Wesensschwache und nicht gebrauchsfähige Wachhunde in der Hula 83.

Hendrik Thoß schrieb ein Buch über die Geschichte der DDR-Westgrenze und die Rolle Michael Gartenschlägers als Entscheidungsmotiv für den Abbau der Minen.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Sein Buch „Gesichert in den Untergang“ untertitelt Hendrik Thoß mit „Die Geschichte der DDR-Westgrenze“. Besser hätte er die Bezeichnung „Die Geschichte der Sicherung der DDR-Westgrenze“ gewählt, beschreibt er doch überwiegend nur – aber das sehr präzise – die Bemühungen und Absichten der staatlichen und militärischen Verantwortlichen der DDR, eine auf Fluchtverhinderung für Bürger der DDR errichtete Grenze immer undurchlässiger und unüberwindbarer, aber auch tödlicher zu machen.

Bis zum 13. August (1961), so Thoß, war der Kampf gegen die Flucht tausender DDR-Bürger in die Bundesrepublik die entscheidende Aufgabe des Ministeriums (für Staatssicherheit, MfS) zur Sicherung der schieren Existenz dieses Staates. Wenige Tage nach Schließung der Grenze zu West-Berlin, also nach dem Mauerbau, seien dann auf Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR die Aufgaben zur Sicherung der Grenzen der DDR dem Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) übertragen worden. Die Deutsche Grenzpolizei, die bisher für die Sicherung der Grenze zuständig war, wurde aus dem Ministerium herausgelöst und als Kommando Grenze der Nationalen Volksarmee (NVA) in das MfNV eingefügt. Das MfS hatte aber, wie Thoß im einzelnen aufzeigt, einen weiteren entscheidenden Einfluß auf das Grenzregime. Durch Anordnung des Ministers für Staatssicherheit vom 10. Dezember 1961 wurden die so genannten Aufklärungsorgane der Grenztruppen wiederum aus der Unterstellung, Struktur und Stellenplan der Grenztruppen der NVA herausgelöst und mit sofortiger Wirkung dem MfS angegliedert. So habe, zitiert Thoß, „das MfS seine nachrichtendienstlichen Aufgaben im Grenzgebiet und … im westlichen Vorfeld der Staatsgrenze nach Westdeutschland … im Zusammenwirken zwischen der Abteilung Aufklärung und den Diensteinheiten der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen besser koordinieren und die Aufklärungs- und Überwachungstätigkeit intensiver gestalten“ können.
Zu den Aufgaben der mit der Grenzüberwachung und Grenzsicherung betrauten Hauptabteilung I (HAI) des MfS, zählte insbesondere, so Thoß, die Vorbeugung, Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung so genannter feindlich-negativer Angriffe gegen die Staatsgrenze, die Grenztruppen der DDR, insbesondere von Fahnenfluchten und anderer feindlich-negativer Handlungen Angehöriger der Grenztruppen der DDR.
Die HA I war darüber hinaus auch für die „Aufklärung des Territoriums im Grenzvorfeld“ der Bundesrepublik zuständig. Das Interesse galt hier in erster Linie den Grenzüberwachungsorganen der Bundesrepublik, dem Bundesgrenzschutz (BGS), dem Zolldienst, dem Grenzzolldienst und der Polizei West-Berlins und der Bayerischen Grenzpolizei (BGP).
Der Entwicklung des Grenzregimes zwischen 1961 und 1989 gilt das Hauptaugenmerk von Hendrik Thoß, wobei er die einzelnen Etappen der Grenzsicherung und die technische Entwicklung der Grenzsicherungsanlagen detailliert, um nicht zu sagen – mit Verlaub – detailverliebt (was das Lesen des Buches durchaus auch mühselig macht), wiedergibt. Das beginnt mit der „Säuberung“ der Grenzgebiete von all jenen dort lebenden Menschen, die dem Staat und der sozialistischen Ordnung scheinbar kritisch gegenüberstanden, der pionier- und signaltechnischen Sicherung der Grenze, der Verminung der Grenzstreifen. Thoß gibt die einzelnen Schritte zur Ausgestaltung des Grenzregimes minutiös wieder, bis der Fall der Mauer alle noch unverwirklichten Pläne zur weiteren technischen Perfektionierung des Grenzregimes zunichte macht. Aber auch dann wurde noch einige Wochen versucht, an der Uhr zu drehen.
Thoß macht auch deutlich, daß sich Grundlagenvertrag und KSZE-Schlußakte keinesfalls entschärfend auf die Gestaltung und weitere Sicherung des Grenzregimes auswirkten. Im Gegenteil: „Die Errichtung neuer und die Instandhaltung vorhandener pionier- und signaltechnischer Anlagen in den Grenzabschnitten zur Bundesrepublik und zu West-Berlin ging auf der Basis der vorgelegten und bestätigten Pläne ohne Abstriche vonstatten.“ Kritik dagegen von westlicher Seite wurde mit Hinweis auf eine „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurückgewiesen.
