„No Prison“ mit insgesamt 13 Beiträgen unterschiedlicher Autoren geht auf ein gemeinsames Projekt von Massimo Pavarini (Prof. für Strafrecht an der Universität Bologna) und dem Journalisten und Schriftsteller Livio Ferrari anlässlich einer internationalen Tagung vom November 2014 in Florenz (S. 8) zurück, an der u.a. Nils Christie teilgenommen hatte.
Nachdem dieser im Mai 2015 und Massimo Pavarini im September 2015 (S. 8) verstarben, versuchte Ferrari das ursprüngliche Projekt mit einer internationalen Publikation fortzuführen. Es gelang ihm, dafür einen beeindruckenden Kreis von Autorinnen und Autoren zu gewinnen.
Mit Johannes Feest (em. Prof. Universität Bremen) und Sebastian Scheerer (em. Prof. Universität Hamburg) sind zwei der wichtigsten Vordenker des Abolitionismus in Deutschland (und darüber hinaus) vertreten. Weitere Autoren sind u.a. Hedda Giertsen (em. Prof. Universität Oslo), Thomas Mathiesen (em. Prof. Universität Oslo und Mitbegründer der Norwegian Association of Penal Reform) und Vincenzo Ruggiero (Direktor des Centre for Social and Criminological Research an der Middlesex University London).
Im Frühjahr 2017 trafen sich einige der Beteiligten in Padova und konstituierten sich als Editorial Board. 2018 dann wurde „No Prison“ publiziert und auf der ICOPA in London und der Konferenz der European Group for the Study of Deviance and Social Control in Ljubljana vorgestellt.
Wie es sein Titel ohne Schnörkel auf den Punkt bringt, geht es in dem bislang nur in englischer Sprache vorliegendem Werk nicht um eine wie auch immer geartete Reform des Gefängnisses, sondern um seine Abschaffung. Vor allem um seine Abschaffung als Ort der Freiheitsstrafe.
„No Prison“ ist in drei Teile gegliedert: nach dem eher theoretischen ersten Teil wird die Frage nach der Abschaffung des Gefängnisses im zweiten Teil in größeren Zusammenhängen (etwa mit dem Wohlfahrtsystem von Hedda Giertsen, S. 145 ff., oder der Kriminalitätsentwicklung von Thomas Mathiesen, S. 163 ff.) behandelt. Der dritte Teil besteht aus einzelnen abolitionistischen Manifesten, wie dem von Gwenola Ricordeau (S. 191 ff.) für eine zwingende Einbeziehung von Angehörigen und Freunden Inhaftierter in jede abolitionistische Bewegung.
Wie es auch niemand erwartet haben wird, ist der Abolitionismus insoweit keine heterogene Bewegung, als es unterschiedliche Haltungen z.B. zu der Frage gibt, ob ein abolitionistischer Weg nur zum Ziel führen kann, wenn gleichzeitig Alternativen zum Status Quo aufgezeigt werden, oder ob dies gerade der falsche Weg ist, und vielmehr zunächst und ausschließlich „nein!“ zum Gefängnis gesagt werden sollte (S. 44/55). Was die Abolitionisten eint ist ihre Überzeugung von den schädlichen Wirkungen der Freiheitsstrafe nicht nur für die betroffenen Individuen, sondern für die ganze Gesellschaft (S. 115).
Zunächst wird eines bei der Lektüre des Werkes sehr klar: viel zu leicht wird der Abolitionismus oft in eine unseriöse, ideologische, destruktive oder naive Ecke gestellt („lunatic lefties“, S. 20). Dass er im Gegenteil auch und zuvorderst das Ergebnis wissenschaftlicher und verantwortungsbewusster Arbeit auf höchstem Niveau ist, und länderübergreifend von vielen Expert_innen vertreten wird, beweist dieses Buch. So betonen Feest und Scheerer (S. 13), dass die Forderung nach Abschaffung der Freiheitsstrafe einer ernsthaften Begründung bedarf, die alle Gegenargumente für den Status Quo berücksichtigt. Ziele der Freiheitsstrafe wie die Interessen von Opfern, die öffentliche Sicherheit und die Rechtsstaatlichkeit werden als legitim anerkannt. Diese Ziele könnten jedoch in einer Welt ohne Gefängnisse viel besser erreicht werden (S. 14/15). Es wird auch anerkannt, dass das Gefängnis ein großer Fortschritt gegenüber der Todesstrafe u.a. grausamen Strafen ist („Designed as a keeper, not a killer“, S. 14), und es einige wenige Menschen gibt, denen man zum Schutz anderer Menschen (S. 23) oder zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens (S. 41) die Freiheit entziehen muss. Das rechtfertigt aber nicht, Menschen zur Strafe („pain delivery“, S. 41) einzusperren (S. 38/39), oder sie all den entwürdigenden Umständen zu unterwerfen, die mit einer Inhaftierung verbunden sind. Auch wird differenziert zwischen Freiheitsstrafe als Form von Strafe und der Frage nach der Notwendigkeit von Strafe überhaupt (S. 42; S. 69 ff.).
Wie relevant das Thema des Buches und die Frage nach der Zukunft des Gefängnisses sind, zeigen einige Zahlen. Weltweit sitzen geschätzt 10 Millionen Menschen hinter Gittern, mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte (S. 17). In z.B. Italien sind von 2000 bis 2016 2566 Inhaftierte gestorben. 914 davon haben Selbstmord begangen. Im gleichen Zeitraum haben mehr als 100 Gefängnisbedienstete Suizid begangen (S. 173). Die Kosten für einen Inhaftierten pro Tag schwanken zwischen 52 Euro in Spanien und 142 Euro in Italien (S. 172). Weltweit arbeiten Hunderttausende, wenn nicht Millionen in den Gefängnissen (S. 15/16).
Dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob man in einem Gefängnis im Kongo (S. 33), oder in Deutschland inhaftiert ist, liegt auf der Hand. Einige Merkmale, Eigenschaften, Strukturen und Wirkungen jedoch sind allen Gefängnissen immanent. Gefängnisse stellen eine übermäßige Bestrafung dar (S. 28), da sie den Betreffenden gerade nicht nur die Freiheit entziehen, wie es die Strafe nach dem Gesetz wäre, sondern sie fast gänzlich dem Regime der Anstalten unterwerfen und damit vieler Menschenrechte beschneiden. Zwangsarbeit (S. 29), Armut (S. 29), die Mitbestrafung unbeteiligter Dritter (S. 30) wie Kinder oder Ehepartner sind Beispiele für Folgen des Vollzuges der Freiheitsstrafe. Gefängnisse produzieren Gewalt (S. 173) und verletzen die menschliche Würde (S. 64). Auf der anderen Seite können Gefängnisse gar nicht resozialisierend wirken (S. 22), ihre Abschreckungswirkung ist viel geringer als vielfach angenommen (S. 24/25), und zur Sicherung der meisten Inhaftierten wären sie nicht notwendig (S. 23/24; S. 210).
Was macht Hoffnung, dass die Freiheitsstrafe angesichts dieser Erkenntnisse irgendwann überwunden werden kann? Unter anderem der Vergleich mit anderen zivilisatorischen Errungenschaften bzw. mit der Überwindung anderer inhumaner Praktiken wie der Todesstrafe oder der Sklaverei. Auf den ersten Blick erscheint gerade der Vergleich mit der Sklaverei etwas weit hergeholt, bei näherer Betrachtung jedoch gibt es sehr viele Gemeinsamkeiten, die einen fruchtbaren Vergleich durchaus nahelegen. Das gilt zunächst unmittelbar für die Zwangsarbeit in den Gefängnissen, die gerade in den USA beängstigende Formen und Ausmaße angenommen hat (S. 60). Interessanter Weise gibt es auch Hinweise darauf, dass unsere heutige Bestrafung generell ihre Ursprünge im Sklaventum der alten Griechen und Römer hat, die ihre Sklaven privat bestrafen durften (S. 55). Diese Art des Umgangs mit anderen Menschen wurde dann irgendwann ausgeweitet auf alle Menschen. Gemeinsamkeiten zwischen Sklaven und Inhaftierten bestehen zudem in einem Ausschluss von bestimmten Bürgerrechten (S. 56) und in einer Tendenz die Betroffenen zu de-humanisieren (S. 64). Nicht wenige sterben mit ihrer Inhaftierung den sozialen Tod (S. 55). Bei der Suche also danach, wie sich das Gefängnis überwinden lässt, kann man sich u.a. daran orientieren, wie es gelungen ist, die Sklaverei zu überwinden (S. 119).
Insgesamt ist „No Prison“ viel mehr als eine Standortbestimmung des Abolitionismus. Es kann all jenen Halt und Orientierung bieten, die an den positiven Wirkungen der Freiheitsstrafe zweifeln. Es wappnet diejenigen mit (weiteren) Argumenten, die von den schädlichen Wirkungen dieser Freiheitsstrafe überzeugt sind. Es kann diejenigen überzeugen, die sich unsicher über Sinn oder Unsinn des Gefängnisses sind. Und es bringt diejenigen zunehmend in Erklärungsnot, die den Status Quo verteidigen, oder gar härtere (Freiheits-) Strafen und neue Gefängnisse fordern.
Die Frage ist nicht mehr, ob die Freiheitsstrafe überwunden werden soll, sondern vor allem: wie. Auch zu dieser Frage, über die in Zukunft verstärkt nachgedacht werden muss, liefert „No Prison“ wertvolle Ansätze. Besonders wichtig wird dabei eine weitere Aufklärung und Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit sein. Wenn dieser etwa die allerorten gegebene hohe Rückfallrate ehemaliger Inhaftierter stärker bewusst wäre, würde sich ihr auch die Irrationalität des Gefängnisses weiter aufdrängen, und damit die Chance steigen, dass sie eine andere Haltung zum Strafvollzug entwickelt (S. 175). Ganz entscheidend ist dabei, dass sich die breite Öffentlichkeit (wie auch Politik, Praxis, Wissenschaft und Medien) in ihrer Einstellung zum Strafvollzug nicht nur am Gesetzestext orientiert, sondern daran, wie er tatsächlich ist (S. 32). Und schließlich gilt es die Wurzel der Strafe, die Rache (S. 70/71) zu sehen (a.A. Drake/Scott S. 212, wonach die wenigsten Opfer Rache wollen), und einen humanen Umgang mit ihr zu finden.
Es sind dem höchst empfehlenswerten Buch viele Leser, und seinen Gedanken und Argumenten der Eingang in die Wissenschaft und Praxis des Strafrechts zu wünschen, die sich noch allzu sehr damit beschäftigen, wer sich wann und wie strafbar macht, und allzu wenig damit, was zum einen hinter der (Freiheits-) Strafe steht, und was sie zum anderen bewirkt.
Thomas Galli ist ein deutscher Jurist und Autor. Er ist promovierter Jurist und studierte ferner Psychologie und Kriminologie. Galli war fünfzehn Jahre im Strafvollzug tätig. 2013 wurde Galli Leiter der Justizvollzugsanstalt Zeithain, 2015 für über 6 Monate zusätzlich Leiter der Justizvollzugsanstalt Torgau.
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin
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