert hatte. Die Unterzeichnenden sind sich einig: Es darf keine Kürzungen am Existenzminimum geben. Durch Sanktionen werde das Lebensnotwendige gekürzt und soziale Teilhabe unmöglich gemacht, erklären die Unterzeichner, zu denen auch 50 Einzelpersonen aus Verbänden, Organisationen und Parteien gehören. Die Politik ist schon lange in der Verantwortung, das Hartz-IV-System so zu ändern, dass die Würde der Leistungsbezieher geachtet und nicht durch Sanktionen beeinträchtigt wird. „Die Grundsicherung soll das Existenzminimum abdecken, also das zum Leben unbedingt Notwendige,“ sagt Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. „Wer mit Sanktionen das Lebensnotwendige kürzt, nimmt existentielle Not in Kauf. Die Diakonie setzt sich für ein sicheres Existenzminimum ein, für alle Menschen!“ „Sanktionen führen zu Leid und dazu, dass Menschen sich zurückziehen,“ sagt Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. „Sie entspringen einer längst überwundenen Rohrstockpädagogik des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind deshalb komplett und ersatzlos zu streichen.“ „Die Sanktionen in ihrer jetzigen Form tragen nicht dazu bei, den Menschen eine Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen“, sagt Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender des AWO Bundesverbandes, „Und gerade die verschärften Sanktionen bei den Unter-25-Jährigen sind kontraproduktiv: Sie treiben junge Menschen ins Abseits. Wir wollen eine Grundsicherung, die unterstützt und fördert, statt zu gängeln!“ Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des DGB sagt dazu: „Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind immer nur verfassungsrechtliche Grenzen, über die der Gesetzgeber auch hinausgehen kann. Denn nicht alles, was unsere Verfassung vielleicht gerade noch so zulässt, ist auch im Interesse von Arbeitsuchenden und Beschäftigten. Und längst nicht alles, was gut und richtig ist wie beispielsweise der Mindestlohn, ergibt sich aus der Verfassung. Der Gesetzgeber kann und muss sicherstellen, dass das Existenzminimum durch Sanktionen nicht unterschritten wird.“ Hintergrund:
Im bestehenden Sanktionsrecht ist jede Arbeit zumutbar – auch prekäre Arbeitsverhältnisse. Sanktionen haben negative soziale Folgen. Sie schaden der sozialen und beruflichen Eingliederung. Die Folgen sind Verschuldung, soziale Isolierung, massive gesundheitliche und psychische Belastungen bis hin zu drohender Wohnungslosigkeit. Der Kontakt zum Jobcenter wird teilweise abgebrochen; das Hilfesystem erreicht die Betroffenen nicht mehr. Jedes Jahr sind acht Prozent der Leistungsberechtigten von Sanktionen betroffen.

Die gemeinsame Erklärung zum Download

Oskar Lafontaine erklärte:


Ohrfeige für die neoliberalen Parteien der selbsternannten „Mitte“

„Endlich! Einige Verfassungsrichter wissen noch, dass ein „Sozialstaat“ Arbeitslose nicht zum Hungern verurteilen kann, wenn sie ihren „Verpflichtungen“ bei der Arbeitsagentur nicht nachkommen.

Das ist eine verdiente Ohrfeige für die neoliberalen Parteien der in Thüringen eingebrochenen selbsternannten Mitte CDU/ CSU, SPD, FDP und Grüne, die die Hartz-Gesetze verbrochen haben. Dass sie nicht dazulernen wollen, bestätigen gerade wieder die Grünen. Nach vielen Jahren sind auch sie jetzt für einen gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro die Stunde, weil der „armutsfest“ sei, so die Grünen-„Sozialexperten“. Sie wissen gar nicht mehr, was armutsfest ist. Im Februar diesen Jahres musste die Bundesregierung zugeben, dass man mindestens 12,80 Euro Stundenlohn haben muss, um „bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung“ eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten. Wer heute noch 12 Euro für armutsfest hält, hält die in Zukunft drohenden Hungerrenten für Millionen Rentnerinnen und Rentner für „armutsfest“. Zur Erinnerung: In Österreich hat der Durchschnittsrentner 800 Euro im Monat mehr.

Die geistige Armut der selbsternannten „Mitte“ ist beachtlich. Die dazugehörenden Parteien sind auf dem geistigen Niveau nicht „armutsfest“. Das ist die Hauptursache für das Erstarken der AfD.“

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