Michael Gartenschläger, der 1976 an der Grenze zwei Splitterminen von Westseite abmontierte und bei einem dritten Versuch von einem MfS-Spezialkommando unter bisher ungeklärten Umständen erschossen wurde, weist Thoß „einen festen Platz in der Geschichte der deutsch-deutschen Grenze“ zu. Wenngleich er, so Thoß, in den Augen mancher Zeitgenossen ein aufrechter Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit gegen ein diktatorisches Regime gewesen sein mag, der sein Leben für seine Ideale opferte, so habe er für andere eher die Rolle eines naiven Werkzeugs gespielt. Er sei benutzt und „verheizt“ worden und mit seinem Tod habe sich im nachhinein „noch trefflich Propaganda betreiben“ lassen. Unter Anlegung vorhandener Dokumente der Grenztruppen als Maßstab für die gegen die todbringenden Sperranlagen gerichteten Aktionen Gartenschlägers, könne jedoch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß seine Taten und sein Tod an dieser Grenze letztendlich eine wesentliche Ursache für jene Entscheidung darstellten, ab Mitte der achtziger Jahre sämtliche Minen von der deutsch-deutschen Grenze zu entfernen. So sieht es Thoß. Gartenschläger und seine Freunde hätten „1976 einen Stein ins Rollen gebracht, der Jahre darauf tatsächlich dazu beitrug, der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten einiges von ihrer Schärfe und Tödlichkeit zu nehmen“. Dieses ihm gebührende Verdienst, so Thoß, scheine unbestreitbar. So sei aufgrund des Imageschadens für die DDR, der mit der öffentlichen Darstellung des Wirkprinzips der SM-70-Mine und der durch sie verursachten Schädigungen verknüpft war, der Fall Gartenschläger zum Synonym für eine Grenze geworden, die Tote und Verletzte forderte, solange sie existierte hatte und weiter existierte.
Demnach hätte Strauß, dem Honecker die Demontage der Minen als Gegenleistung für den ersten Milliardenkredit angeboten haben soll (was nach Auffassung von Egon Krenz und Fritz Streletz laut Thoß allerdings nicht zutreffe), ohnehin keine Chance auf Erfüllung dieses Angebots gehabt, wenn Gartenschläger der Erfolg versagt geblieben und er letzten Endes an der Grenze nicht erschossen worden wäre.
Dieser (bleibende) Ansehensverlust, so muß Thoß wohl verstanden werden, habe zu einer (sukzessiven) Abkehr von der tödlichen Praxis des Grenzregimes geführt und den Abbau der Minen bewirkt.
Also nicht der Milliardenkredit von Strauß, das will Thoß offenbar auch mit dem Hinweis auf Krenz und Streletz herausgestellt wissen (was angesichts der noch vielen freigekauften politischen Häftlinge schon verwundert), sondern quasi die Sorge um das Ansehen der DDR (diesem Ansehen haben die vielen freigekauften politischen Häftlinge mindestens ebenso geschadet), und die aufgrund seines Einsatzes gegen die Stationierung von Atomraketen auf dem Spiel stehende Glaubwürdigkeit Honeckers als Friedenaktivist, was Thoß ohne Bezugnahme auf Gartenschläger an anderer Stelle anführt, sollen dann ausschlaggebend für die Räumung der todbringenden Minen an einer der am besten gesicherten und gefährlichsten Grenze in der Welt gewesen sein. War nicht eher der Druck, der auf das Grenzregime von westlicher Seite ausgeübt wurde, Gartenschläger geschuldet? Ob Honecker Gartenschläger bei der Anordnung zur Räumung der Minen im Hinterkopf hatte, dürfte auch fraglich sein. Sei es aber so, wie Thoß es darzustellen versucht. Es glaubt ohnehin jeder nur das, was er glauben will. Insofern regt das Buch auch zu einem bleibenden Nachdenken und zur Legendenbildung an.
In der Einschätzung der Wirksamkeit der Grenzsicherung, so Thoß, konnte eine Reihe von Faktoren herausgearbeitet werden, die einer Erhöhung der Wirksamkeit der Grenzsicherung entgegenstanden. Dazu hätten neben der ohnehin vorhandenen Störanfälligkeit der Grenzanlagen und der teilweise mangelnden Ausbildung und Befähigung der eingesetzten Kommandeure Grenzsicherung (KGS) auch eine nicht ordnungsgemäß besetzte Hula (Hundelaufanlage) 83 mit „gebrauchsfähigen Hunden“ gehört. Beweis dafür, zitiert Thoß, seien die erfolgten ungesetzlichen Grenzübertritte gewesen, wo durch den Grenztäter (letztmalig am 4.9.1989) eine mit einem „wesensschwachen Wachhund“ besetzte Hula ungehindert unter Ausnutzung der Hundehütte habe passiert werden können. Ob es sich hier um echte deutsche Schäferhunde oder andere auf vier Beinen krabbelnde Kreaturen mit Bellorgan gehandelt hat, läßt Thoß offen.
Sei’s drum: Aufgrund bißunwilliger Köter ist das Grenzregime der DDR ja auch nicht „Gesichert in den Untergang“ geschlittert.

Hendrik Thoß: Gesichert in den Untergang. Die Geschichte der DDR-Westgrenze. Karl Dietz Verlag, Berlin 2004, 510 Seiten, 29,90 Euro.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*